GESCHICHTEN VOM ÜBERLEBEN

Die Gewinnerfilme der diesjährigen Berlinale aus Spanien und Lateinamerika

Die Internationalen Filmfestspiele Berlin fanden 2022 wieder in Präsenz in den Kinos statt. Zwar mit halber Auslastung und Maskenpflicht sowie deutlich reduzierten Filmgesprächen, doch den Filmen tat die Rückkehr auf die große Leinwand ungemein gut. Im Wettbewerb nahmen das mexikanische Debüt “Robe of Gems” von Natalia López Gallardo teil, das mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde, sowie zwei Beiträge aus Spanien: “Un año, una noche” von Isaki Lacuesta und “Alcarràs” von Carla Simón. Die katalanische Regisseurin wurde für ihren zweiten Spielfilm mit dem Goldenen Bären geehrt. Den Preis der Jury im Bereich Kurzfilm erhielt der Brasilianer Bruno Ribeiro für “Manhã de Domingo”. Mit dem Teddy Award für den Besten Spielfilm wurde der brasilianische Film “Três tigres tristes” von Gustavo Vinagre ausgezeichnet. 

von Sonja Hofmann

Alcarràs ©Lluis Tudela
Alcarràs ©Lluis Tudela

Der Gewinnerfilm der diesjährigen Berlinale stammt aus Katalonien: Carla Simón (“Estiu 1993”, 2017) gewann für ihren zweiten Spielfilm “Alcarràs” den Hauptpreis des Festivals. Bei der Pressekonferenz zur Verleihung des Goldenen Bären freute sie sich, dass in diesem Jahr bereits etwas mehr weibliche Regisseurinnen im Festival vertreten seien. Sie hoffe, dass ihr Preis auch Türen für neue Filme öffne, denn schließlich stellten Frauen die Hälfte der Menschheit und daher gehöre ihnen auch die Hälfte der Geschichten. 

 

“Alcarràs” handelt von der drohenden Zwangsräumung der Familie Solé, die eine Pfirsichplantage im katalanischen Dorf Alcarràs bewirtschaftet und dort jeden Sommer zur Ernte verbringt. Nun sollen die Bäume durch Solarpaneele ersetzt werden. Ihre Existenz wie auch der Zusammenhalt der Familie sind in Gefahr. 

 

Selbst in einer großen Familie in einem katalanischen Dorf aufgewachsen, kennt Carla Simón die Region und die Nöte der Landbevölkerung, der aufgrund sinkender Agrarpreise ihre Lebensgrundlage entzogen wird. Mit großem Einfühlungsvermögen gelingt es der Regisseurin, die kleinen und großen Konflikte wie auch den Zusammenhalt der Familie in einem überzeugenden Sozialrealismus darzustellen. 

 

Ebenfalls aus Katalonien stammt der Filmemacher Isaki Lacuesta (u.a. “La próxima piel”, 2016, “Entre dos aguas”, 2018), der seinen neuen Spielfilm “Un año, una noche” im Wettbewerb präsentierte. Der argentinische Schauspieler Nahuel Pérez Biscayart (u.a. “120 BPM”, 2017, “El prófugo”, 2020) und die französische Darstellerin Noémie Merlant (u.a. “Porträt einer jungen Frau in Flammen”, 2020, “Wo in Paris die Sonne aufgeht”, 2022), stellen hier in Idealbesetzung ein Paar vor, das den Terroranschlag auf den Club Bataclan in Paris am 13. November 2015 überlebt hat und versucht, in einen normalen Alltag zurück zu finden. Doch die Erinnerungen an die Nacht des Anschlags lassen sie nicht los. Beide gehen sehr unterschiedlich mit dem Erlebten um: während sich Céline immer tiefer in ihre Arbeit stürzt und das Geschehene verdrängt, kämpft Ramón mit Panikattacken. Seine Therapeutin empfiehlt ihm, die Ereignisse aufzuschreiben.

