Buchrezensionen 99

Isabel Allende - Dieser weite Weg

Die chilenische Autorin Isabel Allende erzählt in ihrem neuen Roman „Dieser weite Weg“ eine Geschichte von Krieg und Vertreibung, Flucht und Exil.

Am 4. August 1939 sticht im Hafen von Bordeaux die Winnipeg in See, ein zum Flüchtlingsschiff umfunktionierter Frachter. An Bord befinden sich mehr als 2000 Spanier*innen, Geflüchtete, die nach der Niederlage der Republik gegen Franco dessen Erschießungskommandos im letzten Moment entkommen konnten. Einen Monat wird das Schiff auf See sein, bevor es sein Ziel erreicht: den Hafen von Valparaíso in Chile. Zurück am Quai bleibt ein in weiß gewandeter Mann und winkt den traumatisierten Hoffnungsvollen nach – stolz, diesen Menschen den Aufbruch in ein neues Leben, fern vom unsicheren Europa, in dem bereits der nächste Krieg vor der Tür steht, ermöglicht zu haben. Dieser Mann ist der chilenische Botschafter in Frankreich, der Dichter Pablo Neruda.

Unter den Geflüchteten befindet sich die junge katalonische Familie Dalmau: Víctor, Roser und der kleine Marcel. Nachdem nach Jahren des Bürgerkriegs mit den letzten Bastionen der Republikaner*innen auch Victors einziger Bruder Guillem, der Vater Marcels, gefallen ist, schickt Víctor dessen hochschwangere Geliebte Roser, eine junge Pianistin, im Januar 1939 auf die gefährliche Fluchtroute über die Pyrenäen nach Frankreich. Da er es nicht übers Herz bringt, der Schwangeren vom Tod seines Bruders zu berichten, tritt Roser die Reise an, im Unwissen über das Schicksal des Kindsvaters. Víctor, ein junger Arzt, bleibt indes mit einigen anderen Ärzten noch eine Zeit lang in Barcelona, um so viele Verletzte und Kranke wie möglich auf den Weg nach Frankreich zu bringen. Als einer der letzten Flüchtigen macht auch er sich auf den Weg und über- quert schließlich mit einem Zug Invalider die französische Grenze. Er findet Roser, die inzwischen einen gesunden Jungen geboren hat. In der Zeitung lesen Roser und Víctor, dass ein gewisser Pablo Neruda dabei ist, einer begrenzten Anzahl spanischer Geflüchteter die Reise in dessen Heimatland Chile zu ermöglichen, und so findet sich der junge Arzt bald in der chilenischen Botschaft in Paris dem Dichter gegenüber und bewirbt sich um eine Passage für sich, Roser und das Kind. Doch rechtlich verbinden Roser und ihn keine familiären Bande – die Chancen einer gemeinsamen Übersiedlung stehen schlecht. Víctor fasst den Entschluss, die Geliebte seines toten Bruders zu heiraten und so gesteht er ihr endlich den Tod Guillems und hält im selben Atemzug um ihre Hand an. Die beiden heiraten und befinden sich auf der Winnipeg auf dem Weg in ihr gemeinsames Exil Chile, das Land, das ihr Schicksal werden soll.

Im ersten Teil des Romans gelingt den Dalmaus im chilenischen Exil eine Art Emanzipation vom Weltenlauf: Victor und Roser gelingt es, sich ein Leben aufzubauen. Die Geflüchteten verfolgen dabei stets wachsam die regen politischen Machtwechsel Chiles bis hin zu Salvadors Allendes kommunistischer Revolution, die von Pinochet nach nur drei Jahren 1973 gewaltsam beendet wird. Im venezolanischen Exil vom Exil erreicht sie 1975 die Nachricht von Francos Tod und Roser und Victor reisen in ihre alte Heimat Spanien. Sie kommen nach Hause, erkennen nichts wieder, und Roser spricht aus, was sie und Victor längst wissen: „Das Fremdsein steht mir bis hier. Lass uns nach Chile zurückgehen. Wir sind von dort.“ Die alte Heimat ist im Exil einer neuen gewichen.

