Behindertengerecht ist menschengerecht

Die UN-Behindertenrechtskonvention in Lateinamerika

Die Vereinten Nationen schufen die UN-Behindertenrechtskonvention, um den weltweiten Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen gegenüber Menschen mit Behinderungen entgegenzutreten. Sie ist ein universelles Rechtsinstrument, das soziale Standards definiert, an denen sich die Vertragsstaaten messen lassen müssen. Ziele sind: Teilhabe, Selbstbestimmung und uneingeschränkte Gleichstellung.

von Gunda Wienke

In leichter Sprache lautet der erste Satz des “Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen: „Jeder Mensch hat Rechte. Zum Beispiel das Recht, dass er gut behandelt wird. Allen Menschen soll es gut gehen. Darüber gibt es viele Regeln und Gesetze in Europa und der ganzen Welt. Diese Regeln und Gesetze sind auch für Menschen mit Behinderung.“

 

Die Konvention entstand in einem mehrjährigen Prozess unter maßgeblicher Beteiligung von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen. Damit der Text völkerrechtlich in Kraft treten und national verbindlich werden konnte, war es nötig, dass zwanzig Mitgliedstaaten ihn beschließen. Mit der Ratifizierung seitens Ecuadors trat die Konvention am 3. Mai 2008 in Kraft. Mittlerweile haben viele Länder die Konvention ratifiziert. Die südamerikanischen Staaten und Kuba gehörten mit zu den frühesten Unterzeichnern der Konvention. Am 29. März 2017 ratifizierte Suriname die Konvention, einzig die Karibikinsel Santa Lucia ist weiterhin außen vor.

 

Ziel: Inklusion

 

Mit der Ratifizierung geht die Pflicht einher, Menschen mit Behinderungen besser zu unterstützen. Ziel ist eine Gesellschaft, an der alle gleichberechtigt teilhaben können. Nicht bloß integrieren, sondern inkludieren: Inklusion statt Integration. Alle sollen dazu gehören. Verschieden zu sein ist völlig normal und wünschenswert.

 

Es gibt keine Norm für das Menschsein. Es gibt taube und blinde Menschen, Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderungen, aber es gibt auch Menschen ohne Humor, ohne Empathie, unsoziale, gewalttätige Menschen. Wer sagt, was „Behinderung“ ist? Welcher Maßstab gilt? Der unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft, wo rationale und motorische Fähigkeiten im Vordergrund stehen und der Mensch nach seiner Leistungskraft im Produktionsprozess beurteilt wird? Ist dieser Maßstab nicht höchst fragwürdig und ist es nicht genau die Aufgabe der Gesellschaft, das zu hinterfragen?

 

Eine Behinderung nicht mehr abwerten, sondern als Verschiedenheit begreifen. Eine Verschiedenheit, die angenommen und gelebt werden will; nicht ausgegrenzt, benachteiligt, bestraft. Es ist Aufgabe der Gesellschaft diese Benachteiligung zu überwinden. Und die Barrieren, die der gleichberechtigten Teilhabe im Wege stehen zu beseitigen. Ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass alle Menschen gleiche und unveräußerliche Rechte haben.

 

Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in

Lateinamerika

 

Armut ist eine wichtige Ursache für Behinderungen in Lateinamerika. Am stärksten betroffenen sind Frauen und Kinder. Ein großes Problem für die Akzeptanz von Behinderung ist die starke Religiosität. Die Geburt eines Kindes mit Behinderung wird von der Familie und in der Gesellschaft häufig noch als Strafe Gottes gesehen (dabei spielt die Mangelernährung der werdenden Mutter eine viel größere Rolle) und als Schande erlebt. Die Kinder wachsen in einer Umwelt auf, die sie ablehnt. Vorurteile und Diskriminierung sind an der Tagesordnung.

 

In Brasilien fordern Fachleute, die sich mit Inklusiver Pädagogik befassen, der sozialen Dimension der Barrierefreiheit größeren Stellenwert einzuräumen. Barrierefreiheit meint nicht nur das Bauen von Rampen und Mitnahme von Rollstühlen in öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern auch das Schaffen sozialer Gleichheit. Das professionelle Hilfesystem für Menschen mit Behinderung, das integrieren sollte, bewirkte oft Gegenteiliges: Exklusion durch Segregation in Schulen, Kliniken und Heimen.

 

Erschwerend hinzu kommt, dass die fortschreitende Ökonomisierung der Sozialleistungen - Privatisierung des Erziehungs-, Sozial- und Gesundheitswesens - die Probleme der Menschen mit Behinderung und Armer weiter vergrößert.

 

Das ist nicht nur in Brasilien so, sondern trifft auch auf weite Teile anderer südamerikanischer Länder zu. Die argentinische Philosophieprofessorin Nadia Heredia, die seit einer Hirnlähmung mit 13 Jahren im Rollstuhl sitzt, sagt: „An die Universität zu kommen ist für alle schwierig, für Menschen mit Behinderung noch schwieriger. Heutzutage ist das Thema Exklusion ein großes Problem im Bildungsbereich. Da werden dann Studierende mit Behinderung zu einer einfachen Zielscheibe, weil man sie allein schon durch den Straßenverkehr viel direkter ausgrenzen kann“.

 

Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit

 

In Costa Rica wurde schon vor über zwanzig Jahren ein Gesetz erlassen, dass die Rechte von Menschen mit Behinderungen definiert. Mittlerweile wurde die UN-Behindertenrechtskonvention in nationales Recht überführt, aber das Leben von Menschen mit Behinderungen hat sich kaum gebessert, da die Gesetze selten in die Praxis umgesetzt werden.

 

Auf dem Papier ist die Inklusion von Menschen mit Behinderung beschlossene Sache. In der Realität jedoch kaum. In Bolivien hat man daher einen Fonds für Menschen mit Behinderung eingerichtet. 40 Millionen Bolivianos stehen dort jährlich für Maßnahmen zur Verfügung und auch eine Rente von 1.000 Bolivianos im Jahr. „Viel zu wenig, das sind 2,70 Bolivianos am Tag“ moniert Alex Vasquez, der in Bolivien für eine „Rente der Würde“ streitet. Er fügt hinzu: „Viele Menschen mit Behinderung sind vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und benötigen daher einen höheren Betrag“.

 

Es gibt aber auch viele positive Beispiele und Entwicklungen. Ein großer Wurf, der die Bedingungen schlagartig verbessert, ist nirgendwo in Sicht, aber Schritt für Schritt sind Verbesserungen sichtbar. Barrieren werden abgebaut. Dafür ist die UN-Behindertenrechtskonvention ein Meilenstein, denn sie dient als Leitbild und rechtliche Referenz, um allen Menschen ein selbstbestimmtes, gerechtes und würdevolles Leben zu ermöglichen.

 

Gunda Wienke ist Redakteurin bei matices.

 

 

 

„Es gibt keine Norm für das Menschsein.“

„Es ist Aufgabe der Gesellschaft diese Benachteiligungzu überwinden. Und die Barrieren, die der gleichberechtigtenTeilhabe im Wege stehen zu beseitigen.“