Aber dennoch…

Bilanz nach fünf Jahren UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen

Im Dezember 2010 trat das Internationale Übereinkommen zum Schutz von Personen vor dem Verschwindenlassen in Kraft. Über 200 Eilverfahren wurden seitdem eingeleitet. Doch die Möglichkeit der Individualbeschwerde wird von vielen lateinamerikanischen Regierungen nicht anerkannt. Menschenrechtsverletzungen werden vielerorts nicht bestraft. Bei der internationalen Tagung „Gewaltsames Verschwindenlassen – Verbrechen mit System“ in der Akademie Bad Boll, ausgerichtet von der deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko, sprach matices mit dem Ausschussmitglied Rainer Huhle.

Interview von Katharina Mauz 

Im Dezember 2010 trat das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen in Kraft. Wie kam es zur Gründung dieses Ausschusses und welche vorausgehenden Ereignisse waren dafür ausschlaggebend?

 

Auf internationaler Ebene lässt sich die Geschichte des Verschwindenlassens in Lateinamerika, insbesondere in Chile und Argentinien, bis in die 1970er Jahre zurückzuverfolgen. Die vielseitigen Aktivitäten und mutigen Proteste der Familienangehörigen der Verschwundenen und ihrer Organisationen hatten große Auswirkungen auf das lateinamerikanische Menschenrechtsschutzsystem und auf die UNO. Erwähnenswert ist besonders der Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission in Argentinien, und das noch während der Diktatur. Und bei der UNO wurde ein erster Sonderberichterstatter für die Menschenrechtssituation in Chile ernannt. Er hat sich um die Problematik der Verschwundenen gekümmert, und daraus ist dann ein Mandat für das Problem des Verschwindenlassens weltweit entstanden. Aus einem Sonderberichterstatter wurde schließlich 1980 eine fünfköpfige Arbeitsgruppe, die es gemeinsam mit lateinamerikanischen Familienangehörigenorganisationen auch schaffte, eine Resolution und schließlich die Erklärung der Generalversammlung gegen das Verschwindenlassen anzustoßen.

 

Doch die Angehörigenorganisationen wollten mehr als eine Erklärung, nämlich eine verbindliche Konvention. Ab 2003 arbeitete die UN-Menschenrechtskommission an einem Entwurf für eine Konvention – vor allem Argentinien und Frankreich waren dabei treibende Kräfte. 2006 wurde die Konvention von der Generalversammlung beschlossen, 2010 trat sie in Kraft. Zu Beginn wurde sie von 20 Staaten ratifiziert, heute sind es 51.

 

Familienangehörigen der Opfer verschafft die Konvention ein Informations- und Entschädigungsrecht. Auch die Individualbeschwerde ist in manchen Ländern möglich. Was steckt dahinter?

 

Durch Artikel 30 und 31 der Konvention haben Opfer und ihre Angehörigen die Möglichkeit, sich an den Ausschuss zu wenden. Die beiden Artikel meinen aber ganz unterschiedliche Dinge. Artikel 30 spricht von Eilverfahren, so genannten urgent actions. Aktuell verschwundene Personen können dem Ausschuss gemeldet werden, der wiederum den Staat auffordert, alles dafür zu tun, die Person wiederzufinden. Diese Möglichkeit steht jedem Opfer und jedem Familienangehörigen in den Mitgliedsstaaten zur Verfügung. Ein Beweis ist nicht notwendig, lediglich ein plausibler Verdacht. Von diesen urgent actions hat der Ausschuss bereits weit über 200 bearbeitet.

 

Beim Artikel 31 geht es um etwas ganz anderes, nämlich um jede mögliche Verletzung der Konvention. Diese hat zahlreiche Artikel, welche die Rechte der Opfer schützen und den Staaten entsprechende Pflichten auferlegen. Dazu gehören: das Recht auf Wahrheit, die damit verbunden Auskunftsrechte, der Anspruch, dass die Schuldigen ermittelt und bestraft werden, das Recht auf Entschädigung und vieles mehr.

 

Alle diese garantiert die Konvention, und der Staat muss sich daran halten.

 

Wenn ein Bürger der Mitgliedsstaaten sich in seinen Rechten verletzt fühlt, muss er zunächst den nationalen Rechtsweg einschlagen. Und nur wenn dieser Weg zu nichts führt oder wenn die Justiz nicht vernünftig arbeitet, dann kann man sich an den Ausschuss wenden, und dann fällt der Ausschuss eine Entscheidung darüber, ob tatsächlich eine Konventionsverletzung stattgefunden hat. Dieses Verfahren kann relativ lange dauern. Es ist quasi ein Gerichtsverfahren, bei dem beide Seiten gründlich angehört werden müssen. Es kann nur in Gang kommen, wenn der Staat eine eigene Erklärung abgegeben hat, dass er dieses Verfahren grundsätzlich anerkennt. Diesen Artikel 31 haben außerhalb von Europa erst wenige Staaten anerkannt.

 

Vor dem Hintergrund, dass fast alle lateinamerikanischen Regierungen diesen Artikel 31 nicht anerkannt haben: Wie sehen Sie die Stellung der Konvention in Ländern wie Mexiko oder Kolumbien?

 

Es ist sehr bedauerlich, dass die Staaten den Artikel 31 und das Verfahren zur Individualbeschwerde nicht anerkennen, aber es ist nur ein Element in der Konvention. Und es bedeutet nicht, dass die Konvention weniger bindend wäre. Der Ausschuss hat noch andere Möglichkeiten, die Staaten auf ihre Verpflichtungen hinzuweisen: das Staatenberichtsverfahren und einige Zeit später ein follow-up.

Nur weil einige Staaten den Artikel 31 nicht anerkannt haben, heißt das nicht, dass die gesamte Konvention nicht bindend ist für diese Staaten.

 

Im Februar 2016 wird Mexiko dem Ausschuss darüber berichten, was es mit drei der vielen Empfehlungen des Ausschuss an Mexiko in diesem Jahr gemacht hat. Was erwarten Sie davon?

 

Das ist normalerweise nur ein schriftliches Verfahren. Mexiko liefert einen schriftlichen Bericht ab, der Ausschuss schaut sich den an, prüft, und gibt dann eine schriftliche Antwort. Diese kann zustimmend ausfallen, es kann Kritik geäußert werden, und es können Nachbesserungen gefordert werden.

 

Stattfinden kann das im Rahmen einer Konferenz oder schlicht im Austausch von schriftlichen Dokumenten – das hängt ganz von den mexikanischen Behörden ab.

 

In Mexiko ist ein zentrales Hindernis für die Verbesserung der Menschenrechtssituation die herrschende Straflosigkeit. Wie sieht die Situation in anderen lateinamerikanischen Ländern aus?

 

Straflosigkeit gilt nicht nur für das Verschwindenlassen, sondern auch für die meisten schweren Menschenrechtsverletzungen. Das ist ein Strukturproblem in zahlreichen lateinamerikanischen Ländern. Der Ausschuss wird die Straflosigkeit des Verschwindenlassens in jedem Land prüfen und entsprechend thematisieren.

 

Der Politikwissenschaftler Dr. Rainer Huhle ist Mitglied des UN-Ausschusses gegen das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen, im Vorstand des Nürnberger Menschenrechtszentrum e.V. und Kuratoriumsmitglied des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Von 1997-1999 arbeitete er im Büro des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte in Kolumbien. Er hat zahlreiche Publikationen zu Menschenrechtsfragen, Erinnerungskultur und zur Politik und Kultur Lateinamerikas veröffentlicht.