Der lange Schatten der Militärdiktatur Brasiliens Umgang mit der Vergangenheit

von Mareike Bödefeld

50.000 Inhaftierte, 100.000 im Exil, 4.862 ohne politisches Mandat, 245 Studierende von der

Universität verwiesen - das ist die Bilanz aus 21 Jahren Militärdiktatur in Brasilien. Wie ist das

Land mit seiner Vergangenheit umgegangen und wie steht es heute dazu?

 

Widerstand gegen die Diktatur

Auch 35 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur ist die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in Brasilien nicht abgeschlossen. Im Vergleich zu anderen Staaten Lateinamerikas hat die brasilianische Diktatur mit 21 Jahren am längsten gedauert, von 1964 bis 1985. Zugehörige der Arbeiter*innenklasse, die ehemalige Präsidenten Brasiliens Juscelino Kubitschek und João Goulart, sowie Intellektuelle

und Künstler*innen formten die Widerstandsbewegungen, beispielsweise durch kritische Sambalieder. Die militärischen Machthaber*innen versuchten, den Widerstand durch verschiedene institutionelle Akte so klein wie möglich zu halten. So wurde der Opposition zum Beispiel nur gestattet, eine einzige Partei zu bilden. Viele der am Widerstand beteiligten Akteur*innen wurden in Brasilien zu Opfern des erzwungenen Verschwindenlassens. Sie wurden inhaftiert und gefoltert. Ein Großteil ist bis heute nicht gefunden worden. Insbesondere durch die Regierungszeit von Präsident Emílio Garrastazú Médici, zwischen 1969 und 1974, während der mindestens 170 Oppositionelle verschwanden, begannen schließlich die moderater ausgerichteten Teile des Militärs, sich für einen demokratischen Öffnungsprozess einzusetzen.

 

Die Militärdiktatur musste sich einem immer stärkeren, zivilgesellschaftlichen Widerstand entgegenstellen. Auch die damalige Oppositionspartei Movimento Democrático Brasileiro konnte politische Erfolge erzielen, vor allem auf kommunaler

Ebene. Im demokratischen Öffnungsprozess, den die Präsidenten Ernesto Geisel (1974-1979) und João Figueiredo (1979-1985) umsetzten, versuchten die militärischen Akteure dennoch, möglichst viel Autonomie beizubehalten.

 

Ein nur schleppender Aufarbeitungsprozess

Der Aufarbeitungsprozess in Brasilien ist maßgeblich durch das Amnestiegesetz von 1979 geprägt: Alle Militärangehörige, die Teil der Repressionsstrukturen waren, erhielten Straffreiheit. Politische Gefangene, die sich aktiv am bewaffneten Kampf beteiligt hatten, wurden hingegen verurteilt. Denn während die Taten der Opposition im Amnestiegesetz konkret beschrieben wurden, blieben die Taten des Militärs und ihrer Agenten nur sehr vage formuliert. Folter, als vorgeworfene Straftat, wurde vertuscht.

Die unter der Militärdiktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen sind durch das zivilgesellschaftliche Projekt Brasil: Nunca Mais im Jahr 1985 erstmals auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Die ersten demokratischen Regierungen Brasiliens demonstrierten jedoch nur wenig Willen, einen offiziellen Aufarbeitungsprozess voranzutreiben. Erst 1995 kam die erste Kommission zustande. Der brasilianische Staat widmete sich in drei Kommissionen der Aufarbeitung der Militärdiktatur. Die sogenannte Spezialkommission wurde im Jahr 1995 eingesetzt. In dieser konzentrierte man sich auf die Aufarbeitung der Fälle, bei denen Ermordungen und gewaltsames Verschwindenlassen aus politischen Gründen stattgefunden hatten. Diese Kommission hatte drei Ziele: jeden Fall formal anzuerkennen, Entschädigungsleistungen zu genehmigen und die sterblichen Überreste zu suchen. Vielfach kritisiert an dieser Kommission wurde, dass die Zivilgesellschaft Beweise vorlegen musste und sich die gezahlten Entschädigungsleistungen nach dem Status der Opfer richteten. Akademiker*innen erhielten beispielsweise mehr Entschädigungszahlungen als Nicht-Akademiker*innen, obwohl beide Gruppen Folter erlitten hatten. Das System wurde aufrechterhalten da man bei Kritik eine Aufhebung fürchtete. Durch diese Praxis wurden bestehende Ungerechtigkeiten weiter verstärkt.

Die Amnestie-Kommission aus dem Jahr 2002 hatte das Ziel, zu bewerten und zu dokumentieren, wer Opfer der Militärdiktatur war und sollte Entscheidungen über Entschädigungsanträge fällen. Die Zielgruppe bildeten Brasilianer*innen, die ins Exil gegangen waren, ihre politischen Ämter aufgeben oder ihre universitäre Ausbildung unterbrechen mussten.

