Mensch-Jaguar Beziehungen in den Amerikas

Zwischen Feindbild und mythischer Gottes-Gestalt

Von Julia Brekl und Dana Elena Harms

Für die meisten indigenen Gemeinden im Amazonasgebiet ist der Jaguar mehr als nur ein Tier. Seit Jahrtausenden prägt der König des Dschungels Mythen und Spiritualität in Süd- und Mittelamerika. Auch auf Wappen, Geldscheinen und Markennamen wird der Jaguar noch heute als Symbol für Kraft und nationalen Stolz verehrt. Doch Inzucht, Wilderei und die Zerstörung des Regenwalds bedrohen zunehmend das Überleben der größten Raubkatze Amerikas. Auf der anderen Seite kämpfen Landwirt*innen mit der Präsenz des Jägers auf ihrem Land. Können Mensch und Jaguar miteinander im Einklang leben? 

Schnell und unbemerkt schleicht er sich durch das dichte Grün. Er jagt gewöhnlich im Schutz der Dunkelheit, wenn die Dämmerung eintritt. Von hinten lauert er seiner nichts ahnenden Beute auf. Ein Sprung - und noch ehe die Beute realisiert, was geschieht - ist es bereits zu spät. Er hat einen ausgewogenen Speiseplan und ernährt sich von über 85 verschiedenen Tierarten innerhalb eines Revieres, das bis zu 40 Quadratkilometer groß sein kann. Der Jaguar gilt nicht umsonst als König des Dschungels. Er klettert auf Bäumen, ist ein sehr guter Schwimmer und kennt keine natürlichen Feinde - bis auf den Menschen. Einst durchstreifte er den amerikanischen Kontinent von Norden bis Süden. Bis auf ein paar vereinzelte Raubkatzen wie “El Jefe”, der vor drei Jahren als letzter Jaguar der USA Schlagzeilen machte, ist der Jaguar heute weitestgehend aus Nordamerika verschwunden Und auch in Uruguay und El Salvador gilt er inzwischen als ausgestorben. Dem WWF zufolge leben heute nur noch ungefähr 170.000 Jaguare in den Amerikas, hauptsächlich in der Amazonas Region. Damit ist die Population, nach Angaben des Jaguar Statements 2030, auf fast die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft. Die Mauer zwischen Mexiko und den USA, die US-Präsident Donald Trump bauen lassen will, könnte ein für alle Mal die Hoffnungen auf die Rückkehr des Jaguars in den nordamerikanischen Raum beenden, denn sie würde die Migrationsrouten der Tiere blockieren, warnen Tierschützer*innen. Doch auch in anderen Teilen der Amerikas steht das Überleben des Jaguars zunehmend auf dem Spiel. Der Jaguar wird besonders von Landwirt*innen und Siedler*innen, die immer weiter in das Amazonasgebiet vordringen, zum Feind erklärt. Doch das war nicht immer so. 

 

Jaguar-Menschen und Götter: der Jaguar als Teil der Geschichte der Menschen

 

Ikonografische Merkmale, Figuren, Skulpturen und Zeichnungen von Jaguaren lassen sich von Mexiko bis Bolivien im prähispanischen Mittel- und Südamerika finden und deuten auf die sakrale Rolle der Raubkatze im Leben der Menschen hin. Hinweise auf eine größere religiöse Bedeutung lassen sich bis zur Chavín-Kultur, die vom 19. bis 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in vielen Teilen des heutigen Peru existierte, zurückführen. Mischwesen von Mensch und Jaguar, “Hombres-Jaguares”, die auf Textilien und Tongefäßen aus der Zeit der Inka im 15. Jahrhundert unserer Zeitrechnung gefunden wurden, lassen Schlüsse auf das damalige kosmische Weltbild der Menschen zu: Mensch und Tier gehörten zusammen, eine Trennung gab es nicht. Sie existierten in Eintracht nebeneinander. Der Raubkatze, die den Dschungel beherrschte, wurde so viel Macht und Stärke zugesprochen, dass sie in vielen Kulturen als Gottheit oder sogar als Schöpfungsgott verehrt wurde. Als solche war sie über die Jahrhunderte hinweg im Leben der Menschen präsent, wenngleich sich die Rollen und Bedeutungen in den unterschiedlichen regionalen und kulturellen Kontexten veränderten und entwickelten. Bei den Azteken waren Jaguarfelle ein Symbol für Ruhm, Kraft und Potenz und der Kaste der obersten Krieger vorbehalten. Entlang der Küste des Golfs von Mexiko war die Verehrung des Jaguars ein zentraler Bestandteil der Religion und des täglichen Lebens der Olmeken. Man nannte sie deshalb auch “Pueblo del Jaguar” - Dorf des Jaguars. Einst lebte hier die Legende vom Jaguar-Menschen, der bei der intimen Zusammenkunft von einem Jaguar und einem Menschen entstand und von dem alle Olmeken Könige abstammen würden. Durch seine schier unbesiegbaren und mächtigen Attribute schrieb man dem Jaguar übernatürlich Kräfte zu. Schamanen, welchen es möglich war, in andere spirituelle Sphären einzutauchen und somit als Vermittler zwischen verschiedenen Welten zu fungieren, hatten eine besondere Verbindung zu den mystischen Jaguar-Wesen. Während ritueller Feste und Tänze schmückte man sich mit Jaguarfellen und bemalte sich, um so dem Tier, welches die Verbindung zur spirituellen Welt darstellt, zu huldigen. Viele der alten Praktiken und Riten gingen mit der Kolonialisierung und christlichen Missionierung für immer verloren. Einige überlebten jedoch und werden nach wie vor in teilweise abgewandelter Form in verschiedenen Regionen Lateinamerikas ausgeübt. 

