Serigrafistas queer, Sandershaus,  Kassel 17. Juni 2022, Foto : Dirk Ufermann
Serigrafistas queer, Sandershaus, Kassel 17. Juni 2022, Foto : Dirk Ufermann

Más Arte - más acción.

LATEINAMERIKANISCHE PERSPEKTIVEN AUF DER DOCUMENTA FIFTEEN

von Dirk Ufermann


documenta fifteen:  Instituto de Artivismo Hannah Arendt  (INSTAR), INSTAR archive, List of censored Artists, 2022, Installationsansicht, documenta Halle, Kassel, 12. Juni 2022, Foto: Nicolas Wefers
documenta fifteen: Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR), INSTAR archive, List of censored Artists, 2022, Installationsansicht, documenta Halle, Kassel, 12. Juni 2022, Foto: Nicolas Wefers

Die Vorgeschichte

 

Die letzte Ausgabe der documenta endete 2017 trotz des großen Erfolgs beim Publikum mit einem gewissen Unbehagen gegenüber der Struktur einer der weltweit größten Kunstausstellungen. Die Kritik richtete sich ganz allgemein gegen den Jet Set Kunstbetrieb mit seinem immergleichen gehypten Personal, besonders aber zielte sie gegen die Allmachtsposition des inhaltlich vollständig (eigen-) verantwortlichen Kurators - damals Adam Szymczyk, der heute die Position eines ‚Curator at Large‘ am Stedelijk Museum in Amsterdam innehat. Das (ungerechte) Schmähwort von der ‚Kuratorenkunst‘ machte die Runde, bezogen auf Werke, die von Künstler*innen zuerst für Zwecke von Großausstellungen produziert werden. ‚Schafft die Kuratoren ab‘ hieß es in auflagenstarken deutschen Medien, Kuratieren sei undemokratisch, autoritär und korrupt. Trotz vieler positiver Ausnahmen unter den verschiedenen Leitungen der Kasseler Ausstellung in den letzten beiden Dekaden störte weiterhin die Zentrierung auf den westlichen, europäisch-amerikanischen Blick. Ein intransparentes Finanzgebaren, das die documenta-Gesellschafter 2017 mit dem Defizit von 7,6 Mio € zurückließ, sorgte für weitere negative Schlagzeilen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Entscheidung der international besetzten Findungskommission für die 15. documenta - Museumsdirektor*innen aus Amsterdam, Barcelona, Eindhoven, London, Pretoria, Sấo Paulo, Singapur sowie der Rektor der Städelschule in Frankfurt und der Künstler und Filmemacher Amar Kanwar aus Neu-Delhi - Anfang 2019 so folgerichtig wie konsequent. Sie wählten einstimmig das 10 köpfige indonesische Kollektiv ruangrupa zur künstlerischen Leitung. Ausschlaggebend für die Nominierung ist einerseits die dezentrale, horizontale, kollektive und hierarchiefreie Ausrichtung der Organisations- und Entscheidungsprozesse, andererseits ruangrupas jahrelange Erfahrung in der Ausrichtung von Ausstellungen, Biennalen und Festivals weltweit.

documenta fifteen:  Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR), Espacio Aglutinador, 2022, Installationsansicht,  Documenta Halle, Kassel, 12. Juni 2022,  Foto:Nicolas Wefers
documenta fifteen: Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR), Espacio Aglutinador, 2022, Installationsansicht, Documenta Halle, Kassel, 12. Juni 2022, Foto:Nicolas Wefers

ruangrupa

 