In distanziertem Ton schildert Allende den Niedergang der spanischen Republik, die Flucht und das Leid der Familie Dalmau. Mit wenigen Worten entwirft sie Bilder, die wie Erinnerungen im Gedächtnis haften bleiben. So setzt die Handlung in einem Feldlazarett ein, in dem Victor in die zerschossene Brust eines Kindersoldaten greift und dessen kleines Herz per Massage wieder zum Schlagen bringt, den Jungen mit bloßen Händen zurück ins Leben holt; verdichtet sich die Lebensfeindlichkeit eines Geflüchtetenlagers in dem Satz „Sand und Meer und Stacheldraht.“ Auch auf dem amerikanischen Kontinent, wo Zwischen- menschliches auf Weltgeschichte trifft, wo Aristokraten um ihre Privilegien bangen und deren Söhne – Salonmarxisten in englischem Tweed – die kommunistische Revolution planen; wo mal ernsthaft, mal mit viel Witz von Verlangen und Leidenschaft erzählt wird und von einer Ehe, die alles zulässt und gerade dadurch Bestand hat, bleibt vieles im Gedächtnis. Leider wird dem Text eben dies gegen Ende zum Verhängnis: Zu oft wird an Details erinnert, die dem*der Leser*in noch präsent sind, wird die selbstständige Assoziation unterbunden, indem die Autorin nicht andeutet, sondern laut zu Ende denkt; werden Attribute des Personals wieder- holt wie in einer „radionovela”. Auch ein weniger rundes Ende hätte dem Roman in Anbetracht des Sujets gutgetan. Man kann Allende Kitsch vorwerfen. Lesenswert bleibt „Dieser weite Weg“, der Begriffe wie Ehe, Liebe und nicht zuletzt Heimat vor einem beeindruckenden historischen Panorama verhandelt, trotzdem.

Von Julius Hendricks 

ernanda Melchor - Saison der Wirbelstürme

Am Anfang legt Fernanda Melchor eine falsche Fährte. Sie führt eine geheimnis- volle Figur ein, die von allen im Dorf La Matosa nur „die Hexe“ genannt wird. Sie kleidet sich stets in Schwarz, lebt zurückgezogen in ihrem Häuschen und scheint über besondere Kenntnisse in der Heilkunde, wenn nicht gar magische Kräfte zu verfügen. Die Frauen des Dorfs suchen sie bei kleineren und größeren Leiden auf, getrieben von einem tief verwurzelten Aberglauben und dem üblen Zustand des Gesundheitssystems in der mexikanischen Provinz.

Eine solche Konstellation könnte auch in einen Roman des Magischen Realismus münden, einer epischen Erzählung über ein verzaubertes/verfluchtes Dorf, das symbolhaft für eine Region, ein Land oder gleich ganz Lateinamerika steht. Aber nein. Jeglicher Gedanke an überkommene Klischees der lateinamerikanischen Literatur wird einem schnell ausgetrieben. Das besorgt zunächst vor allem die Sprache Melchors. In ihren teils endlosen, atemlosen Sätzen wimmelt es von vulgären Beleidigungen, unzähligen sexuellen Bildern und ungefilterter Gewalt. Hier wird nichts literarisch sublimiert, jedes schmutzige Detail wird beim Namen genannt.

Inhaltlich bereitet Melchors Erzählstimme am Ende des zweiten Kapitels auf die kommende Geschichte vor: „[A]rme Hexe, arme Verrückte, hoffentlich schnappen sie wenigstens den oder die Dreckskerle, die ihr die Kehle durchgeschnitten haben.“ Eine klassische Krimi-Handlung folgt allerdings auch nicht. Die Figur der Hexe bildet nur den Rahmen für mehr oder weniger alltägliche Episoden, die von verschiedenen Bewohnern von La Matosa handeln und ein Sittenbild der Einwohner dieses Dorfs im Niemandsland Mexikos ergeben. Sie alle haben in irgendeiner Form eine Beziehung zur Hexe, sind aber auch untereinander verbandelt. Wie sich diese Verbindungen gestalten, eröffnet sich nach und nach. Vieles bleibt auch im Dunkeln. Um die Leerstellen mögen manche Leser*innen geradezu froh sein, denn was Melchor erzählt, ist nicht leicht zu verdauen.

