Spaniens Südgrenze

Kristallisationspunkt von Menschenrechtsverletzungen

Die autonome Stadt Ceuta bildet gemeinsam mit der zweiten spanischen Exklave Melilla das einzige europäische Territorium auf dem afrikanischen Kontinent. Dies hat nicht nur eine massiv zunehmende militärische Aufrüstung der Grenze zur Folge, mit dem Ziel Migration abzuwehren, sondern die Grenze von Tarajal in Ceuta stellt darüber hinaus einen geographischen Raum dar, in dem sehr verschiedene Lebensrealitäten aufeinandertreffen. Die großen Unterschiede von sozialen, ökonomischen, politischen und rechtsstaatlichen Standards führen zu großer Arbeitnehmer*innenmobilität. Mehr als 7.000 Frauen überqueren täglich die Grenze von Tarajal nach Ceuta. Viele von ihnen versuchen als Sexarbeiterinnen, Hausangestellte oder porteadoras - also Trägerinnen - ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften. Die spanische Menschenrechtsorganisation Asociación Pro Derechos Humanos de Andalucía (APDHA) entlarvt in ihrer Studie „Respeto y Dignidad para las Mujeres Marroquíes que portan Mercancías en la Frontera de Marruecos y Ceuta“ die Arbeitsbedingungen der porteadoras als unwürdig.

von Marian Henn

Ein gewöhnlicher Arbeitstag beginnt gegen 3:00 Uhr morgens mit der Anfahrt. Wenn der Grenzposten von Tarajal morgens um 6:00 Uhr öffnet, haben sich bereits lange Schlangen von Autos und porteadoras gebildet. Viele Frauen verbringen schon die Nacht am Grenzübergang. Dies erhöht ihre Chancen, rechtzeitig einzureisen, um mit ihrer Ladung die Exklave vor der Schließung des Grenzübergangs um 13:00 Uhr rechtzeitig zu verlassen. Gibt die marokkanische

Polizei die Grenze zur Überquerung frei, entsteht ein von großer Drängelei begleiteter Wettlauf. Um den Tageserwerb nicht zu gefährden, versuchen alle so früh wie möglich spanischen Boden zu betreten. Paradoxerweise werden die porteadoras an einer der miltarisiertesten Grenze weltweit keinerlei Identitätskontrollen unterzogen. Sicherheitsinteressen und Abschottungspolitik auf der einen Seite stehen der Förderung von Schnelligkeit und Effizienz zu Gunsten von wirtschaftlichen Interessen gegenüber.

 

Nach dem Grenzübertritt nach Ceuta beginnt eine von der spanischen Polizei organisierte Ordungs- und Selektionspraxis. Gemeinsam mit Verantwortlichen des Gewerbegebiets steuern sie den Zufluss zu den Lagerhallen und schrecken dabei auch vor körperlicher Gewalt und Demütigung nicht zurück. Die porteadoras sind dann oft gezwungen stundenlang in glühender

Hitze am Strand von Tarajal auszuharren, bis ihnen der Zutritt gewährt wird: Ohne Trinkwasser, Schattenbereiche, Toiletten und unter ständiger Beobachtung der Polizei. Für ihre Arbeit bekommen sie durchschnittlich weniger als 10 Euro am Tag.

 

Die Zone des Dazwischen

In der politischen Philosophie bestehen unterschiedliche Auffassungen zum Begriff Grenze. Man kann eine Grenze als territoriale Begrenzungslinie eines Staates betrachten, eine Sichtweise, die den rechtlich-legalen Charakter mit der Funktion der Abgrenzung zwischen Nationalstaaten widerspiegelt. Die Linienmetapher aber erweist sich bei genauer Betrachtung als Fiktion. Dies wird besonders in Grenzregionen ersichtlich, wo sich die Grenze durch stabile und kontinuierliche grenzüberschreitende Arbeitnehmer*innen-, Wohn- oder Konsument*innenmobilitäten zu einer „Zone des Dazwischen“ ausdehnt. Dieser Prozess zeigt sich an der spanisch-marokkanischen Grenze in vielfältiger Weise. Die 2014 eingeführte Praxis der devoluciones en caliente (unmittelbare Abschiebungen) ist Ausdruck einer zur Steuerung menschlicher Mobilität flexiblen Grenze. Migrant*innen, denen es gelungen ist, die meterhohen Grenzzäune zu überqueren und somit EU-Gebiet zu erreichen, können von der spanischen Polizei umgehend zurückgeschickt werden. Die physische Grenze liegt somit nicht in der offiziellen Demarkationslinie, sondern erst die weiter entfernten Registrierungsstellen werden