Das interdisziplinär ausgerichtete Kollektiv aus Künstler*- und Kurator*innen besteht seit 2000 und hat seinen Sitz in Jakarta. ruangrupa hat neben dem Grundprinzip der ‚Kollektivität auf der Grundlage von Solidarität und Freundschaft‘, genannt lumbung (zu dt. Reisscheune - ein Ort, wo die Überschüsse der eingebrachten Ernte gemeinsam verwaltet und verteilt werden) für seine Arbeit einen Wertekodex zugrunde gelegt, der auch als Basis für die documenta fifteen verbindlich ist: ‚Lokale Verankerung, Humor, Unabhängigkeit, Wechselseitigkeit, Großzügigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und Regeneration‘. Wie sich das Begriffsfeld auf die documenta auswirkt, beschreibt ruangrupa Mitglied Ade Darmawan so : „Unser kuratorischer Ansatz ist kein klassischer autoritärer Ansatz, der die volle Kontrolle über die Elemente der Arbeit bei der Schaffung der Ausstellung ausübt. Wir ziehen es vor, zusammenzuarbeiten. Die Künstler*innen sollen das weiterführen können, was Teil ihres bisherigen kreativen Prozesses war, um es dann in den Kasseler Kontext zu übersetzen – und zwar nicht auf extraktive, sondern auf regenerative Weise. 

Wir sind in einer ständigen Diskussion mit den Künstler*innen über ihre Ethik, Politik, ihre Prozesse und Arbeitsweisen. Oft laden unsere Kooperationspartner*innen weitere Partner*innen ein. Wir vertrauen bei diesem Prozess absolut auf unsere Partner*innen und dies kann zu Werken führen, die uns manchmal selbst überraschen. Entscheidungen werden gemeinsam in der Versammlung diskutiert und getroffen. In dieser Kollektivität liegt unser kuratorischer Ansatz, und im lumbung trägt das Kollektiv die Verantwortung.

Wir verstehen dies als ein politisches Unterfangen, bei dem kollektives Handeln, Entscheiden und Verwalten als Alternative zu autoritären Arbeitsformen fungieren. Es ist also eine Dezentralisierung der künstlerischen Leitung. Mit allen, mit denen wir zusammenarbeiten und die in diesem Prozess beteiligt sind, haben wir versucht, die Rolle der künstlerischen Leitung auf der documenta fifteen zu dezentralisieren.“

 

Más Arte Más Acción : MAMA.Doc.space., Kassel, 15. Juni 2022, Foto : Dirk Ufermann
Más Arte Más Acción : MAMA.Doc.space., Kassel, 15. Juni 2022, Foto : Dirk Ufermann

Die Struktur 

 

ruangrupa ergänzt zuerst die künstlerische Leitung um ein 5 köpfiges künstlerisches Team zur Erweiterung der Expertise und bestimmt 14 weitere künstlerische Kollektive zur Basis der Ausstellung, in der ruangrupa Terminologie die lumbung inter-lokal member. Später werden 53 lumbung-Künstler*innen eingeladen, wobei es sich um Einzelpersonen, Gruppen oder Plattformen handelt. Beiden lumbung Gruppen, die schwerpunktmäßig, jedoch nicht ausschließlich aus dem sogenannten ‘globalen Süden’ kommen, steht es frei, andere Beteiligte aus ihrem Umfeld, genannt ekosistem, einzuladen, was zum Zeitpunkt der Vernissage zu einem Teilnehmerkreis von rund 1500 Akteur*innen führt.

 

Dezentralität, Kollektivität, Großzügigkeit und Transparenz bestimmen auch die Budgetierung. Grosszügigkeit ist definiert ‘als Mittel gegen Wettbewerb, Rivalität und Knappheit – kapitalistische Werte, die die Gegenwart bestimmen’. Jedes lumbung inter-lokal member erhält laut Katalog ein Produktionsbudget für die Kasseler Phase von 180.000 € und einen Sockelbetrag von 25.000 € für vorbereitende Leistungen, lumbung-Künstler*innen analog 60.000 €  plus 10.000 € für Gruppen bzw. 5.000 € für Einzelpersonen. Kollektive wie Künstler*innen sind im Ausgabeverhalten eigenverantwortlich und frei, können zb. zusätzlich aus dem Budget Personen als weitere Akteur*innen einladen. Explizit ist das funding nicht darauf ausgerichtet, Werke zu produzieren, die documenta fifteen soll keine ‘Leistungsschau’ hochkarätiger Kunstwerke werden; Ziel soll vielmehr sein, die den Kollektiven und Künstler*innen eigenen Handlungsprozesse in der Ausstellung sichtbar werden zu lassen : ‘Wie könnt ihr das, was ihr tut, nach Kassel bringen?’ Weitere entscheidende Komponente des ruangrupa Konzepts ist die Vernetzung der Kollektive wie Einzelpersonen mit der lokalen Kasseler Szene, dem Kassel Ekosistem, ein inzwischen kleinteiliger und bunt zusammengesetzter Verbund von rund 100 Initiativen, Organisationen und Institutionen, vom Bund Deutscher Architekten, Sektion Hessen über die ‘Omas gegen Rechts’ und das ‘Kompost Kollektiv’ bis zu Universität, Staatstheater und Kunstakademie. Zeichensetzend für ruangrupa ist auch die Veröffentlichung der international mit Spannung erwarteten Künstlerliste im Oktober 2021 im Magazin Asphalt, herausgegeben von einer Obdachloseninitiative in Hannover.

