Buchrezensionen 100

Für ein kommentiertes Wörterbuch. Gedichte von Sergio Raimondi

Im Jahr 2005 erschien das Buch „Für ein kommentiertes Wörterbuch. Gedichte.“ des argentinischen Literaturwissenschaftlers und Dichters Sergio Raimondi zum ersten Mal in deutscher Sprache. Besonders bekannt ist Raimondi als Erneuerer der argentinischen Poesie und Kritiker des kapitalistischen Systems. In der Edition des Berenberg Verlags sind die spanischen Originale und die deutschen Übersetzungen von Timo Berger nebeneinander abgedruckt.

Bei dem Werk handelt es sich um ein kommentiertes Wörterbuch, dessen Titel programmatisch zu verstehen ist, denn das Projekt läuft laut eigener Aussage Raimondis stetig fort, ohne ein Ende in Sicht. Die Gedichtsammlung ist wie ein Wörterbuch lexikalisch angelegt, alphabetisch sortiert und durchzogen von Begriffen, die an eine Enzyklopädie erinnern. Natürlich in ironisch gebrochener Form: beim Lesen wird schnell klar, dass es Raimondi darum geht, auch Dinge zu sagen, die in einem Wörterbuch nicht zur Sprache kommen würden. Die Einträge hinterfragen die Art, wie unser Wissen geordnet ist, womit den Leser*innen immer wieder der Boden sicheren Wissens unter den Füßen weggezogen wird. Raimondi scheut sich dabei nicht vor den großen Themen des Kapitalismus in einer globalisierten Welt. Immer wieder sucht er nach Zusammenhängen zwischen Lokal-Konkretem und Global-Abstraktem.

Das Gedicht TEIGFÜHRUNG, BESCHLEUNIGTE handelt von einer Brotschnitte, in der sich eine „Grundsatzfrage der politischen Ökonomie“ konzentriert. Der höhere Preis eines traditionell hergestellten Brotlaibes gegenüber einer

Scheibe Industriebrot zeigt, dass bei höherem Lebensstandard „eine frühere Lebensweise zu einer kostbaren/Ware, ja zu einem erlesenen Gegenstand“ wird. Die Vernetzungen globaler Wirtschaftskreisläufe werden auch in dem Gedicht PANAMAX deutlich: Die Panamax war ein riesiger Frachter, der – zur Zeit seiner Benutzung – gerade noch durch den Panamakanal passte. Noch größere neue Frachter erforderten allerdings die Verbreiterung des Kanals. Die Panamax wurde überflüssig und somit zum geeigneten Gegenstand des wehmütigen Gedichts.

Raimondis Gedichte sind äußerst politisch, ohne ihren Kunstcharakter zu verlieren. Immer wieder verweisen sie auf die Konsequenzen großer ökonomischer Zusammenhänge für die einzelnen Menschen. Etwa auf die jährlich circa 6000 Arbeiter*innen, welche der chinesischen Kohlewirtschaft zum Opfer fallen, vom chinesischen Politbüro aber als „Teil der Bevölkerungspolitik und der Familienpolitik“ begriffen würden, wie es Raimondis Gedicht MUCHONGGOU thematisiert.

Eine Reihe von Gedichten behandelt historische Persönlichkeiten, darunter William Blake, Michel Foucault, Georg Lukács und Heinrich Schliemann. In diesen wird besonders deutlich, dass es sich um eine kritische Enzyklopädie handelt: In FOUCAULT, MICHEL etwa wird ein blinder Fleck des französischen Theoretikers benannt, nämlich die These, dass es manchmal vielleicht besser ist, dass es überhaupt eine Schule gibt, auch wenn dort die Disziplinarmacht gewaltsam am Werk ist. Und in SCHLIEMANN, HEINRICH wird die Positionsgebundenheit des Archäologen herausgestellt, die dessen Blick auf die Altertümer prägte: „Das konkrete Leben, das man in/hastigen, stümperhaften Ausgrabungen freilegte,/konnte in einem Punkt nicht anders sein als/seine eigene Zeit – positivistisch und imperial“.

