Institutionalisierter Tango: Ernüchterung oder Bereicherung?

„Der Mensch selbst ist Träger von immateriellem Kulturerbe und sorgt durch sein Handeln für die Überlieferung dieses Erbes, für die Weitergabe dieses Wissens von Generation zu Generation. […] Der Bezug zu den Menschen […] muss sichtbar bleiben. Sie sind Teil des kulturellen Gedächtnisses und erneuern es immer wieder durch ihr Tun.“

Von Fiona Leitold

Man könnte meinen, diese Worte wären eine direkte Reaktion auf das 2018 von Vicky

Kämpfe geschriebene Forschungsbuch Kulturerbe Tango. Stattdessen stammen sie von

Christoph Wulf, Professor für Anthropologie und Erziehung, gesprochen auf dem Fachsymposium „Immaterielles Kulturerbe“. Was genau ist aber immaterielles Kulturerbe

(IKE)? Es handelt sich hierbei um eine UNESCO-Konvention, die sich am 17. Oktober 2003

etablierte und deren Ziel die Bewahrung sowie Wertschätzung der Vielfalt kultureller

Ausdrucksformen ist. Im September 2009 wurde eine Antragstellung für den Tango als ein

solches IKE gestellt - und akzeptiert. Inwiefern sich ein solcher Anerkennungsprozess auf die jeweilige kulturelle Praktik auswirkt, beschreibt die Kulturwissenschaftlerin Vicky Kämpfe in Kulturerbe Tango. Tanz, Politik und Kulturindustrie, eine aktuelle, akademische Abhandlung über die Institutionalisierung von Tango als Kulturgut. Verliert Tango, verstanden als eine Verbindung von Tanz, Musik, Politik sowie emotionaler Empfindungen, durch den Anerkennungsprozess seine ursprüngliche Bedeutung? Wird er stattdessen zu einem Spielball, einem Instrument des allbekannten interaktiven, und in der Praxis eher widersprüchlichen Interessendreiecks von Ökonomie, Politik und kultureller Werte? 

 

Generell liegt der thematische Schwerpunkt der Autorin auf praxisorientierten Herangehensweisen: Sie bezieht sich durchweg auf Analysemethoden Pierre Bourdieus. Ihr Verständnis von Kultur und Praktiken orientiert sich an Bourdieu, was ihrem Werk zum einen eine enorme wissenschaftliche Tiefe verleiht, es zum anderen allerdings überaus zäh zu lesen macht. Vorteilhaft sind an dieser Stelle Kenntnisse über die Feld- und Habitustheorie Bourdieus. Zugegebenermaßen wird meine Geduld in dem ersten, doch sehr theoretischen Teil erprobt. Tatsächlich gebannt wird meine Aufmerksamkeit erst später - genauer gesagt, wenn sie sich den realen Konsequenzen der Aufwertung des Tangos als IKE widmet. Es steht außer Frage, dass sich die Wahrnehmung von Tango seit 2009 geändert hat. Es scheint, als würden die politischen sowie ökonomischen Interessen in dem genannten Dreieck überwiegen: Zum einen lässt sich die Institutionalisierung von Tango als politische Strategie benennen, welche das Ziel verfolgt, eine nationale Einheit basierend auf einer herausstechenden kulturellen Praktik zu formen. Zum anderen entsteht durch steigende Popularität und Vermarktung eine eigene Tango-Industrie. So also entwickelt sich ein Tanz, der eigentlich informell, institutionsfern im privaten Sektor in verschiedenen Auslebungen gestaltet wurde, hin zu einem institutionalisierten, homogenen Tanz.

 

Wird dem Tango dank der Formalisierung durch die UNESCO schlussendlich Wertschätzung entgegengebracht - oder wird er hauptsächlich verändert? „El tango argentino es un pensamiento triste que se puede bailar.“ (Tango ist ein trauriges Gefühl, das man tanzen kann); Der Komponist Enrique Santos Discepolo sieht den Hauptaspekt von Tango jedenfalls in der Bewegung, in dem Zusammenspiel von Körper und Geist, die sich in der kulturellen Historizität wiederfinden. Ähnlich wie der Tänzer Gerardo Portalea: „Man muss die Stille tanzen. Und die Violinen. Auch wenn keine da sind.“ Letztendlich also liegt das Ziel, die eigentliche Herausforderung nicht nur in der Anerkennung kultureller Praktiken, sondern viel mehr in der Beibehaltung der pluralistischen Ausgestaltung eben solcher Praktiken. 

 

Diese Gedankenanstöße werden immer wieder in Kulturerbe Tango genannt und bearbeitet. Wie die verschiedenen Stimmen zeigen, zeichnet sich Tango vor allem durch Gefühle und Impulsivität aus, weswegen ich es erstaunlich finde, wie gut es der Autorin gelingt, sich nicht in der emotionalen Aufladung von Tango zu verlieren. Auch wenn ich sie mir an einigen Punkten etwas genauer gewünscht hätte, um der Thematik einen sanfteren Ton zu geben. Wer also grundlegendes Interesse an Tango als Kulturbestandteil und den Veränderungen, die durch die Formalisierung durch die IKE-Konvention zeigt, sollte dem Buch definitiv Aufmerksamkeit widmen. Diese Aufmerksamkeit sollte allerdings geduldig und akademisches Schreiben gewohnt sein, andernfalls kann die Forschungsarbeit schnell zu trocken wirken. Wer sich auf das Buch einlässt, wird sicher nicht enttäuscht werden: Es werden viele Gedanken und Problematiken angestoßen, die sich nicht nur in der globalen Ausgestaltung bzw. Veränderung des Tango manifestieren. Wann endet authentisches Handeln, wann beginnt leerer Mainstream? Bedeutet eine breitere Erreichbarkeit einer kulturellen Praktik zwangsläufig ein Verlust verschiedener Teilaspekte? Diese und weitere Fragen werden durch Kämpfe angeregt und führen zu vielen gedanklichen Inputs, in die ich persönlich mit Freuden eintauche.

 

 

Vicky Kämpfe

Kulturerbe Tango. Tanz,Politik und Kulturindustrie

2018

transcript Verlag

406 Seiten

€ 39,99