documenta fifteen:  La Intermundial Holobiente, Signoteca, 2022, Installationsansicht, Komposthaufen (Karlsaue), Kassel, 14. Juni 2022, Foto: Nils Klinger
documenta fifteen: La Intermundial Holobiente, Signoteca, 2022, Installationsansicht, Komposthaufen (Karlsaue), Kassel, 14. Juni 2022, Foto: Nils Klinger

Die Ausstellung

 

Die documenta fifteen erstreckt sich über 32 Orte über die ganze Stadt hinweg. Neben Museen und Kultureinrichtungen, zahlreichen open air Spielstätten sind auch nicht mehr genutzte Industrieareale, ein leerstehendes Kaufhaus oder das atmosphärisch ganz wunderbare, renovierungsbedürftige Hotel Hessenland mit vergleichsweise geringen, aber zielgerichtet und wirkungsvoll eingesetzten Mitteln in großzügige Ausstellungsorte verwandelt worden. Die Ausstellungsarchitektur ist dabei exzellent, jedes Projekt, jedes Werk bekommt genau den Raum in dem qualitativen Zuschnitt, den es benötigt. Der Charakter der Schau ist insgesamt offen, kein Museumsstil mit Blackboxes für Projektionen oder sterilen white cubes. Viel Raum wird auch Ruhezonen und Diskussionsbereichen gewährt. ruangrupa setzt dabei strikt auf wiederverwertbare, recyclebare Materialien. 

 

Will man das Prozesshafte von Kunst, Kultur, oft in Kombination mit Engagement und Aktivismus ausstellen, hat das unmittelbare Folgen für das Format : Neben traditionellen Gattungen wie Fotografie, Grafik, Malerei, Skulptur, politische Banner und Wandzeitungen dominieren zeitbasierte Medien wie Installationen, Video und Film, viel nur temporär in screenings zu sehen, sowie ein breites Angebot ephemerer Formate wie lectures, workshops oder walks. Auch finden sich ganz untypische Aktivitäten wie Gärtnern, Ernten, Kochen und Essen zb. beim Britto Arts Trust aus Dhaka : 100 Esskulturen von 100 Nationen an 100 Tagen. Nach Kassel gebracht wurden auch ganze Archive, darunter das der Algerischen Frauenbewegung, Archives des luttes des femmes en Algérie, The Black Archives aus Amsterdam oder das Asia Art Archive aus Hongkong. Viele der Beteiligten werden sich während der Ausstellungsdauer in Kassel aufhalten, Rahmenprogramme gestalten und die Ausstellung weiter verändern. 

Más Arte Más Acción :  MAMA.Doc.space., Kassel,  15. Juni 2022, Foto : Dirk Ufermann
Más Arte Más Acción : MAMA.Doc.space., Kassel, 15. Juni 2022, Foto : Dirk Ufermann

 

Lateinamerika

 