 

Jaguar-Kulte und spirituelle Reisen im Jaguar Körper

 

Schaman*innen reisen während ihrer spirituellen Rituale mit ihrer Perspektive in Jaguar-Körper und schleichen durch den Dschungel. Grenzen zwischen Mensch und Natur werden aufgelöst. Animismus ist omnipräsent. Für indigene Gemeinden im Amazonas unterscheiden sich Mensch und Tier meist nur in der Erscheinung. Für sie ist die Bedeutung des Jaguars vielschichtig. So ist der Jaguar eine Art Person mit eigener kultureller Perspektive, aber auch ein anzestraler Geist, der sich im Wissen indigener Gemeinden wiederfindet. Der Jaguar-Geist bewohnt zum Beispiel die heiligen Flöten des Yuruparí Rituals, das im kolumbianischen Amazonasgebiet unter verschiedenen Ethnien verbreitet ist. “Wenn man auf einen Jaguar im Wald trifft, kann es vielleicht sein, dass er einer von solchen Geistern oder das Bewusstsein eines Schamanen ist.”, sagt der Anthropologe Luis Cayón über die kosmologische Anschauung der Makuna im nordwestlichen Amazonasgebiet. Für die Runa im ecuadorianischen Amazonas, so der Anthropologe Eduardo Kohn in seinem Buch “How forests think”, kann das Zusammentreffen mit einem Jaguar bedeuten, der Seele eines Verstorbenen im Körper des Jaguars zu begegnen. “In dem Moment, in dem sich der Schamane in die Perspektive des Jaguars begibt, sitzt ein Teil von ihm im menschlichen Umfeld, während der andere im Körper des Jaguars durch den Wald wandert.”, so Cayón. Eine derartige Körpertransformation ist aus westlicher Sicht nur schwer vorstellbar, da eine naturwissenschaftliche Erklärung dieses Vorgangs bisher unmöglich ist. Das Erleben anderer Wirklichkeiten während schamanistischer Rituale lässt sich vielleicht mit der Virtual Reality veranschaulichen, denn auch bei der Computertechnik wird eine intensive physische Erfahrung durch die Simulation einer anderen Realität hervorgerufen. Spieler*rinnen der Virtual Reality setzen sich für das Eintauchen in die andere Realität eine Brille auf.

 

Schamanen benutzen ein Jaguarfell, welches die Reise in den anderen Körper erleichtert. Einige Anthropolog*innen vergleichen den Tierkörper daher auch mit einem Kleidungsstück, in das Schamanen hineinschlüpfen. Während jedoch bei der Virtual Reality das Abtauchen in die andere Welt vom Computer hervorgerufen wird, erfahren Schamanen seit Jahrtausenden über ein hochkomplexes spirituelles System andere Realitäten. Der Jaguar stellt nur eines von vielen Tieren dar, welche bis heute eine wichtige Rolle in den Kosmologien vieler indigenen Gemeinden des Amazonas spielen. Eine ebenfalls große Bedeutung wird beispielsweise der Schlange beigemessen. 

Der Jaguar als Feind des Menschen oder der Mensch als Feind des Jaguars?

 

Während die Raubkatze für die einen eine ehrwürdige oder sogar göttliche Gestalt repräsentiert, ist der Jaguar für die anderen Sinnbild eines wilden und unberechenbaren Feindes. Immer wieder kommt es vor, dass Jaguare Haus- und Nutztiere reißen. Für Viehzüchter*innen stellt der Jaguar deshalb eine Bedrohung für die eigene Existenz dar. Nicht selten führen Landwirt*innen und Viehzüchter*innen als Vergeltung für ihr gerissenes Vieh einen erbarmungslosen Kampf gegen die Tiere. Der erlegte Jaguar stellt dabei auch eine Trophäe dar, die stolz präsentiert wird. Besonders im brasilianischen Pantanal, in dem sich Brasiliens Viehzucht konzentriert, entflammt dieser Kampf immer wieder aufs Neue.

Doch ist es wirklich der Jaguar, der in das Territorium des Menschen einbricht und auf Beutezug geht, oder ist es nicht viel mehr der Mensch, der immer weiter in das Jagdrevier des Jaguars vordringt und ihm zunehmend die Lebensgrundlage entzieht?