zur Außengrenze. Weitere administrative Grenzen finden sich im Asyl- bzw. Aufenthaltsrecht oder in Mechanismen institutioneller Diskriminierung wieder. Insbesondere im Falle Ceutas und Melillas liegt dieser flexible Grenzbegriff nahe: die Grenze ist das Resultat eines dynamischen Prozesses, der permanenten Veränderungen unterworfen ist. Die Trennung von „innen“ und „außen“, von Einwander*innen und Inländer*innen, von Normalität und „Flüchtlingskrise“ ist nicht nur diskursive Voraussetzung von Abschottungspolitik, sie verkennt auch die historisch gewachsene Realität grenzübergreifender Dynamiken zwischen dem marokkanischen Territorium und den autonomen Städten Ceuta und Melilla.

 

Arbeitsweise der porteadoras

Die Studie stellt die Arbeit als porteadora als Selbstermächtigungsprozess in den Mittelpunkt. Ein eigenes Einkommen fördert die Unabhängigkeit der Frauen und ermöglicht die Emanzipation aus patriarchalen Familien- und Gesellschaftsstrukturen.

 

Der Großteil der Frauen arbeitet gegen eine Provision, die nach dem Gewicht der Lasten und dem Wert der Waren festgelegt wird. Die Arbeit auf Provision birgt dabei einige Risiken für die Frauen. Sowohl die spanische als auch die marokkanische Polizei kann die Güter beschlagnahmen. In diesem Fall müssen die porteadoras die Hälfte des Werts der beschlagnahmten Ware an den*die Abnehmer*in bezahlen. Häufig sind sie dazu finanziell nicht in der Lage und werden verpflichtet, solange unentgeltlich zu arbeiten, bis der entstandene Verlust kompensiert worden ist. Dieser Fall legt nicht nur eine Form von moderner Leibeigenschaft offen. Die Willkür der Polizeieinheiten nährt zudem ein System von Korruption. Es ist üblich, dass durch die regelmäßige Zahlung von Bestechungsgeldern an die Beamt*innen ein reibungsloser Ablauf des Warentransports gewährleistet wird.

 

Ungleichheit und transfronterizos

Das spanisch-marokkanische Grenzgebiet ist mit großer Ungleichheit verknüpft. Den von Wirtschafts- und Politikinstituten wie Freedom House oder dem IWF ermittelten Werten liegen zwar eurozentristischen Maßstäbe und eindimensionalen Vorstellungen von Entwicklung und Freiheit zugrunde. Doch können die ungleichen sozialen, ökonomischen, politischen und rechtsstaatlichen Standards als wichtiger Faktor für informelle Handelsstrukturen und grenzübergreifende Pendelbewegungen zwischen Ceuta und den umliegenden marokkanischen Gemeinden gelten. An Ceuta angrenzend liegt die Provinz Tetúan. Die dort gemeldete Bevölkerung benötigt kein Visum, um nach Ceuta einzureisen. Allerdings beschränkt sich die Ausnahmeregelung nur auf die Exklave und schließt den nächtlichen Aufenthalt aus. Diese Besonderheit führte zu einem rapiden Bevölkerungswachstum in der Region. Viele Menschen aus südlicheren Regionen Marokkos sind in den letzten Jahrzehnten in diese Regionen migriert, mit dem Ziel, Beschäftigung im florierenden Grenzhandel zu finden. Gleiches gilt für Melilla und die Provinz Nador. Schätzungen zufolge betreten täglich über 50.000 Marokkaner*innen die

Exklaven. Neben Akademiker*innen und Studierenden betrifft das Phänomen der sogenannten transfronterizos vor allem sozial benachteiligte Gruppen mit geringen gesellschaftlichen Chancen. Während Männer maßgeblich im Bau- und Industriesektor erwerbstätig sind, überqueren marokkanische Frauen täglich die Grenze um als Hausangestellte, Sexarbeiterinnen oder porteadoras ein Einkommen zu erwirtschaften. Bei den porteadoras handelt es sich um marokkanische Frauen, die bis  zu 90kg schwere Säcke mit Waren von den Exklaven auf die marokkanische Seite der Grenze transportieren. Die Güter sind als Handgepäck deklariert und unterliegen somit keiner Zollpflicht.