Aus Lateinamerika sind zwei Kollektive - lumbung inter-lokal-member und vier Einzelkünstler*innen eingeladen. Más arte más acción (MAMA) aus Chocó in Kolumbien hat sein Aktionsfeld in der Karlsaue gefunden, einem ausgedehnten Park am Ufer der Fulda. MAMA arbeitet seit 2011 an der kolumbianischen Pazifikküste und versteht sich als Initiator interdisziplinärer künstlerischer, kultureller und wissenschaftlicher Prozesse, zb. durch Vergabe von Residenzen. MAMA ist eng verbunden mit der geografischen Situation ihres Zentrums, der Chocó Base, im von Mangroven geprägten tropischen Regenwald. Politisch ausgerichtet ist die Organisation auf die Unterstützung indigener Gemeinschaften in der Region, die Bewahrung des gefährdeten lokalen Ökosystems und die Bewältigung bewaffneter und sozialer Konflikte. Es gibt eine weitere Basis in Bogotá und dauerhafte internationale Kooperationen, etwa im Netzwerk Arts Collobaratory oder mit dem deutschen Goethe-Institut.

Die Soundinstallation Das Flüstern der Borkenkäfer / Susurros de los escarabajos de la corteza befindet sich in einem Gewächshaus, das zu den gärtnerischen Anlagen der Parkverwaltung gehört. MAMA mit seiner konstitutiven Verbindung zu den Wäldern um Chocó ist nach der Ankunft in Hessen erschüttert über den Zustand des hiesigen Waldes. Große Brachflächen mit aufgrund von Klimawandel und Borkenkäferbefall abgestorbenen Fichtenbeständen bestimmen das Landschaftsbild. Die Installation verbindet die zu hoch-gestapelten toten Fichtenstämme mit Tonaufnahmen aus verschiedenen Teilen Kolumbiens, die so in der Hitze des Glashauses als Mahnmahl und Menetekel zum Flüstern gebracht werden. Quer über die Aue verteilt trifft man auf Denkräume / Espacios para pensar en el Aue Park. Roh geschnittene Hocker und Tische aus Borkenkäferholz laden hier zum Verweilen und Nachdenken ein. Zentraler Ort der Vermittlung ist der MAMA.Doc.space. Wie die Chocó Base am Pazifik ist sie vom niederländischen Atelier van Lieshout (AVL) gebaut. Gestaltet ist der Doc.space wie ein fahrender Wanderzirkus, verfügt über einen Transporter für das MAMA Archiv mit Bibliothek und Dokumentationszentrum. Ein ausklappbares Kino zeigt ein permanentes Filmprogramm. Der Runde Tisch um den Magnolienbaum / Mesa circular alrededor del árbol de magnolia ebenfalls aus Borkenkäferholz steht für Treffen bereit, auch an eine skulptural geformte öffentliche Komposttoilette, Excrementus megalumanus genannt, wurde gedacht. Das dreistündige Filmprogramm läuft während der documenta Öffnungszeiten nonstop im loup im Filmzelt. Es zeigt 17 Produktionen von MAMA Mitgliedern oder unter MAMA Verantwortlichkeit entstandene Filme. Sie dokumentieren in einer Mischform aus Kunst- und Dokumentarfilm die Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen durch Goldwäsche, analysieren politischen Mord, zeigen aber auch eindrucksvolle poetische Arbeiten der Choreografin Lia Rodrigues in der Filmregie von Fernando Arias. 

60 Personen, MAMA Mitglieder und eingeladene Akteur*innen, sind während der 100 Tage im MAMA.Doc.space aktiv mit zahlreichen panels, workshops, lectures und roundtables mit Themen aus dem breiten MAMA Spektrum. Eine Besonderheit der offenen Struktur des Doc.space in der Karlsaue ist, dass das MAMA Programm der Öffentlichkeit barrierefrei und gratis zugänglich ist, ganz unverbindlich kann man sich die Filme ansehen und mit dem Kollektiv in den Dialog treten.

