„AF – es ist nichts passiert“

Eine Krimisatire, die zum Nachdenken anregt

von Pia Clemens und Alejandro Boucabeille


Rodrigo Díaz wurde 1981 in Tandil, Argentinien geboren. Er studierte Literatur an der Universidad Nacional de Mar del Plata und zog 2007 nach Köln, Deutschland. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit widmete er sich der Lehrtätigkeit an verschiedenen Institutionen in beiden Ländern. Zwischen 2009 und 2020 arbeitete er als Dozent an der Universität zu Köln. Bislang hat Díaz drei Romane geschrieben. „Los niños de Abraham“, eine Geschichte im Stil der Go- thic-Literatur über das Verschwinden einer Gruppe von Kindern mit Asperger-Syndrom zu Beginn des spanischen Bürgerkriegs. „El perro infinito“ (TEGE 2018), eine historische Satire über das Leben des Mallorquiner Ramón Llull. Und „AF“ (Ibáñez 2020), eine Kriminal-Satire, die zur Diskussion darüber anregt, wie wir uns als Gesellschaft organisieren.

Emicida

 Du lebst jetzt schon seit 13 Jahren in Deutschland, richtig? Wieso hast Du Dich damals für Deutschland bzw. Köln entschieden?

Wegen einer deutschen Frau, die einige Jahre zuvor Urlaub in meiner Heimatstadt in Argentinien gemacht hat. Ich habe ihr und ihrer Freundin die Stadt gezeigt und vier Jahre später bin ich in Deutschland gelandet.

 

In Deinem neuen Buch „AF“ thematisierst Du immer mal wieder verschiedene Autoren und Literaturen wie beispielsweise die „Vermessung der Welt“, sind das Deine persönlichen Einflüsse? Ist die Meinung des Protagonisten Fernando über Literatur mit Deiner gleichzusetzen? Ja, würde ich sagen. Ich wollte in der Szene, in der Fernando seine Geliebte mit seinen literarischen Kenntnissen beeindru- cken will, anwesend sein. Ich wollte nackt auf dem Bett liegen und vor dem Leser ein wenig angeben. Alles was Fernando über Literatur sagt, entspricht zu 100% meiner Meinung.

 

Der Krimi spielt in Deiner Wahlheimat Köln um die 5. Jahreszeit herum. Du beschreibst detailliert die Orte des Geschehens und bietest dem Leser eine Art Stadttour an. Ist das Buch eine Liebeserklärung an die Stadt Köln? 

Ja, auf jeden Fall, es war mir sehr wichtig, dass der Roman so nah an mir ist, wie möglich. Ich wollte meine Umgebung Köln beschreiben. Ich mag die Stadt Köln wirklich sehr. Ich habe den Roman nach Karneval angefangen zu schreiben und als ich die Ort- und Zeitangaben für den Krimi datiert habe, ist mir aufgefallen, dass es zu Karnevalszeiten spielt. Es war ein Zufall und es musste einfach so sein, das ist das wahre Köln.

 

Das Buch ist auf Spanisch geschrieben, dennoch tauchen immer wieder deutsche Begriffe wie „Polizeipräsidium“ oder unzählige Straßennamen auf. Wer zählt Deiner Meinung nach zu Deiner Zielgruppe?

Ich hoffe, das Buch ist sowohl für Köln-Kenner*innen als auch für Leute, die die Stadt nicht kennen, ansprechend. Ich möchte, dass die Leser*innen mich begleiten und Köln mit mir zusammen entdecken. Ich bin mir bewusst, dass ich viele Straßennamen benutzt habe, aber ich wollte damit etwas Reales schaffen. Es fällt der Leserschaft einfacher, sich mit konkreten Straßennamen in die Situation hinein zu versetzen als mit groben Angaben wie „in 200m links“ oder ähnliches. Wenn man über eine Zielgruppe redet, spricht man von Menschen, die Empathie mit den Charakteren empfinden könnten. Ich glaube, dass eine gut geschriebene Geschichte jeden erreichen kann. Ich wollte Leute erreichen, die eine endliche gesellschaftliche Perspektive haben, aber auch Leute, die dies nicht haben.

 

Woher kam die Idee zu diesem Buch?

Wut und Machtlosigkeit. Ich habe 2018 mit dem Buch begon- nen, als die wirtschaftliche und politische Lage in Argentinien äußerst kritisch war. Ich habe aus der Ferne beobachtet, wie schwer es meine Familie und Freunde vor Ort haben und wie gut es uns hier in Deutschland geht. Ich habe mich machtlos gefühlt. Und aus diesem Gefühl ist der Roman entstanden. Das Buch soll eine Motivation sein, sich mit den Ungerechtigkeiten der Welt zu beschäftigen und darüber zu reden.

 

Wofür steht „AF“?

Das möchte ich inhaltlich nicht im Detail verraten. Es ist eine absurde Fiktion als Buch aber auch als Element in dem Buch, obwohl es auf wahren Fakten aufbaut. Es ist eine Karikatur von Dingen, die sehr schlecht funktionieren, etwa wie wir uns als Gesellschaft verhalten und wie wir unseren Reichtum verteilen.

 

Du bist bekannt für Deine Satire und Deinen schwarzen Humor, darüber hinaus aber auch für einen ausgeprägten Rationalismus. Ist das Deine Art, mit den Entwicklungen und Geschehnissen auf der Welt umzugehen?