Sprachreflexion und Selbstreflexion sind wesentliche Elemente der poetischen Sprache Raimondis. So macht sich MALACATE über die Sprache eines Touristen-Prospekts lustig, in dem eine völlig funktionslose riesige Windmühle als Attraktion angepriesen wird. In WERK (LITERARISCHES) wird über die besondere

Art literarischer Sprache nachgedacht. Dieses Gedicht lässt sich daher als Kern der Sammlung verstehen, das auch Auskunft über die Machart der anderen Gedichte gibt. Raimondi unterscheidet zwischen einer Welt des Geistigen und einer Welt des Materiellen. Im Begriff des Werkes seien beide verbunden. Die Arbeit an der Sprache bewege sich dabei in einer Kreisbewegung zwischen diesen beiden Welten. Einerseits gebe es Literaten, „die sich dem Polieren, Putzen usw. der Sprache verschrieben haben“. Andererseits wären da diejenigen, die tatsächlich handwerklich arbeiten und sich die Sprache wieder aneignen, denn bei ihnen steht das Wort ganz sicher für: „Werklohn/und Baugerüst, Werkzeug, Sand und Kalk“. Während die materielle Sprache auf wirklich existierende Dinge verweist, tue das literarisch-geistige Denken so, als könne es über etwas sprechen, das es noch gar nicht gibt. Die Poesie bewegt sich also in einem Raum des Möglichen, der aber auf der Welt des Materiellen beruht. All diese Elemente machen deutlich, dass es sich hier um voraussetzungsreiche, konzeptuelle Lyrik handelt. Gerade das macht die Stärke dieser Texte aus, wenn man sich auf sie einlassen möchte. Dann bestechen sie zweifach: Erstens überzeugen sie durch ihre ästhetisch-sprachlichen Qualitäten und ihren Einfallsreichtum, zweitens bieten sie wesentliche Anstöße, über die Komplexität der modernen, ökonomisch geprägten, multipel vernetzten Welt nachzudenken – so formen seine Gedichte aus präziser Sprachkritik und genauer Weltbeobachtung differenzierte Denkbewegungen. In seiner 2019 gehaltenen Berliner Rede zur Poesie fordert Raimondi eine Lyrik auf Höhe des Kapitalismus. In Für ein kommentiertes Wörterbuch ist ihm die Einlösung dieser Forderung bereits gelungen.

Adrian Robanus 


Alexandra Endres Niemand liebt das Leben mehr als wir

Die ersten Zeilen gehen unter die Haut: „Erst als die Sonne schon sehr tief steht, lassen die Mütter von Los Mochis, Sinaloa, ihre Schaufeln und Grabstöcke sinken und heben den Blick von der vertrockneten Erde. Eigentlich wollen sie nicht aufhören zu suchen. Das haben sie versprochen – sich und ihren Kindern. Denn die sind spurlos verschwunden.“

Es ist eine der brutalsten Seiten Mexikos, von denen Alexandra Endres gleich zu Anfang in ihrem Buch erzählt. Der Drogenhandel und die damit verbundene Gewalt durchdringen den Alltag in dem Land. Zigtausende Menschen, so schreibt Endres, sind in Mexiko bereits spurlos verschwunden. Sie sind Opfer der organisierten Kriminalität. In Los Mochis, im nördlichen Bundesstaat Sinaloa, ist es eine Gruppe von Müttern, die diese Gewalt nicht akzeptiert. Die Frauen suchen ihre Kinder. Stundenlang, mit Schaufeln und Macheten ausgestattet, dringen sie vor, durch die trockene Erde, auf der Suche nach Spuren. Alexandra Endres kommt mit ihnen ins Gespräch und die Frauen schenken ihr Vertrauen. Sie erzählen von ihrem beharrlichen Kampf gegen die herrschenden Strukturen, die stark von Machismus geprägt sind. Es ist ein Akt des Widerstands, wie er mutiger nicht sein könnte. Beim Leser hinterlässt es ein nachhaltiges Gefühl – beklemmend und beeindruckt zugleich. Doch dies ist nur eine Seite Mexikos, die Endres in ihrem neuen Buch beschreibt, das Ende September 2019 im DuMont Reiseverlag erschienen ist. Mexiko, das weiß die Journalistin, ist viel mehr als Drogenkrieg. Und so will Endres vor allem nach den „schönen Geschichten“ suchen; ein Bild zeichnen, das die Vielfalt der mexikanischen Gesellschaft und die Widerstandskraft der Menschen wiederspiegelt. Darauf verweist schon der prägnante Titel des Buches: „Niemand liebt das Leben mehr als wir. Mexiko – Unterwegs in einem Land voller Hoffnung“. Er ist angelehnt an ein Zitat des mexikanischen Regisseurs Guillermo del Toro, der mit diesen Worten das Lebensgefühl der Mexikaner beschreibt. Den Tod im Alltag stets präsent, streben die Menschen nach Zuversicht und Selbstbestimmung in schwierigen Zeiten.