 

INSTAR ist das zweite lumbung inter-lokal-member Kollektiv aus Lateinamerika. Tania Bruguera gründet es 2016 als Instituto de Artivismo Hannah Arendt in Havanna. Eine kollektive Lesung von Hannah Arendts Standardwerk Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft markiert den Gründungstag im Mai 2015. In der Lesung konfrontiert man Theorie und repressiven Alltag. Wie MAMA verbindet das Kollektiv künstlerische Arbeit mit politischer Praxis, die Mitglieder sind bildende Künstler*innen, viele von ihnen sind mit einem Arbeitsverbot belegt, das Angebot richtet sich prinzipiell an jede und jeden, Zielrichtung ist die Demokratisierung Kubas. Preise und Stipendien fördern unabhängige Initiativen. INSTARS Wirkungsbereich in Kassel liegt in der documenta Halle und ist der hölzerner Nachbau des ersten unabhängigen Ausstellungsraumes in Kuba. Er dient gleichermassen als Ausstellungsbereich wie als Hülle für politisch kulturelle Vorträge und Debatten. Nahezu täglich lädt INSTAR in sein Ambiente ein, nicht selten ist es Bruguera selbst, die die Veranstaltungen moderiert. 

 

Bruguera gehört zu den wenigen documenta fifteen Künstlerinnen, die eine gefestigte Position im konventionellen Kunstmarkt innehat. Bekanntgeworden ist sie durch spektakuläre und mutige Performances und ihre hartnäckig kompromisslose Haltung gegenüber der kubanischen Regierung hinsichtlich Menschenrechten, Meinungs- und künstlerischer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Ihr Status als ‘Star’ tritt in Kassel vollständig in den Hintergrund, keines ihrer Werke ist ausgestellt. Sie repräsentiert zusammen mit anderen das Kollektiv und ist Partizipantin des Vermittlungsprogramms zu primär kubanischen Themen. In den 100 Tagen werden zudem zehn Ausstellungen im 10 Tagestakt nacheinander präsentiert, die das INSTAR Programm nachzeichnen. 

Más Arte Más Acción : Das Flüstern der Borkenkäfer / Susurros de los escarabajos de la corteza, Kassel, 15. Juni 2022, Foto : Dirk Ufermann
Más Arte Más Acción : Das Flüstern der Borkenkäfer / Susurros de los escarabajos de la corteza, Kassel, 15. Juni 2022, Foto : Dirk Ufermann
La Intermundial Holobiente, Installation, Komposthaufen in der Karlsaue, Kassel, 15. Juni 2022, Foto : Dirk Ufermann
La Intermundial Holobiente, Installation, Komposthaufen in der Karlsaue, Kassel, 15. Juni 2022, Foto : Dirk Ufermann

Zwei Künstlergruppen aus Argentinien gehören zu den lumbung-Künstler*innen  : die Serigrafistas queer und La Intermundial Holobiente. In einer zeltähnlichen Struktur aus bedruckten Tüchern haben sich die Serigrafistas queer, gegründet 2007 als ‘Nicht-Gruppe’, auf dem Gelände des Sandershauses auf einer brachliegenden Fläche in einer vernachlässigten Zone im Stadtteil Kassel-Bettenhausen niedergelassen. Auch die Serigrafistas queer öffnen ihr Archiv mit älteren Arbeiten, oftmals Drucke für die argentinischen LGBTTTIQ-Pride Umzüge, die sie in regelmäßigen Siebdruck-workshops herstellen. Die bauliche Struktur nimmt Bezug auf das von ihnen in der Peripherie von Buenos Aires errichtete Rancho Cuis. Zur Protestkultur der Serigrafistas gehört die ethische Maxime des absichtslosen Füreinander Sorgens und Aufeinanderachtens.

La Intermundial Holobiente,  bestehend aus der Künstlerin Claudia Fontes, der Philosophin Paula Fleisner, Philosophin und dem Schriftsteller Pablo Martín Ruiz, hat sich das Kompostareal des Parks in der Karlsaue ausgesucht. Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist die Faszination für eine nicht-menschliche Kreativität. Alle Dinge auf dem Planeten besitzen in dieser Sicht die Fähigkeit, auf Umwelteinflüsse zu reagieren und sie zu interpretieren, nicht nur das menschliche Bewusstsein. Der riesige Komposthaufen auf dem vom Menschen weitgehend ungestalteten Gelände, auf dem alle gärtnerischen Abfälle der großen Parklandschaft sich selbst in einen anderen Zustand überführen, dient ihnen als inspirierendes Feld für die Erstellung eines Archivs nicht-menschlicher Formen des Erinnerns, die in einer kleinen Hütte zusammengetragen werden. Graciela Carnevale und Chino Soria ergänzen dabei das Team.

