Tiefe Kluft in Venezuela

Das Kräftemessen zwischen Chavismus undOpposition ist noch lange nicht entschieden

Seit Wochen und Monaten suchen internationale Medien stets nach neuen Superlativen, wenn es um Venezuela geht. Denn die Krise in dem südamerikanischen Land spitzt sich immer weiter zu, ständig werden neue Niveaus der Konfrontation erreicht, die kurz zuvor kaum denkbar waren. Hilfe soll nun ausgerechnet von US-Präsident Trump kommen.

von Harald Neuber

Hintergrund des anschwelenden Konfliktes in Venezuela ist die tiefe Kluft zwischen den politischen Lagern, die seit dem Wahlsieg des Chavismus – damals noch unter Namensgeber Hugo Chávez – seit Anfang 1999 besteht. Tatsächlich haben alte und neue Parteien der Oligarchie es seit damals nicht vermocht, sich mit dem Reformprojekt der Bolivarischen Revolution zu arrangieren. Diese Haltung gipfelte bekanntermaßen zunächst in einem Putschversuch gegen Präsident Chávez (1999-2013), als auch in Sabotageaktionen, Rufen nach Interventionen, Paramilitarismus und zuletzt in gewalttätigen Protesten, die auf einen Sturz der Regierung abzielen. Bei entsprechenden Demonstrationen Anfang 2014 kamen 43 Menschen ums Leben. Die aktuellen Proteste, die Anfang April begonnen haben, kosteten bisher fast 130 Menschen das Leben.

 

Betrugsvorwürfe nach verfassungsgebender Versammlung

 

Der Befreiungsschlag sollte aus Sicht der Regierung von Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro die Wahl zur verfassunggebenden Versammlung am 30. Juli sein. Dieses Ansinnen misslang. Denn die Parteien des Oppositionsbündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD) boykottierten die Abstimmung nicht nur, sie erhoben nach der Wahl umgehend auch Betrugsvorwürfe. Grundlage ist eine Pressemitteilung des in London ansässigen Unternehmens Smartmatic, das seit 2004 den technischen Support für zahlreiche Abstimmungen in dem südamerikanischen Land geleitet hat. Die Vorwürfe von Smartmatic haben indes durchaus unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Während die regierungskritische Staatsanwältin Luisa Ortega ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachtes auf Wahlbetrug einleitete, veröffentlichten regierungsnahe Medien Details über Verbindungen des Unternehmens zum US-Investor George Soros. Zugleich rief eine Smartmatic nahestehende Nichtregierungsorganisation die Europäische Union dazu auf, eine Übergangsregierung in Venezuela zu unterstützen. 

 

In Reaktion auf die Erklärung von Smartmatic sagte Generalstaatsanwältin Ortega im Interview mit dem US-Sender CNN, sie habe zwei Staatsanwälte mit Ermittlungen „zu diesem skandalösen Vorgang“ beauftragt. Die Vorwürfe seien „sehr schwer“, so Ortega. Bei der Erklärung aus London handele es sich um „ein weiteres Element in diesem ganzen illegalen Prozess der verfassunggebenden Versammlung des Präsidenten“. Es bestehe sogar der Verdacht auf ein „Verbrechen gegen die Menschheit“, so Ortega. „Es ist wahrscheinlich, dass wir in diesem Fall noch nicht mal eine Wahlbeteiligung von 15 Prozent hatten.“

 

In der Presseerklärung des britischen Unternehmens heißt es, dass bei der Abstimmung „schätzungsweise eine Differenz von einer Million Stimmen zwischen der tatsächlichen Beteiligung und dem von den Behörden bekanntgegebenen Resultat liegt“. Zuvor schreibt die Firma in der gleichen Erklärung noch selbstbewusst: „Aufgrund der Zuverlässigkeit unseres Systems (von Wahlmaschinen) wissen wir ohne jeden Zweifel, dass das Ergebnis der letzten Wahlen (zur verfassunggebenden Versammlung in Venezuela) manipuliert wurde.“ Unklar bleibt

zunächst, woher diese Gewissheit kommt. Dennoch fand die Meldung weltweit umgehend Verbreitung.

 

Das am ehesten nachvollziehbare Argument der Londoner Firma lautet: Die Abstimmung mit Maschinen von Smartmatic braucht immer auch einen Gegencheck der beteiligten politischen Parteien, so wie dies in der Vergangenheit in Venezuela gemeinhin geschehen ist. Weil die Opposition die Wahlen dieses Mal aber boykottierte, sei diese Kontrolle nicht gegeben gewesen. Wie daraus auf einen sicheren Wahlbetrug geschlossen wird, bleibt unklar. Zumal die venezolanische Opposition Ende 2005 – als Smartmatic schon beteiligt war – bereits einmal eine Wahl boykottiert hatte.