Zwei Monate ist Endres in Mexiko unterwegs. Im Sommer 2018 beginnt sie ihre Reise in Cancún und durchquert einmal das Land. Im äußersten

Norden passiert sie die Grenze zu den USA und beendet ihre Reise in San Diego. Es ist nicht die erste Recherchereise in Lateinamerika. Auch in Mexiko ist die Autorin schon gewesen. Die Neugier, mehr von diesem Land kennenzulernen, trieb sie zurück. Mediale Schreckensbilder und Warnungen können sie nicht abhalten. Endres will sich nicht abschotten, sie will Mexiko besser verstehen. Dabei stellt sie sich Fragen wie: „Ist Mexiko tatsächlich so gefährlich geworden? Wie leben die Menschen damit?“ Das Ergebnis dieses Wagemuts ist eindrucksvoll. In ihrem Buch gelingt es der Autorin auf geschickte und sehr gut recherchierte Art und Weise, die Geschichten der Menschen, denen sie begegnet, in den Mittelpunkt zu stellen. Stets mit einem wachen Blick für ihr Gegenüber und ohne den gesellschaftspolitischen Kontext außer Acht zu lassen. Dennoch werden keine trockenen Fakten analysiert. Der Fokus auf den Alltag von Menschen und die Einblicke in deren Lebensgeschichten machen das Buch aus und die Kapitel angenehm kurzweilig.

Es sind beeindruckende Personen, denen die Autorin begegnet. Da ist die junge Dichterin Yazmín Novelo in Yucatán, die ausschließlich auf Maya schreibt und für die Rechte der Frauen demonstriert. Da ist die Herberge La 72, im Grenzgebiet zu Guatemala, wo der Leiter Ramón all denjenigen Schutz bietet, die vor der Gewalt in El Salvador, Honduras und Guatemala fliehen. Da ist Carlos Solano, der in Oaxaca seit Jahren mit Kleinbauern zusammenarbeitet und traditionelle Formen des Maisanbaus unterstützt. Und da ist das berühmt-berüchtigte Tijuana, hinter dessen Kulissen die Autorin schaut und auf Montserrat Solis trifft; eine Graffiti-Künstlerin, die ihre Kunst mit sozialem Engagement verbindet. Allen ist gemeinsam: Sie kämpfen unermüdlich für ein besseres Leben. Und Endres erzählt ihre Geschichten. Auch wenn es stets nur Ausschnitte sein können, die ein Reisebericht wiedergibt, entsteht dennoch ein vielfältiges Bild der mexikanischen Gesellschaft. Beim Leser wird die Lust geweckt, mehr von diesem so widersprüchlichen Land zu erfahren.

Besonders auffällig ist die feinfühlige Art und Weise, mit der Endres die Menschen Mexikos und ihre Geschichten, die fröhlichen und die

traurigen, erzählt. Sie ist offen für Begegnungen jeder Art, hört aufmerksam zu, ist empathisch. Dabei zeigt sie eine scharfe Beobachtungsgabe, ist selbstkritisch in ihrer Wahrnehmung und stellt dennoch ihren Standpunkt klar. Manches Mal kommt beim Lesen sogar das Bedürfnis auf, ein wenig mehr von den Gedanken der Autorin zum Erlebten zu erfahren. Dennoch ist der Erzählstil nicht nüchtern, sondern lebhaft und neigt an manchen Stellen zu einer gewissen Selbstironie, was das Lesevergnügen nur steigert. Das Buch ist zudem vielfältig aufgebaut und enthält Skizzen der Reiseroute, Fotos und weiterführende Informationen zu Mexiko. „Niemand lebt das Leben mehr wir“ ist kein gewöhnlicher Reisebericht zu Mexiko, sondern ein aktuelles und kritisches Bild des mittelamerikanischen Landes und seiner Gesellschaft, die sich stets, so scheint es, zwischen Tradition und Moderne neu erfindet. Und es ist ein menschlicher Blick auf das Leben anderer Menschen, die sich, aller Angst und Gewalt zum Trotz, für ihre Interessen einsetzen.

Judith De Santis