 

Der mexikanische, in Barcelona lebende Künstler Erick Beltrán (*1974) breitet im Museum für Sepulkralkultur sein künstlerisch-wissenschaftliches Forschungsprojekt Manifold, Unit and Multiplicity aus. Das Verhältnis von Einheit und Vielheit möchte er neu definieren, die individuellen Vielheiten aufgehoben wissen in einer höheren Ganzheit. Manifold  zugrunde liegen Befragungen vieler Personen zum Begriff der Macht und die Transformation der Einzelinterviews – das Einzelne – in einen Gesamtbegriff. Das Museum für Totenkult hat für die Forschungsergebnisse den Großteil seiner Ausstellungsfläche zu Verfügung gestellt. Texte, Diagramme, ikonografische Funde visualisieren hier einen breiten Fluss der Information und Imagination.

 

Graziela Kunsch aus Sấo Paulo, wie Beltrán lumbung-Künstler*in, überrascht mit einer voll funktionsfähigen Krippe für die Allerkleinsten, mit Ess, Schlaf- und Wickelräumen im Hauptgebäude der documenta, dem Museum Fridericianum, täglich geöffnet von 10 bis 17 Uhr. Kunsch, Künstlerin und Pädagogin, vertritt nach einem Konzept der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler die These, dass Erwachsene mehr von den Babys lernen könnten, als Babys von Erwachsenen. Die Babys können sich in der Kindertagesstätte in einem sicheren, baulich an die kleinkindlichen Bedürfnisse angepassten Raum zusammen mit ihren Eltern und unter der Aufsicht von speziell geschulten Betreuer*innen frei bewegen, sind aber weitgehend sich selbst überlassen. Die Eltern sind zwar anwesend, aber sie sollen die Kinder sich unbeeinflusst entwickeln lassen, sie nicht etwa zwingen, möglichst schnell aufrecht zu Laufen und sich wie Kind-Erwachsene zu verhalten. Die motorischen Fähigkeiten sollen sich je nach den Bedürfnissen der Kleinen entwickeln. Für kinderlose Besucher*innen gibt es eine Lese-,  und Videosektion.

 

documenta fifteen: Serigrafistas queer, What is a flag?, Workshop, Sandershaus, Kassel, 20. Juni 2022, Foto: Martha Friedel
documenta fifteen: Serigrafistas queer, What is a flag?, Workshop, Sandershaus, Kassel, 20. Juni 2022, Foto: Martha Friedel

Ausstellung: 

documenta fifteen

Ausstellung verteilt auf 32 Orte in Kassel,

18. Juni - 25. September 2022

täglich 10 – 20 Uhr

 

Publikationen:

documenta fifteen. Handbuch

304 S., ca. 200 Abb., 15 x 20,5 cm, Klappenbroschur, 25 €.

 

Gehen, finden, teilen

Texte und Illustrationen von Julia Kluge, Nadine Redlich, Malwine Stauss, Carmen José, Rita Fürstenau (Rotopol); Isabel Minhós Martins, Bernardo P. Carvalho; Jules Inés Mamone (Femimutancia); Verónica Gerber Bicecci; Innosanto Nagara,

96 S., ca. 80 Abb., 20 x 26 cm, Hardcover, 15 €.

 

majalah lumbung

Englisch, Deutsch, ca. 320 S., ca. 200 Abb., 20 x 26 cm, Broschur, 28 €. 

 

lumbung erzählen

Texte von Azhari Aiyub, Cristina Judar, Mithu Sanyal, Nesrine A. Khoury, Panashe Chigumadzi, Uxue Alberdi, Yásnaya Elena Aguilar Gil,

208 S., 13 x 20,5 cm, Broschur, 18 €.

 


Dirk Ufermann ist Hispanist und Philosoph und lebt in Bonn.