Schließlich ist es die Aufgabe der erst 2012 errichteten Wahrheitskommission, das Geschehene historisch aufzuarbeiten, indem sie über die Menschenrechtsverbrechen aufklärt. Die Kommission hatte von Anfang an mit Differenzen hinsichtlich ihrer Ausrichtung zu kämpfen. Ein Teil der Kommissar*innen war sich beispielsweise unsicher, ob zivilgesellschaftliche Akteur*innen aktiv in die Arbeit der Wahrheitskommission eingebunden werden sollten. Die Wahrheitskommission spricht von einer „systematischen Begehung von Menschenrechtsverletzungen“

und fordert erstmals in ihrer Funktion als staatliche Institution, eine strafrechtliche Verfolgung der Täter*innen. Ihr Mandat beinhaltete jedoch keine Strafverfolgung, sondern lediglich die historische Aufarbeitung. Eine juristische Aufarbeitung, die von den Opfern stets gefordert wurde und wird, ist vom brasilianischen Staat bis heute nicht umgesetzt worden.

 

 

 

(c) Mareike Bödefeld
(c) Mareike Bödefeld

 

Ein Jahr nach dem Tod der Stadträtin Marielle Franco fordern die Menschen auf einer Demonstration in Rio de Janeiro Gerechtigkeit. Marielle Franco hat sich für die marginalisierte Bevölkerung sowie für die Aufarbeitung von Polizeigewalt in den Favelas von Rio de Janeiro eingesetzt. 

Zivilgesellschaftlicher Widerstand besteht fort

Verschiedene zivilgesellschaftliche Akteur*innen setzen sich seit 1985 unaufhörlich für eine Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen ein. Die Grupo Tortura Nunca Mais war beispielsweise die erste Organisation, welche die Leichen gerichtsmedizinisch untersuchte und die Opfer psychologisch betreute.

Sie setzten sich auch für die Be- und Umbenennung von Straßen, Plätzen und Schulen ein, um den Widerstandskämpfer*innen sowie den heutigen Aktivist*innen zu gedenken und die Präsenz der Folterer im öffentlichen Leben zu verringern. Die Bewegung Levante Popular da Juventude forderten eine Reform des Amnestiegesetzes, da es für den Tatbestand Folter keine

Amnestie geben sollte. An die Hauswand des Folterers von Brasiliens Ex-Präsidentin Dilma Rousseff haben Mitglieder unter anderem „Dilma‘s torturer lives here“ geschrieben. Ehemalige Gefängnisse werden vielerorts in kulturschaffende Institutionen umgewandelt.

Mit dem Ende der Militärdiktatur haben die Menschenrechtsverletzungen im Land nicht aufgehört. Vielmehr ist die Demokratie in Brasilien gefährdeter denn je. Der derzeitigePräsident Jair Messias Bolsonaro spricht sich öffentlich für Folter aus und verherrlicht die Militärdiktatur. Der Erwerb von Schusswaffen ist seit seinem Amtsantritt erheblich erleichtert worden. Die Polizeigewalt in den Favelas ist erschreckend angestiegen. In Folge der Präsidentschaft Bolsonaros haben die in Brasilien fortbestehenden Menschenrechtsverletzungen verstärkte weltweite Aufmerksamkeit bekommen.

Der Widerstand sowie der Einsatz für die Einhaltung der Menschenrechte besteht fort. Eine Aktivistin des Theaters der Unterdrückten in Rio de Janeiro erklärt, was Widerstand für sie bedeutet: 

„Widerstand ist, weiter für Rechte zu kämpfen. Es geht darum, das Haus zu verlassen und darüber nachzudenken, wo und wie ich zur Arbeit kommen werde, zu wissen, dass ich irgendeine Art von verbaler, physischer oder psychischer Gewalt durchlaufen werde. […] Es ist diese Erkenntnis, gemeinsam zu suchen, weiter zu schaffen, Barrieren zu überwinden, Träume zu verwirklichen, zu lächeln, das Leben zu feiern und jeden Tag auf der Straße für die Gesellschaft, die wir wollen, zu kämpfen.“

Aus Protest gegenüber der als intransparent empfundenen Wahrheitskommission, sind mittlerweile in ganz Brasilien lokale Wahrheitskommissionen entstanden. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen haben den brasilianischen Staat zudem beim Interamerikanischen Menschengerichtshof angeklagt. Brasilien ist von diesem für schuldig gesprochen worden. Es wurde angeordnet, dass der brasilianische Staat die Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur aufarbeiten müsse. Der brasilianischen Zivilgesellschaft gelang es in großem Stil aufzuzeigen, dass Folter strafrechtlich verfolgen werden muss.

 

Mareike Bödefeld ist Redakteurin bei matices.