Auf der Reise in den amerikanischen Traum?

Kindermigration in Lateinamerika

Im Jahr 2014 waren 50.000 Kinder an der Grenze zwischen den USA und Mexiko unterwegs. Der US-Staat nahm dies zum Anlass für eine neue Grenzpolitik. Die Kinder werden von ihren Eltern geschickt, über tausende Kilometer hinweg. Sie flüchten vor Gewalt und Armut und werden dann zu Opfern von Maras und Menschenhändlern. Doch sind die Kinder nur Opfer der Verhältnisse oder nicht auch starke Akteure auf dem Weg in eine neue Zukunft der Migrationsgesellschaften?

 von Cornelia Giebeler

Der Güterzug, der sich von der Südgrenze Mexikos bis zur Nordgrenze zu den USA durch die Weiten Mexikos schlängelt, wird auch „La Bestia“ („Die Bestie“) genannt. Drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, reisen in dem Film „Sin Nombre“ („Ohne Name“) auf diesem Zug, der für sie die Reise in die Zukunft bedeutet. Von den Dreien „schafft“ es schließlich das Mädchen den Río Bravo, den Grenzfluss zwischen Mexiko und den USA, zu überqueren und kann nach dem langen Weg die auswendig gelernte Telefonnummer eines Verwandten in den USA anrufen - mit Erfolg. Davor liegen viele traumatisierende Erfahrungen, welche die Kinder auf der Reise in eine ersehnte  bessere Welt durchleben.

 

Der Spielfilm spiegelt in vielerlei Hinsicht die Realität von Kindernmigranten in Lateinamerika wider. Er zeigt, wie diese unter den Bedingungen ihrer Reise zu anderen Menschen werden oder auch sterben. Aber der Film berührt auch durch seine Darstellung von Kindern, die ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Dabei sind sie eben nicht nur Opfer der Verhältnisse, sondern vor allem Akteure ihrer eigenen Reise. Sie bleiben Kinder und schlagen mit Stärke und Mut einen selbstgewählten Weg hin zu ihrem ganz persönlichen amerikanischen Traum ein.

 

Kindermigration und die „humanitäre Krise“ Amerikas 

 

Angeblich handelt es sich um bis zu 52.000 Kinder bzw. Minderjährige (die internationale Definition von „Kind“ reicht bis zum 18. Lebensjahr), die im Jahr 2014 an der Grenze bei der Einreise in die USA festgenommen wurden. Nach Medienaussagen habe sich diese Zahl im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Dieser weltweit publizierten und skandalisierten „humanitären Krise“ wurde nicht unbedingt mit humanitären Mitteln begegnet. Vielmehr ging es US-Präsident Obama darum, die Anzahl der Kindermigranten zu begrenzen, im Vorfeld ihrer Ankunft bereits an der Grenze abzufangen, um damit der humanitären Aufgabe genüge zu leisten. Obama erklärte am 2. Juni 2014, dass dieser humanitären Krise durch die Bereitstellung von Geldern für die Versorgung der Kinder und für ihre Rückführung in die Herkunftsländer begegnet werden solle. Dies war aber schon immer Aufgabe der Grenzbehörden, welche die Kinder über verschiedene Nichtregierungsorganisationen erstversorgt und dann zurückgeschickt haben. Häufig wurden sie aber nicht, wie es die Vorgaben verlangen, in ihr Heimatland, sondern in eine Region Mexikos geschickt, von wo aus die Kinder den Weg dann wieder von vorn einschlagen oder eine Alternative suchen. 

 

Ursachen für den rasanten Anstieg von Kindermigration

 

In der öffentlichen Berichterstattung über den rasanten Anstieg von Kindermigration lassen sich mehrere Argumentationsstränge erkennen. Die Gewalt- und Armutsverhältnisse in den Herkunftsländern Zentralamerikas seien angestiegen, vor allem in Honduras aber auch in El Salvador. Außerdem seien Kinder erfolgreicher auf ihrem Weg in die USA, da sie durch humanitäre Hilfe eher unterstützt würden. Daher würden Familien ihre Kinder in eine bessere Zukunft entsenden und nicht mehr die Väter oder Mütter ihre Herkunftsorte verlassen. Zudem begäben sich Kinder auf den Weg in die USA, um ihren Eltern zu folgen, die bereits dort leben. All diese Aussagen treffen allerdings auch für die Jahre vor der Entdeckung der humanitären Krise der Kindermigration an der Nordgrenze Mexikos zu und ihre Argumentationskraft wird von anderen Seiten bezweifelt. Die Entdeckung der Kindermigration fällt demnach zeitlich mit der Verschärfung der Grenzbestimmungen im Süden Mexikos zusammen. Diese Verschärfung wurde durch den mexikanischen Staat im sogenannten Plan Sur festgesetzt – eine neue Migrationspolitik, die vor allem im Süden Mexikos greift und dafür sorgt, dass die Menschen noch weniger unbehelligt reisen können. Obama stehe laut öffentlichen Angaben politisch massiv unter Druck und verschärfe daher die Grenzpolitik. Die US-amerikanische „Mérida-Initiative“ überprüft unter dem Stichwort „Grenzsicherheit“ vermehrt die Grenzübergänge im Süden Mexikos. Letztendlich wird das Verbot, „die Bestie“ von Migranten benutzen zu lassen, verschärft und somit fast unmöglich gemacht.