 

Das Drehbuch basiert auf den Aufzeichnungen des spanischen Bataclan-Überlebenden Ramón González, dem das Aufschreiben bei der Verarbeitung der traumatischen Erlebnisse half. Mit großem Gespür für das Trauma rekonstruieren Regie und Kameraarbeit durch fortwährende Flashbacks der Konzertnacht den Prozess des Erinnerns, indem sie mit Wahrnehmung spielen und verschiedene Lesarten des Geschehenen darbieten. Die Schrecken dieser Nacht im Konzertsaal werden mit einer sich mitten hineinstürzenden Kamera geradezu physisch erfahrbar gemacht. Doch vor allem thematisiert der Film, wie schwierig es ist, mit diesem Trauma und der Trauer weiterzuleben und den eigenen Weg der Bewältigung zu finden. 

 

Der mexikanische Wettbewerbsbeitrag “Robe of Gems” von Natalia López Gallardo erzählt mittels dreier Frauenfiguren von der Gewalt der Drogenkartelle im ländlichen Mexiko. Es sind drei starke Frauen: die weiße Mexikanerin Isabel, die bei der Suche nach der verschwundenen Tochter ihrer Hausangestellten helfen will und dabei selbst zum Opfer von Gewaltausübung wird; Maria, die Schwester der Verschwundenen, die unter ihrer Arbeit für kriminelle Kidnapper leidet, aber keine Alternative sieht und die Polizistin Roberta, die Verbrechen aufklären will, aber nicht verhindern kann, dass der eigene Sohn Narco-Fashion trägt und sich von den Kartellen anwerben lässt. Alle sind sie letztlich machtlos den Strukturen aus Gewalt und Korruption, die die gesamte Gesellschaft zutiefst durchdringen, ausgeliefert. 

 

Natalia López Gallardo wurde in La Paz geboren und arbeitete nach ihrem Filmstudium in Mexiko u.a. als Editorin für Carlos Reygadas und Lisandro Alonso. Ihr erster Langspielfilm “Robe of Gems” ist ein zwiespältiger Film über soziale Gewalt in episch fotografierten Bildern, die für die große Leinwand gemacht sind und sich immer wieder in die Unschärfe verlieren. Wie auch die Handlungsstränge unscharf bleiben, ins Leere laufen, Gespräche nicht zu verstehen sind. So lässt der Film sein Publikum mit den gezeigten Gewalterfahrungen verstörend alleine und zwingt es zum machtlosen Zuschauen. 

 


Três tigres tristes  ©Cris Lyra
Três tigres tristes ©Cris Lyra

 

Surreale Reise durch São Paulo: “Três tigres tristes” von Gustavo Vinagre 

In der Sektion “Forum” präsentierte der brasilianische Regisseur Gustavo Vinagre seinen neuen Film: “Três tigres tristes” spielt inmitten einer globalen Pandemie, die den Infizierten ihre Erinnerung raubt und sie vergesslich werden lässt. So hat die Gesellschaft auch ihre Kolonial- und Diktaturgeschichte vergessen und wartet auf eine neue “Goldene Phase”. Drei queere junge Menschen - eine angehende Studentin, ein Camboy und dessen Neffe, durchstreifen die Straßen São Paulos und erleben eine surreale Reise voller magisch-verspielter Geschichten und Begegnungen. So erinnern sie sich an ihre Liebhaber:innen, treffen eine Make-Up-Artistin und finden sich schließlich mit den von der Gesellschaft Vergessenen im zeitlosen Antiquitäten-Salon von Sängerin Mirta ein. 

 

Die Jury, die den Film mit dem queeren Teddy Award auszeichnete, begründete ihre Auswahl so: “Ein Film, der das Queer- Sein und die wundervollen Verbindungen, die eine Familie und eine Community ausmachen, zelebriert”. Verspielt und fröhlich-surrealistisch daher kommend, ist hier eine neue queere Zeit angebrochen, in der Erinnerungen nur überleben können, wenn sie in gemeinschaftlichen Beziehungen geteilt und übertragen werden. Gustavo Vinagre gibt mit diesem Film ein hoffnungsvolles Statement ab und ein starkes Plädoyer gegen die Regierung Bolsonaros. 

 

Sein brasilianischer Kollege Bruno Ribeiro, der für seinen Kurzfilm “Manhã de Domingo” den Preis der Jury erhielt, konstatierte, dass Preise besonders wichtig seien in diesen schweren Zeiten mit einer Regierung, die aktiv versuche, die Kultur und das Kino zu vernichten. Sein Preis sei eine Botschaft, denn er zeige, dass es möglich sei, Kunst zu machen und seine Träume zu realisieren. 

 

Sonja Hofmann ist Redakteurin bei matices.