Ja, auf jeden Fall. Ich war in Argentinien sehr politisch aktiv und das war ein wichtiger Teil meines Lebens. Seit ich in Deutschland bin, ist mein politischer Aktivismus zurückgegangen. Deswegen hatte ich ein schlechtes Gewissen. Das Buch ist ein Versuch, durch meine Leidenschaft zum Schreiben einen politischen Beitrag zu leisten und mich politisch zu engagieren. Ich habe mich entschieden, auf eine unterhaltsame und schnelle Weise dem Leser eine Nachricht zu hinterlassen, unsere Machtstrukturen und Gesellschaftsstrukturen kritisch zu hinterfragen. Dabei war mir wichtig, dass die Handlung in einer realen Stadt und mit realen Personen spielt, denn wir alle sind ‚Geschichte‘. Wir müssen über manche Sachen nachdenken und diskutieren. Und auf jeden Fall Sachen ändern. Dies hängt von uns allen ab. Wir müssen darüber reden, und das ist etwas, was ich vermitteln will. Damit das leicht zu empfangen ist, wollte ich das sehr unterhaltsam, sehr schnell machen, es gibt sogar Action, Explosionen, alles was dazu gehört. Es gibt zwei Sachen, die ich immer haben muss, wenn ich schreibe und wenn ich lese. Es muss sich um Personen handeln: Ich glaube, man kann über alles schreiben, wie etwa Personen über eine Straße laufen; solange das reale Menschen sind, wird das interessant. Man sagt, wir alle sind Geschichten, und das stimmt. Es gibt große Schriftsteller*innen, die ganze Werke über uns geschrieben haben, wie wir über Straßen laufen usw., das wäre also das Erste. Und das Zweite: Ich kann ohne Szenen nicht schreiben. Wenn ich schreibe, muss ich immer sehen, was ich schreibe. Berichte zu lesen langweilt mich eher, Romane oder Kurzgeschichten, die ‚berichtet‘ werden, wo der Erzähler also nur sagt, was passiert und ein bisschen verallgemeinert. Reale Menschen und Szenen müssen bei mir immer sein, ich sehe das alles quasi in Sequenzen, wenn ich schreibe.

Schreibst Du eher mit der „Stream of consciousness“- Methode oder schaffst Du Dir Szenen und nimmst Dir Szene für Szene vor?

Nicht so ganz, bis jetzt habe ich drei Bücher geschrieben. Es ist nicht so, dass ich sehr große Erfahrung habe. Aber es kommt immer zu dem Punkt, an dem ich erkenne: Ich weiß zwar nicht, ob ich über das schreiben werde, aber ich habe eine Idee, ich kann damit spielen und irgendwann mal sehe ich ein Buch oder denke „Oh, das wäre spannend“. Ein Buch ist nicht nur eine Geschichte, es geht auch darum, wie du die verschiedenen Teile zusammen bringst. Es gibt viele Faktoren, und bis jetzt gab es drei Mal einen Moment, wo es bei mir „Klick“ gemacht hat: “Oh, ok, das ist ein Buch“. Natürlich ist meine Idee meist nur sehr grob und alles wird sich noch ändern, wenn man sich hinsetzt und schreibt, aber diese Idee muss ich schon haben. Dann weiß ich auch schon, wo die Geschichte anfängt und wohin sie geht, und dann kann ich damit beginnen, die Szenen zu schreiben.

 

 

Gibt es schon ein neues Buch?

Ja, ja. Es gibt schon zwei erste Szenen.

Das nächste Buch fängt nicht mit einer Szene an... das war alles eine Lüge, was ich davor gesagt habe (lacht). Es ist ein Brief. Es geht um einen verschwundenen Schriftsteller.

 

Vom Absender „AF“, wie aus dem letzten Buch?

Ja, genau (lacht). Er ist der Schriftsteller, der AF geschrieben hat, und er geht nach Afrika, weil er über die Flüchtlinge berichten will. Als Erstes erfährt man von einem Brief, der erklärt, warum er verschwunden ist, warum er weggegangen ist. Und das Zweite, das habe ich auch schon im Kopf: es geht um Flucht. Um eine Familie, die fliehen muss und unterwegs ist. Wir werden in dem Buch kurz diese Familie begleiten.

 

Also nochmals ein politisch aktuelles Thema?

Ja, leider ein Thema, das etwas verdrängt wurde. Wegen Corona und so. Ich finde es sehr gut, Menschen in diese Situationen zu versetzen, sodass die Leser*innen das nachempfinden können. Ein Freund von mir hat das mit einem fotografischen Projekt geschafft, dass man in diese Situation hineinkommt, also spürt: „Ich muss jetzt fliehen, sofort...“.

Es war eine sehr gute Erfahrung, eine schreckliche aber auch sehr gute Erfahrung, das gemacht zu haben. Und ich denke, Literatur kann das auch gut. Es wird sehr politisch sein.

 

Last but not least: möchtest Du uns noch etwas mit auf den Weg geben?

Ich würde gerne noch erwähnen, dass ich mit dem peruanischen Schriftsteller Walter Lingán, der hier seit Jahren die Tertulia literaria „La Ambulante“ veranstaltet, dieses Format gemeinsam weitertreiben möchte: eine Gruppe bilden für Veranstaltungen von Lateinamerikaner*innen hier in Deutschland und Europa. Wir werden uns „Grupo Lautaro“ nennen, sind aber noch am Beginn und organisieren uns gerade. Wir wollen damit die sozialkritische Perspektive hier in Europa, Latein- amerika und der Welt vorantreiben und eine Diskussion über aktuelle Probleme anregen.

Heute sind wir ja dazu gezwungen, alles online zu veranstalten, da die persönlichen Lesungen wegen Corona abgesagt wurden. Wir planen daher eine Reihe von Online-Lesungen und weiteren Veranstaltungen wie etwa Konzerte. Meine Idee ist es, sie „Para paliar la pandemia“ zu nennen.

 

Pia Clemens und Alejandro Boucabeille sind Redakteure bei matices.