 

Die Umsetzung der Pläne ist schnell erfolgt. Bereits gegen Ende 2014 und Anfang 2015 wurden die Kontrollen im Süden, die unterbinden sollen, dass der Zug bestiegen wird, um auf ihm nach Norden zu reisen, umgesetzt. Die Geschwindigkeit des Zuges wurde erhöht, um zu verhindern, dass die mehrheitlich jugendlichen Fahrer sich auf dem Zug halten können. So reisen die Migranten neuerlich zu Fuß. Damit sind sie nochmals mehr den Überfällen der Banden ausgesetzt und werden ausgeraubt, verschleppt, verkauft. Allein eine erfolgreiche Anzeige wegen Gewalthandlungen auf mexikanischem Gebiet ermöglicht den Reisenden, und vor allem auch den Kindern, eine Aufenthaltsberechtigung in Mexiko. Dort werden sie vielleicht ein besseres Leben als in ihren Herkunftsländern Mittelamerikas haben – zumindest auf Zeit.  

 

Was bedeuten diese Entwicklungen für die Kindermigranten?

 

Wenn, wie in dem Film „Sin Nombre“ konstruiert, die Kinder auf der Reise mit traumatisierenden Erfahrungen konfrontiert werden und dennoch 52.000 in nur einem Jahr die Grenze der USA erreichen, wie viele bleiben dann unbekannt und unerkannt? Wie viele werden vom Menschenhandel aufgegriffen und als Arbeitskräfte für die Landwirtschaft im Süden Mexikos verkauft? Wie viele der Kinder und Jugendliche landen in der Prostitution und füllen weiterhin die Statistiken der Frauenmorde, die, wie in Ciudad Juárez erstmalig massenhaft entdeckt, zur Entsorgung von Frauen führen, die dem mörderischen Machismo Mexikos zum Opfer fallen, vor allem dann, wenn sie ungeschützt und allein ihrer Wege gehen. Dies trifft für niemanden so sehr zu wie für Migranten. Ist die von Obama konstatierte „humanitäre Krise“ der Kindermigration nicht vielleicht eine Ablenkung von der permanenten humanitären Krise aller Migranten Lateinamerikas und auch all derer, die mittlerweile aus den verschiedenen Regionen Afrikas den Weg über Brasilien und durch die Amerikas in dessen Norden wagen?

 

Wenn angesichts all der Mühen des Weges, der Gefahren und potentiell traumatisierenden Erfahrungen wirklich 52.000 Kinder in einem Jahr die Nordgrenze Mexikos erreichen, spricht dies vielmehr für deren Stärke, Resilienz und Überlebensfähigkeit. Es spricht dafür, dass Erfahrungen und Eigenschaften auf der Flucht und in der Migration erworben wurden, die von unschätzbarem Wert sind und die helfen werden, die Welt neu zu gestalten. Allerdings brauchen diese Kinder Unterstützung von Menschenrechts- und Kinderrechtsorganisationen, die ihnen auf der Reise weiterhelfen und die ihre subjektiven Erfahrungen zur Grundlage der Hilfsangebote machen. Das allerdings will Mexiko zunehmend verhindern, indem Hilfsorganisationen kontrolliert, kriminalisiert und ihnen die Basis ihrer Arbeit entzogen wird. Dies wurde unter anderem beim Ständigen Tribunal der Völker „Kapitel Mexiko“ angeklagt und nach dreijähriger Dokumentation von Einzelfällen ausgiebig diskutiert und vom Internationalen Gerichtshof als Menschenrechtsverletzung bewertet. Denn durch die Hilfsorganisationen werden Kinder begleitet und unterstützt, um ihren persönlichen amerikanischen Traum zu erreichen.

 

Cornelia Giebeler arbeitet als Professorin an der FH Bielefeld mit dem Schwerpunkt Lateinamerika - Global Social Work, Kindheit, Migration, Indigenität und Gender. Sie hat am Ständigen Tribunal der Völker Kapitel Mexiko teilgenommen, war Mitgründerin von NGOs in Lateinamerika und arbeitet aktuell zu Kinder- und Frauenmigration durch Mexiko und zum Verhältnis von „Buen Vivir“, Gender und Indigenität in andinen Ländern.

 

„Wenn angesichts all der Mühen des Weges, der Gefahren und potentiell traumatisierenden Erfahrungen wirklich 52.000 Kinder in einem Jahr die Nordgrenze Mexikos erreichen, spricht dies vielmehr für deren Stärke, Resilienz und Überlebensfähigkeit.“