 

Der Grenzhandel mit Nahrungsmitteln, Getränken, Tabak, Stoffen, Schuhen, Mobilfunkgeräten und Medikamenten stellt einen großen Teil der wirtschaftlichen Aktivität der Stadt Ceuta dar. Fast die Hälfte aller nach Ceuta eingeführten Waren werden umgehend nach Marokko und häufig von dort in südlichere Regionen Afrikas exportiert. In diesem Millionengeschäft stellen die porteadoras einen ökonomische Schlüsselfaktor dar. Aus makroökonomischer Perspektive Marokkos schaden diese Importe zwar dem nationalen Textil- und Lebensmittelsektor. Jedoch wurden die ärmlichen Provinzen im Norden Marokkos traditionell strukturell diskriminiert und der atypische Handel stellt seit jeher einen zentralen Beschäftigungssektor für die Bevölkerung dar. Schätzungen zufolge sind 45.000 Marokkaner*innen unmittelbar im Grenzhandel beschäftigt, unter ihnen knapp 75% Frauen, weitere 400.000 Menschen auf indirekte Weise. Die Eindämmung dieser Aktivitäten würde vielen Menschen ihre Erwerbsquelle entziehen.

 

Das Gewerbegebiet von Tarajal

Nur zwei Kilometer von der gleichnamigen Grenze entfernt, wurde das Gewerbegebiet von Tarajal im sozial benachteiligten Stadtviertel El Príncipe errichtet und nicht etwa in der Nähe des Hafens, wo ein Großteil der Im- und Exporte abgewickelt werden und sich sich die Wirtschaftsdynamik konzentriert. Die Idee dahinter, der größtenteils erwerbslosen Bevölkerung die Infrastruktur für ein informelles Handelsgefüge bereitzustellen, ist offensichtlich. Das Gewerbegebiet von Tarajal befindet sich trotz öffentlicher Finanzierung in privater Hand. Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen, die die Lagerhallen aus investigativen Gründen besuchen wollen, müssen Eintritterlaubnisse beantragen. Auf kritisches Foto- und Videomaterial drohen seit Inkrafttreten des spanischen Knebelgesetzes hohe Bußgelder.

 

In den Lagerhallen werden die Lastensäcke verpackt und den porteadoras aufgeladen. Diese transportieren die Güter auf die marokkanische Seite der Grenze. Allerdings benutzen sie dazu nicht die offizielle Grenzstelle von Tarajal, sondern den eigens für den Grenzhandel erschaffenen Übergang von Biutz. Dieser führt unmittelbar vom Gewerbegebiet in Ceuta nach Marokko und ist außerhalb des Blickfelds der Tourist*innen und der pendelnden Mittelschicht. Diese Unsichtbarmachung der Arbeit der porteadoras eröffnet erst den Raum für Polizeigewalt und Demütigungen. Die Infrastruktur von Biutz selbst ist schon ein Spiegelbild der Menschenrechtsverletzungen an der Grenze: Biutz wird aufgrund seiner baulichen Struktur, der vollständigen Umzäunung und der Enge auch la jaula, der Käfig, genannt. Im Zuge des dadurch verursachten Gedränges kam es auch schon mehrfach zu Todesfällen von porteadoras.

 

Sichtbarkeit schaffen – Autonomie fördern

Nicht zuletzt seit der Veröffentlichung der Studie der APDHA erhielt das Thema in der Zivilgesellschaft und den Medien Südspaniens und Nordmarokkos breite Aufmerksamkeit.

 

Verschiedenste politische Akteure wie Gewerkschaften, NGOs, Menschenrechtsaktivist*innen und Frauenorganisationen konnten dies nutzen und dem gemeinsam entworfenen Forderungskatalog Nachdruck verleihen. Darin werden verantwortliche Akteur*innen auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene aufgefordert, die Arbeits- und Lebensbedingungen der porteadoras zu verbessern. Trinkwasserzugang, Schattenbereiche, sowie Beschränkung des Lastgewichts sind nur einige realpolitische Aspekte zur konkreten Verbesserung ihrer Situation. Im Mittelpunkt der Debatte steht allerdings die grundsätzliche Anerkennung der porteadoras als Arbeiterinnen und die marokkanischen Frauen als politische, soziale und ökonomische Subjekte wahrzunehmen und ihren Autonomieprozess zu fördern.

 

Marian Henn war Praktikant bei der Asociación Pro Derechos Humanos de Andalucía in Cádiz und arbeitete dort zu verschiedenen Themen rund um die spanische Südgrenze.

Die Infrastruktur von Biutz selbst ist schon ein Spiegelbild der Menschenrechtsverletzun- gen an der Grenze: Biutz wird aufgrund seiner baulichen Struktur, der vollständigen Umzäunung und der Enge auch la jaula, der Käfig, genannt.