Die grassierende Gewalt in Lateinamerika und speziell in Mexiko ist kein neues literarisches Sujet. Doch so eindrücklich und unmittelbar wurde sie wohl noch selten erzählt. Wirklich jede Figur – sei es der ständig zugedröhnte Jugendliche, seine von ihrem Stiefvater geschwängerte Freundin, die sich in die Religion und Telenovelas flüchtende Mutter oder die kühl berechnende Zuhälterin – sie alle führen ein absolut hoffnungsloses Leben. Sie sind von Kindesbeinen an von Armut, Sucht und Gewalterfahrungen geprägt. Wer hier wen physisch und psychisch misshandelt, folgt keinen Regeln. Der grausame Zufall bestimmt das Leben dieser abgehängten Menschen, jede Aussicht auf Besserung wird im Keim erstickt, erstickt wie die Hexe aus Gier nach ihrem vermeintlichen Schatz, der selbstredend nicht existiert.

Es ist auch ein feministischer Roman. Nicht, weil die weiblichen Figuren in irgendeiner Hinsicht überlegen auftreten bzw. männliche Gewalt ganz besonders angeprangert würde. Die Aufwertung des weiblichen Blicks erfolgt vielmehr über seine Vulgarisierung. Die Frauen verhalten sich keinen Deut zivilisierter als ihre Liebhaber, Ehemänner und Freier, Väter und Söhne. In dieser Welt sind alle gleich in ihrer Amoralität und ihrem grenzenlosen Egoismus. Opfer und Täter sind keine Kategorien, die hier angewandt werden können. Mütter schlagen ihre Töchter, erfahrene Prostituierte raten dem potentiellen Nachwuchs dringend zur Abtreibung ihres Ungeborenen. Das ist die Normalität. Wiederum wird dieser Zustand sprachlich am deutlichsten. Aufs derbste wird über schlaffe Schwänze, „Wichser“ aller Couleur und dämliche Gören hergezogen. Weibliche Solidarität blitzt hier und da auf, fällt aber nicht weiter ins Gewicht.

In diesem Zusammenhang muss auch auf die besondere Qualität der Übersetzung von Angelica Ammar hingewiesen werden. Sie hat es geschafft, all die Obszönitäten aus dem mexikanischen Spanisch ins Deutsche zu übertragen und dabei alle Peinlichkeiten zu umschiffen und den Eindruck von Authentizität zu erzeugen. Zugleich überkommt einen stellenweise große Neugier auf das Original. Nur ein Beispiel: Was ist wohl das mexikanische Äquivalent zu „Hirnwichse“?

Die Mörder der Hexe, im Übrigen eine trans*Person und damit wohl besonders gefährdet, werden am Ende gestellt. Sie werden von der Polizei verprügelt und gefoltert. Diese glaubt den jungen Männern nicht, kein Vermögen im Haus der Toten erbeutet zu haben. Die Polizisten durchkämmen daraufhin selbst das verwahrloste Zuhause der Hexe auf der Suche nach dem Schatz. Und finden nur die Mumie ihrer vor Jahren verstorbenen Mutter. „Denn das sagen die Frauen des Dorfes: dass es dort keinen Schatz gab, weder Gold noch Silber noch Diamanten oder sonst etwas, nur einen pochenden Schmerz, der nicht verschwinden will.“ Vielleicht soll dieses Haus und dieses Dorf doch symbolisch stehen - für eine Region, ein Land, Lateinamerika?

Von Jan Göthlich 

Ildefonso Falcones - Die Kathedrale des Meeres

Barcelona im 14. Jahrhundert, die Herausforderungen des Mittelalters und eine Kathedrale, die das Leben der Menschen prägte – davon handelt der Roman „Die Kathedrale des Meeres“ und es hat jedes Potenzial den Leser und die Leserin in seinen Bann zu ziehen.

