Jugendliche Paramilitärs und melancholische Cowboys

Lateinamerikanische Filme auf der Berlinale 2019

(c) 02 Filmes
Seu Jorge spielt den Widerstandskämpfen Carlos Marighella

Ein Bootcamp mit einer Einheit jugendlicher Paramilitärs, die mitten im Dschungel um ihr Überleben kämpfen, ist der Schauplatz des spektakulären Survival-Films MONOS von Alejandro Landes. Ohne ihn genauer zu benennen, ist der langjährige kolumbianische Bürgerkrieg die wichtigste Referenz für dieses Werk, das eine beunruhigende Aussicht auf unsere Zukunft wirft. Auch die Filme, die auf der diesjährigen Berlinale aus Brasilien oder Guatemala präsentiert wurden, sind Zeugnis kritischer Stimmen, die die Zerrissenheit und zunehmende Spaltung der lateinamerikanischen Gesellschaft spiegeln.

von Sonja Hofmann 

(c) Alejandro Landes
Wilson Salazar trainiert als „Mensajero“ die jugendlichen Paramilitärs im Film „Monos“

This film was a beast to make“, so fasste Regisseur Alejandro Landes die Umstände der Dreharbeiten zu seinem faszinierenden Spielfilm „Monos“ bei der Premiere in der Sektion Panorama zusammen. Kolumbien als Land mit einem der längsten Bürgerkriege der neueren Geschichte bildet den Ausgangspunkt für seinen Survival-Thriller. Ein Krieg ohne klare Fronten, ausgetragen von einer Vielzahl in sich gespaltener paramilitärischer Einheiten und Guerilla- gruppen. Die fragile Möglichkeit eines Friedensabkommens steht wie ein Gespenst im Raum und der Ausgang ist nach wie vor ungewiss. Im Film geht es um eine paramilitärische Einheit aus Jugendlichen, die in einer abgelegenen Bergregion

Kolumbiens stationiert ist. Mit militärischem Drill von einem Trainer abgerichtet und immer am Rand von Gewalt und Ausschweifungen taumelnd, muss sich die Truppe nach einem Malheur mit einer erschossenen Milchkuh in den Dschungel zurückziehen. Die Bewachung ihrer US-Geisel namens „Doctora“, die harten Bedingungen sowie wechselnde Loyalitäten innerhalb der Gruppe, führen zunehmend zu Spaltungen und Fluchtversuchen.

Wichtig war dem Regisseur, keine klaren Zuordnungen zu liefern. So gibt es keine Hinweise auf die Ursachen des Konflikts und keine eindeutigen, binären Strukturen; Zuweisungen wie „links“ oder „rechts“, Junge oder Mädchen greifen hier nicht. Protagonistin Sofía Buenaventura etwa spielt ihre Figur „Rambo“ ohne jeglichen geschlechtlichen Verweis. Das Casting fand über mehrere Monate mit Laiendarsteller*innen statt. Der „Mensajero“ im Film wird von Wilson Salazar gespielt. Er gehörte bereits als Kindersoldat der FARC an, wurde Anführer einer Guerilla-Einheit und desertierte noch vor dem Friedensabkommen. Nun nimmt er an einem Re- sozialisierungsprogramm teil. Landes engagierte ihn, um die jungen Protagonist*innen in einem Bootcamp für den Film zu trainieren und gab ihm dann die Rolle des Trainers und Boten im Film, dem er damit eine starke Authentizität verleiht.

Geboren in São Paulo und aufgewachsen in Ecuador und Kolumbien, schrieb Landes nach eingehender Recherche zu paramilitärischen Gruppen das Drehbuch gemeinsam mit dem argentinischen Regisseur Alexis Dos Santos („Glue“, 2006; „London Nights“, 2009). Inspiriert wurden sie u.a. von Klassikern wie „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad (über das koloniale Kongogebiet) oder der Robinsonade „Herr der Fliegen“ von William Golding. Dabei transzendieren sie die gewalttätigen Konflikte dieser „Miniatur-Gesellschaft“ zu einer universellen Geschichte, die sich auf die Frage reduziert, was angesichts derart unmenschlicher Bedingungen noch übrig bleibt vom „Menschsein“?

Die Kamera von Jasper Wolf findet spektakuläre Bilder für die Machtkämpfe innerhalb der Einheit und vor allem für die Landschaft, die - sehr physisch inszeniert - die innersten Gefühle der Charaktere repräsentiert. Ein radikaler Film, der auch nach einer vermeintlichen Rettung am Ende keine Entspannung zulässt, sondern den Konflikt aus der kleinen Einheit in ein großes, noch viel undurchschaubareres Ganzes entlässt.

