Brasilien über Alles. Bolsonaro und die rechte Revolte

NIKLAS FRANZEN

von Gunda Wienke

Die Folgen von Bolsonaros Amtszeit sind verheerend, der rechte Präsident hat das größte lateinamerikanische Land an den Rand des Kollapses geführt. Die Pandemie hat über eine halbe Million Tote gefordert, die Wirtschaft stockt; die nach der Militärdiktatur mühsam errungenen sozialen und gesellschaftlichen Verbesserungen wurden durch die „konservativen Revolution“, die Bolsonaro ausgerufen hat, teils vernichtet, teils zurückgedreht. Oppositionelle fliehen ins Ausland und die Schere zwischen Arm und Reich wächst stetig weiter. Während Millionen Brasilianer*innen hungern, steigt die Zahl der Milliardär*innen. Gab es 2020 noch 45 stieg ihre Zahl um 44 Prozent auf 65 in 2021.

 

Der Autor Niklas Franzen, der lange Jahre in São Paulo gelebt und als Korrespondent für Tageszeitungen wie "taz" und "Neues Deutschland" gearbeitet hat, beschreibt in seinem Buch „Brasilien über Alles. Bolsonaro und die rechte Revolte” eine Schlüsselszene, die ihn dazu bewog, über Bolsonaros rechte Revolte zu schreiben.

 

Eindrücklich berichtet er uns von der Siegesfeier der Bolsonaro Anhängerschaft in São Paulo am Wahlabend. Volksfeststimmung. Bolsonaros Schlachtruf: “Brasil acima de tudo. Deus acima de todos” - “Brasilien über alles. Gott über allen” schallt aus den Lautsprechern und mittendrin ein „Mann Anfang 20. Mit Muskelshirt und Gelfrisur. Ganz ruhig steht er da, mitten in der Menschenmenge, fast schon stoisch. Er lächelt und hat den Arm zum Hitlergruß in die Luft gereckt. Die Umstehenden applaudieren. Noch lange wird mich diese Szene beschäftigen“ schreibt Franzen und begibt sich auf die Suche nach den Ursachen und Hintergründen des extremen Rechtsrucks in Brasilien.

 

Was ist mit Brasilien geschehen und wie konnte es soweit kommen? Franzen spricht mit Brasilianer*innen aus den verschiedensten Milieus mit ganz unterschiedlichen Weltanschauungen. Entgegen dem allgemeinen Trend der Medien, nur noch Menschen zu Wort kommen zu lassen, die die eigene Weltanschauung untermauern, finden hier alle Stimmen Gehör. Franzen schreibt nicht über Bolsonaro, sondern spricht mit Bolsonaro und lässt ihn selber erzählen. Bolsonaro-Bewunderer kommen genauso zu Wort wie Lula-Anhänger:innen. Franzen spricht mit dem Ex-Strafermittler und späteren Justizminister Sergio Moro, der im Lava-Jato-Korruptionskandal Lula hinter Gitter und die starke PT Partei zu Fall brachte. Er spricht mit dem marxistischen Gelehrten Paulo Cuenca, der Bolsonaro als Teil der brasilianischen Seele interpretiert. Er spricht mit Goldgräbern am Amazonas und mit Unterstützer:innen der Landlosen-Bewegung "Movimento Sem Terra" (MST), die Bolsonaro als "Terroristen" bezeichnet.

 

Franzen ist nah an den Menschen dran, er interessiert sich für sie und fesselt durch sein eigenes Interesse auch seine Leser:innen an die Erzählung, die offen lässt, wie es mit Brasilien weitergehen wird und wer im Oktober die Wahl zum Präsidenten gewinnt: Bolsonaro oder Lula.

 

Durch die vielseitigen persönlichen Perspektiven rückt Franzen das Bild zurecht, dass in den meisten westlichen Medien präsentiert wird: Brasilien sei unter seinem rechtsextremen Präsidenten ausschließlich nach rechts gerückt. Das stimmt so nicht. Es gibt viel Widerstand gegen Bolsonaros "rechte Revolution”: Auf der Straße, im Parlament, in den Redaktionen. Es ist ein Irrglaube zu meinen, dass eine Demokratie per se liberal sein muss. Es gibt auch illiberale Demokratien. Brasilien ist ein Beispiel dafür. Demokratie garantiert kein bestimmtes Ergebnis, sie kann auch in den Faschismus führen. Sie wird angetrieben von Kommunikation. Eine offene Kommunikationskultur, die Art und Weise, wie Mitglieder einer Gesellschaft etwas über die Welt lernen; wie sie darüber debattieren oder auch nicht und sich schlussendlich gegenseitig davon überzeugen, sie zu ändern oder nicht zu ändern, bestimmt, wie eine Demokratie ausgestaltet ist.

 

Wie sein großes Vorbild Donald Trump hat Jair Messias Bolsonaro sich als Anti-Politiker inszeniert und ebenso die Nutzung der sozialen Medien perfektioniert. Sie sind seine Waffe. Er braucht keine Panzer auf der Straße, sondern nur sein Smartphone. Damit schmiedete er eine Allianz aus Militärs, Fundamentalist:innen und Neoliberalen. Bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts galt noch das Dogma, Technik und Medien seien neutral. Sie sind es nicht. Jedes Medium formt in spezifischer Weise die menschliche Wahrnehmung und beeinflusst das Denken. Der kanadischer Medienwissenschaftler McLuhan schreibt: “Wir formen unsere Werkzeuge, und dann formen die Werkzeuge uns”. Ohne Film und Radio wäre der Faschismus im 20 Jahrhundert nicht möglich gewesen. Und ohne Soziale Medien wie Twitter und Facebook wären Politiker wie Trump und Bolsonaro nicht an die Macht gekommen. In der Propaganda Taktik über die sozialen Medien geht es nie darum, die Menschen zu überzeugen, sondern immer nur darum, sie zu überfluten; sie mit Lärm und Gebrüll zu desorientieren und zu verwirren, damit sie nicht mehr wissen, was sie glauben sollen. Bolsonaro beherrscht diese Taktik und es bleibt nur zu hoffen, dass Lula dieser Überflutung etwas entgegensetzt.

 

Die Wahlen im Oktober werden zeigen, wer die brasilianische Bevölkerung überzeugen bzw. überfluten konnte. Wer sich vorher ein gutes Bild von der Ausgangslage machen will ist mit Niklas Franzens Buch bestens beraten.

 

Gunda Wienke ist Redakteurin bei matices.