 

Siedlungen, Sojaplantagen und große Viehbestände breiten sich immer mehr aus und nehmen stets größere Teile des Amazonas Regenwaldes, in dem sich 90 Prozent der Jaguar Populationen weltweit aufhalten, ein. Durch die Abholzung hat sich auch die Artenvielfalt im Amazonasgebiet in den letzten Jahrzehnten stark verkleinert und damit wurde die Lebensgrundlage des Jaguars zunehmend einseitiger. Hinzu kommt die Gier der illegalen Wilderer, die Jagd auf das majestätische Geschöpf machen, um die Felle, Zähne, Knochen und Pfoten des Jaguars für viel Geld auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Dank Sensibilisierungskampagnen und seitdem der Jaguar seit Mitte der 1970er Jahre unter gesetzlichem Schutz steht, ist die Jagd auf die Tiere stark zurückgegangen. Doch in vielen anderen Gebieten ist die Gier nach dem schnellen Geld zu groß und die Überlebenschancen des Tieres schwinden zunehmend.

 

Gesunde Jaguar Population = Gesundes Ökosystem

 

Der Jaguar steht an der Spitze der Nahrungskette im amerikanischen Regenwald. Und wenn ein Ökosystem eine größere Population von Jaguaren aufweist, dann ist auch die Artenvielfalt des Regenwalds entsprechend groß. Der Jaguar gilt daher auch als sogenannte Indikatorart, die Auskunft über die Arte Vielfalt eines Ökosystems gibt. Denn für ideale Lebensbedingungen brauchen die Raubkatzen, neben einem großen Jagdrevier, auch einen ausgewogenen Speiseplan. Verschwindet der Jaguar hingegen aus einem Gebiet, kann das ein Indiz dafür sein, dass das Ökosystem Regenwald aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Durch die Abholzung des Regenwalds und andere menschengemachte Bedrohungen werden Populationen voneinander getrennt und der mögliche Genpool für die Fortpflanzung kleiner. Nach Angaben des WWF wirkt sich Inzucht negativ auf die Gesundheit und Anpassungsfähigkeit der Tiere aus. 

 

Der Jaguar kommt auf die politische Agenda

 

Mit dem Jaguar-Statement 2030 setzten im März 2018 Vertreter*innen aus 14 amerikanischen Staaten und zahlreiche Expert*innen internationaler Umweltschutzorganisationen im Rahmen des UN-Weltartenschutztages ein Zeichen gegen die zunehmende Bedrohung des Jaguars. Die Erklärung erkennt an, dass sich der Schutz des Jaguars positiv auf den Erhalt der Biodiversität, die Lebensbedingungen lokaler Gemeinden und somit allgemein auf das Erreichen der UN Ziele für nachhaltige Entwicklung auswirkt. Auch die Wichtigkeit des Jaguars als kulturelles Symbol in den Amerikas wird in der Erklärung betont. Ziel ist die Ausarbeitung eines umfassenden Jaguar-Schutzprogramms, das auch die Mensch-Jaguar-Beziehungen und Konflikte mit Viehzüchter*innen verbessern soll. Damit steht der Schutz des Jaguars nun auch offiziell auf der Agenda der UN.

 

Die Symbolkraft des Jaguars heute

 

Die Symbolkraft des Jaguars ist auch heutzutage noch in vielen Kontexten zu sehen. So schmückt der Jaguar beispielsweise manche Wappen, wie das von Guyana oder die Flagge des kolumbianischen Bundesstaats Amazonas. Der Jaguar erscheint auf einigen Banknoten, ist zur Automarke geworden und ist der Name einiger Sportmannschaften. Er steht nach wie vor für Kraft, Potenz und Schnelligkeit. Dabei scheint jedoch das Tier selbst in den Hintergrund geraten zu sein. Über Jaguare wissen die meisten nur wenig, im Vordergrund stehen die vom Menschen zugeschriebenen Attribute. Es fand eine gewisse Entzweiung zwischen der Welt des Jaguars und der des Menschen statt. Ihn weder als Ware noch als Feind zu betrachten, sondern vielmehr seine wertvolle Rolle im Ökosystem anzuerkennen und eine friedliche Koexistenz anzustreben, könnte Mensch und Jaguar wieder zueinander führen. Dies wäre eine Annäherung an eine Mensch-Jaguar-Beziehung, wie sie Jahrhunderte lang existiert hat. 

Julia Brekl und Dana Elena Harms sind Redakteurinnen bei matices und beschäftigten sich im Rahmen ihres Ethnologie-Studiums mit Mensch-Umwelt Beziehungen in der Amazonas Region.

Anmerkung der Redaktion: Trotz einheitlichen Genderns wird in diesem Artikel nur die männliche Form des Schamanens benutzt. In den meisten indigenen Gemeinden im Amazonas fällt die Rolle des Schamanen und der spirituellen Verhandlung nur Männern zu.