Die gotische Kirche „Santa Maria del Mar“ wurde zwischen 1329 und 1383, also in nur knapp 55 Jahren erbaut (zum Vergleich: Der Bau des Kölner Doms dauerte circa 632 Jahre!) und bildet den Hintergrund der Handlung des historischen Romans.

In deren Fokus steht der Protagonist Arnau Estanyol, der den Bau der Kathedrale von Kindesbeinen an miterlebt und die ihn sein Leben lang begleiten wird. Als Junge hilft er den sogenannten „Bastaixos“, einer Zunft ehemaliger Sklaven, welche die Steine für den Bau der Kathedrale vom Hafen bis zur Baustelle schleppten. Dies taten sie vollkommen unentgeltlich, nur von ihrem starken Glauben und ihrer Begeisterung für eine neue Kirche geleitet. Anfangs versorgt Arnau die Männer auf ihrem Weg mit Wasser, bevor er später als Erwachsener selbst ein „Bastaix“ wird und sich im Laufe der Geschichte bis zum Seekonsul Barcelonas hocharbeitet. Der Leser / die Leserin begleitet ihn auf seinem Lebensweg und erlebt sowohl seine Erfolge als auch seine Schicksalsschläge hautnah mit.

Nicht nur der Bau der Kathedrale spielt eine wichtige Rolle in Falcones‘ Roman, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse werden ebenso deutlich. Obwohl das damalige Barcelona als freie und prosperierende Handelsstadt galt, litten die Bürger neben großer Armut und Pestepidemien, denen sie hilflos ausgeliefert waren, auch unter dem Adel und dessen vermeintlichen Vorrechten, gegen die sie ebenfalls wenig ausrichten konnten. Das „ius primae noctis“, das Recht der ersten Nacht, ist nur ein Beispiel von vielen, das verdeutlicht, wie sehr die Grundherren über das Leben ihrer Leibeignen verfügen konnten. Tatsächlich wurde es aufgrund zahlreicher Konflikte im Jahre 1486 abgeschafft, allerdings nur unter der Bedingung der Zahlung einer beträchtlichen Entschädigungssumme an den Lehnsherren.

Unter dem Deckmantel der „heiligen“ Inquisition verbreitete die katholische Kirche Grauen und Schrecken unter den Bürgern, indem teilweise unschuldige oder für Lappalien verurteilte Frauen und Männer als Hexen oder Ketzer auf den Scheiterhaufen geführt wurden.

Der Antisemitismus, der zur damaligen Zeit schon eine Rolle spielte, wird ebenfalls zur Sprache gebracht. Die Tatsache, dass es den Juden untersagt war, an den Osterfeiertagen ihre Häuser zu verlassen, da sie die Prozessionen nicht sehen oder stören sollten, zeigt, wie ausgeprägt der Aberglaube und der irrationale Hass der Christen gegen die Juden war.

Der Autor versteht es, den Leser / die Leserin in diese lange vergangene Zeit zu entführen und ihm das mittelalterliche Katalonien in all seiner Schönheit und gleichzeitigen Grausamkeit vor Augen zu führen. Dabei fließen die historischen Fakten automatisch in die Geschichte ein.

Verschiedene Handlungsstränge werden geschickt miteinander verknüpft, Figurenschicksale werden zusammengeführt und wieder getrennt. Freundschaft, Familie und Liebe, aber auch Grausamkeit und Verrat runden das Gesamtbild ab. Dies sind Themen, die einen Roman zeit- los und auch nach über zehn Jahren seit seiner Erstveröffentlichung noch relevant machen. Die gleichnamige Miniserie, die 2018 auf Netflix erschien, ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu empfehlen.

Nicht umsonst schaffte es Ildefonso Falcones in Spanien und in Deutschland auf die Bestsellerlisten. Jedem, dem Historienromane à la Ken Follett gefallen und der sich für die Geschichte Kataloniens interessiert, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt.

Iliana Meier