 

Die Präsidentin der Wahlbehörde CNE, Tibisay Lucena, bezeichnete die Erklärung von Smartmatic als „beispiellose Einschätzung eines Unternehmens, dessen einzige Aufgabe im Rahmen der Wahl darin besteht, bestimmte Dienstleistungen und technische Unterstützung zu bieten, die keinen Einfluss auf die Ergebnisse haben“. Im Übrigen habe Smartmatic als Serviceunternehmen auch dieses Mal an allen technischen Überprüfungen teilgenommen und die entsprechenden Protokolle unterschrieben, erklärte die venezolanische Wahlbehörde an anderer Stelle. Dies betreffe auch die Software der Wahlmaschinen und das Auszählungssystem, dessen Überprüfung laut CNE am 25. Juli stattfand und zufriedenstellend verlaufen sei.

 

Sanktionen gegen politische Funktionsträger

 

Der Kritik ungeachtet kam die verfassunggebende Versammlung Anfang August zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen – und verlängerte ihre Arbeitszeit prompt von sechs Monaten auf zwei Jahre. Als Präsidentin wurde die ehemalige Außenministerin Delcy Rodríguez gewählt. Erster Vizepräsident wurde der chavistische Politiker Aristóbulo Istúriz, sein Vertreter der ehemalige Generalstaatsanwalt Isaías Rodríguez. Eines der ersten Themen war die Gründung einer Wahrheitskommission, die unter anderem die Umstände der andauernden Proteste aufklären soll, die das südamerikanische Land seit Anfang April erschüttern.

 

Für internationale Schlagzeilen sorgte indes die Entlassung der bisherigen Generalstaatsanwältin Luisa Ortega durch die verfassunggebende Versammlung. Die Juristin gehörte lange dem regierenden chavistischen Lager an, hatte zuletzt aber die Seiten gewechselt und die These eines Wahlbetrugs verteidigt. Ortegas Nachfolger ist der bisherige Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Tarek William Saab. Die Absetzung Ortegas zeigte erneut die verworrene politische Lage in dem Land. Denn während die Juristin nun von der Opposition und Teilen der internationalen Presse als Heldin gefeiert wird, gerät in Vergessenheit, dass Ortega persönlich die Verhaftung und Verurteilung mehrerer hochrangiger Oppositionspolitiker verfügte, unter ihnen Leopoldo López von der rechtspopulistischen Partei Primero Justicia (Zuerst Gerechtigkeit) und der ehemalige Bürgermeister von Groß-Caracas, Antonio Ledezma.

 

Auch an anderer Stelle wurden politische Funktionsträger sanktioniert. So hat der Oberste Gerichtshof Venezuelas (TSJ) in der ersten Aprilhälfte mehrere oppositionelle Bürgermeister ihres Amtes enthoben. Sie wurden für schuldig befunden, gewaltsame Proteste nicht unterbunden zu haben. Betroffen war der Bürgermeister der Gemeinde El Hatillo östlich von Caracas, David Smolansky. Das Gericht verurteilte den Politiker der rechtspopulistischen Partei Voluntad Popular (Volkswille) zu einer Gefängnisstrafe von 15 Monaten und ordnete seine Verhaftung an. Während dieser Zeit darf Smolansky kein politisches Amt mehr ausüben.

 

In der Urteilsbegründung verwies das Gericht darauf, dass Smolansky einem früheren Gerichtsbeschluss nicht nachgekommen sei. Darin war er angesichts von gewaltsamen Ausschreitungen in seiner Gemeinde aufgefordert worden, Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu ergreifen und gegen die Gewalttäter vorzugehen. Smolansky rief seine Anhänger nach Bekanntgabe des Urteils umgehend zu Protesten auf. „Es geht nicht um Smolansky, es geht nicht um einen Posten, es geht nicht um Macht, es geht darum, dass ihr mich vor über drei Jahren gewählt habt“, sagte er in einer Videobotschaft.

 

„Bruch der demokratischen Ordnung“

 

Außenminister und diplomatische Vertreter aus zwölf lateinamerikanischen Ländern und Kanada haben indes eine Erklärung verabschiedet, die einen „Bruch der demokratischen Ordnung“ in Venezuela verurteilt und ankündigt, Entscheidungen des venezolanischen Verfassungskonvents nicht anzuerkennen. Ein paralleles außerordentliches Treffen der Außenminister des linksgerichteten Staatenbundes Bolivarische Allianz (Alba) in Caracas wies die US-Sanktionen gegen das Mitgliedsland Venezuela indessen als völkerrechtswidrig zurück und „beglückwünscht das venezolanische Volk zu seiner massiven Teilnahme an den Wahlen zum Verfassungskonvent“ am 30. Juli.