Ein ganz anderer Guerrilla-Krieg war Thema des bra- silianischen Films „Marighella“, der ersten Regiearbeit von Schauspieler Wagner Moura, den das Festival im Wettbewerb präsentierte. Carlos Marighella führte nach dem brasilianischen Staatsstreich von 1964 und der darauf folgenden Militärdiktatur eine militante Widerstandsgruppe an. Einst kommunistischer Funktionär, ging Marighella in den Untergrund, um dort eine Stadtguerilla zu gründen. Der Schriftsteller und Politiker sah sich im Kampf gegen die Unterdrückung des Volkes ganz in der Tradition eines Zapata oder Che Guevara. Sein „Minimanual do Guerrilheiro Urbano“ diente verschiedenen terroristischen Gruppen wie der RAF als Inspiration. Doch fehlte es genau an der Unterstützung ebendieses Volkes. Der allmächtigen Zensur der Militärdiktatur gelang es schon bald, den Widerstand zu isolieren und zu marginalisieren. Das Por- trät des Rebellen bietet viel Stoff für ein differenziertes Biopic, doch die Regie von Wagner Moura (bekannt u.a. aus „Tropa de Elite“ sowie der Netflix-Serie „Narcos“ in der Rolle des Pablo Escobar) arbeitet die einzelnen Stationen vom Staatsstreich bis zur Ermordung Marighellas 1967 mühevoll und sentimental ab. Übrig bleibt eine fragwürdige Mythisierung, die sich nur aufgrund der aktuellen rechtsextremen Politik Bolsonaros als Parabel auf die Gegenwart lesen lässt. 

(c) Sabrina Maniscalco
Carlos Dalmir übt in „Querência“ an seiner Rodeo-Performance

Stadt-Land-Gegensatz und evangelikaler Einfluss

Die Filme aus Brasilien spiegeln insgesamt eine gespaltene Nation. Dabei lässt sich auch eine zunehmende Entfremdung zwischen Stadt und Land ausmachen.

Die Sektion Forum zeigte mit „Queréncia“ von Helvécio Marins Jr. ein dokumentarisch wirkendes Porträt des Landlebens der Region Minas Gerais. Mit langen Einstellungen fängt die Kamera die Weite des Sertão in eindrucksvollen Bildern ein. Protagonist Marcelo ist hier tief verwurzelt und liebt seine Arbeit als Viehzüchter. Seine Kühe tragen Namen wie „Shanghai“ oder „Lampião“. Bei einem bewaffneten Überfall auf die Farm kann er jedoch nicht verhindern, dass hundert Rinder gestohlen werden. Der Vorfall wirft den melancholischen Cowboy aus der Bahn. Doch der Zusammenhalt

unter seinen Kollegen gibt ihm Kraft zum Weitermachen. Er konzentriert sich ganz auf seine Leidenschaft als Moderator der identitätsstiftenden Rodeo-Veranstaltungen. In viele Gespräche und in die Rodeo-Reime, die wie Rap-Texte vorgetragen werden, fließt dabei einige Kritik gegen die Arroganz der Städter. Der Film entstand 2016 zur Zeit des Prozesses gegen Dilma Rousseff, deren zweifelhafte Absetzung hier ebenso zur Sprache kommt wie die Frustration gegenüber der Korruptionspolitik der Regierung.

Hélvecio Marins Jr. inszenierte seinen Film mit Laiendarstellern nach wahren Begebenheiten. Der Film nimmt sich viel Zeit, die Rituale und das Leben der Menschen dieser Region einzufangen, die sich von der Politik der Großstädte zunehmend abgehängt fühlen.

Auch die Religion spielt hier eine wichtige Rolle. Evangelikale Kirchen gewinnen zunehmend an Einfluss und verhalfen Bolsonaro zu zahlreichen Wählerstimmen.

Die gleichgeschlechtliche Ehe ist in Brasiliens Verfassung bereits seit sechs Jahren festgeschrieben, doch mit dem Wahl- sieg Bolsonaros erhebt sich derzeit eine Welle der Gewalt gegen queere Menschen.

Auch in Guatemala übt die evangelikale Kirche enormen Einfluss auf die Gesellschaft aus. In „Temblores“ zeigt Regisseur Jayro Bustamante in seinem sehr persönlichen Film die Suche nach sexueller Identität und Zugehörigkeit in der zutiefst konservativ geprägten und repressiven Gesellschaft Guatemalas. Der zur Oberschicht gehörende zweifache Vater Pablo hat sich in einen Mann verliebt und brüskiert damit seine strenggläubige, evangelikale Familie. Nachdem er zu seinem Geliebten gezogen ist, droht ihm schnell der soziale Abstieg. Pablo verliert seinen Job, seine Frau verwehrt ihm den Zugang zu seinen Kindern. Mittels einer evangelikalen Heilerin will seine Familie ihn zu einer radikalen „Umerziehung“ zwingen.

Bustamante war mit seinem Langfilmdebüt „Ixcanul“ 2015 im Wettbewerb der Berlinale vertreten. Der Titel seines neuen Films „Temblores“ bezieht sich auf die permanenten Erdbeben Guatemalas wie auf die Erschütterungen, die Pablo durch die extrem klassenorientierte Gesellschaft erfährt. Erschütterungen, die sich auf große Teile der Bevölkerung auswirken. In düstere Bilder verpackte der Regisseur dieses Beben, um ein starkes Plädoyer gegen den zunehmenden Fundamentalismus, gegen Unterdrückung und Homophobie und für mehr Toleranz zu setzen.

 

Sonja Hofmann ist Filmkuratorin und leitet die Kulturredaktion von matices. 

(c) Tuvasvoir
Kurzes Glück: Pablo und sein Liebhaber in Guatemala-Stadt („Temblores“)