 

Der Präsident von Peru, Pedro Pablo Kuscynsky, hatte in die Landeshauptstadt eingeladen, um über die Lage in Venezuela zu beraten. Als Gast war auch der venezolanische Parlamentspräsident Julio Borges von der rechtspopulistischen Partei Primero Justicia anwesend, ein führender Vertreter des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit.

 

Die siebenstündigen Gespräche, an denen Vertreter von 17 lateinamerikanischen Regierungen und Kanada teilnahmen, endeten mit einer „Deklaration von Lima“, welche schließlich Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Guatemala, Honduras, Kanada, Kolumbien, Mexiko, Panama, Paraguay und Peru verabschiedeten.

 

Von Uruguay und den karibischen Ländern Jamaika, Guyana, Santa Lucia und Grenada wird eine Teilnahme an dem Treffen berichtet, diese schlossen sich der Abschlusserklärung jedoch nicht an. Uruguays Präsident Tabáre Vázquez hat in diesem Zusammenhang eingeräumt, dass seine Regierung aus Furcht vor wirtschaftlichen Repressalien der Suspendierung Venezuelas aus dem Regionalbündnis Gemeinsamer Markt des Südens (Mercosur) zugestimmt hat. In einem Interview mit der Wochenzeitung Búsqueda reagierte der Staatschef damit auf heftige Kritik in den Reihen des Mitte-Links-Regierungsbündnisse Frente Amplio sowie vom Gewerkschaftsdachverband und der landesweiten Studentenorganisation.

 

Trump schließt Militärintervention nicht aus

 

 

Für eine Stärkung der venezolanischen Regierung unter Präsident Maduro dürfte absurderweise ausgerechnet sein US-Amtskollege Donald Trump sorgen. Trump hatte Mitte August erstmals eine militärische Reaktion auf die Krise in Venezuela ins Spiel gebracht. Es gebe mehrere Handlungsvarianten, sagte Trump vor Pressevertretern in New Jersey, „darunter eine militärische Option, falls nötig“. Konkrete Pläne für eine militärische Intervention in Venezuela gibt es aber offensichtlich nicht. Ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums sagte, es gebe derzeit keine entsprechenden Anweisungen der Regierung.

 

Venezuelas Außenminister Jorge Arreaza wies die Drohung gegen sein südamerikanische Land erwartungsgemäß zurück. Bei einer Pressekonferenz bezeichnete Arreaza die Äußerungen Trumps als „Verletzung der Prinzipien der Vereinten Nationen und des Völkerrechts“. Es sei die Zeit für die internationale Gemeinschaft gekommen, „dieser bisher aggressivsten Drohung des Imperiums entgegenzutreten“, so Venezuelas Chefdiplomat. Arreaza erinnerte daran, dass die Drohungen Trumps nur einen Tag nach einem Gesprächsangebot von Venezuelas Präsident Nicolás Maduro erfolgten.

 

Venezuelas Verteidigungsminister Vladimir Padrino López schrieb über den Kurznachrichtendienst Twitter, man könne Trumps Haltung nur als „wahnhaft und extremistisch“ bezeichnen. Die Regierung hoffe, dass die Opposition nun „einen Funken Patriotismus“ zeige und gegen diese „schwerwiegende militärische Drohung“ Stellung beziehe, so der Minister.

 

Boliviens Präsident Evo Morales schloss sich der Kritik aus Caracas an. Die Äußerungen des US-Präsidenten belegten die militärischen Ambitionen der politischen Gegner der Maduro-Regierung, schrieb er auf Twitter. Es sei bezeichnend, dass die Rechte im Land und international auf die Einlassungen Trumps mit einem „komplizenhaften Schweigen“ reagiere.

 

Diese Äußerungen und Forderungen aus Caracas zur Distanzierung von Trump zeigten Wirkung. Nach den Einlassungen des US-Präsidenten wiesen zahlreiche Staaten der Region die Drohungen gegen Venezuela zurück. Die Regierung von Kolumbien äußerte sich kritisch, ohne direkt Trump zu nennen. „Wir weisen militärische Maßnahmen und die Anwendung von Gewalt im internationalen System zurück. Alle Maßnahmen sollten auf der Basis des Respekts vor der Souveränität Venezuelas getroffen werden“, hieß es aus Bogotá. Kolumbiens Regierung sprach sich zudem für „friedliche Lösungen“ der innenpolitischen Krise Venezuelas aus. Diesem Appell schlossen sich auch andere Staatsführungen an, die der sozialistischen Regierung in Venezuela kritisch gegenüberstehen.

 

Harald Neuber ist Journalist und Redakteur beim Lateinamerika-Portal amerika21. Der Text basiert auf Beiträgen des Internetportals.

"Es gebe mehrere Handlungsvarianten, sagte Trump vor Pressevertretern in New Jersey, `darunter eine militärische Option, falls nötig´".