Buchrezensionen 103


Was für eine Schweinerei

„Cadáver exquisito“, so lautet der Originaltitel des 2017 erschienenen Romans der Argentinierin Agustina Bazterrica. Im vergangenen Jahr wurde dieser bei Suhrkamp Nova veröffentlicht und auch der deutsche Titel klingt nicht minder schauderhaft: „Wie die Schweine“. Und appetit- licher wird’s auch nicht. Nein, Wie die Schweine ist kein Wohlfühl-Roman, sondern eine grauenerregende Dystopie.

Ein Virus geht um die Welt. Doch nicht wie das Coronavirus, das hauptsächlich Menschen zum Verhängnis wird, greift das Virus in Wie die Schweine die Tiere an. Und zwar alle Tiere. Und glaubt man der Regierung, so springt das Virus beim Verzehr von Fleisch auch auf den Menschen über und macht ihn ebenfalls todkrank. Was folgt ist eine globale Ausrottung all dessen, was animalisch und groß genug für den menschlichen Verzehr ist. Kühe, Schweine, Hühner – Massentierhaltung ade. Nun mag manch Optimist*in freudig die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und rufen: „Toll, ein Problem weniger!“. Doch Agustina Bazterrica ist keine Optimistin. Wer sich einmal an etwas gewöhnt hat, der lässt sich auch von solch einem Virus die Gewohnheit nicht nehmen. Zu groß ist das Verlangen nach einem beherzten Biss in ein saftiges Stück Fleisch. Die Flei- schindustrie in der illustrierten Dystopie hat glücklicherweise einen Weg gefunden, wie uns dieser Genuss erhalten bleibt. Aus Massentierhaltung wird Massenmensch- haltung und Mensch verzehrt Mensch. Ganz ohne Scham und Bedenken. Marcos ist der Protagonist des Romans. Er verantwortet eine Einrichtung, welche Menschen industriell züchtet, aufzieht und letztendlich für den Verzehr tötet - einen modernen Schlachthof eben. Natürlich spricht man dort nicht mehr von Menschen, sondern von „Stücken“ und auch das Fleisch dieser „Stücke“ ist nicht einfach nur Fleisch, sondern „Spezialfleisch“, zwinker, zwinker. Abgesehen davon ist die Arbeit in der Schlachterei jedoch Routine, Tagesgeschäft, Normali- tät und Marcos ein gewöhnlicher Produk- tionsleiter. Nun, nicht ganz. Er hat auch noch ein Geheimnis. Ein Geheimnis zu Hause im Keller, aber das sollen die mu- tigen Lesenden lieber selbst entdecken.

Wie die Schweine ist kein Brave New World- Roman, es ist auch keine Heldengeschichte. Es will keinen Spaß machen, es will aufzeigen und schockieren. Es zeigt uns, wie beunruhigend bekannt uns diese fremde Welt vorkommt. Doch ist Wie die Schweine auch keine schlichte Kritik am Fleisch Essen an sich, es ist vielmehr eine gekonnt symbolische Kritik am System. Ein sehr lesenswertes Buch aus einem Land, in dem Fleischverzehr oft mit einem kul- turellen Selbstverständnis gedacht wird. Kein Buch für den schwachen Magen – Wie die Schweine geht unter die Haut

 

Enrico Andreska 


Wunder und andere Unmöglichkeiten

2015 erschienen bei Matthes & Seitz Berlin die ersten drei Bände der Reihe Bibliothek César Aira. Mit Band Zehn, dem Roman Die Wunder- heilungen des Doktor Aira, verspricht der Verlag nun eine Einführung in das umfangreiche Werk des argentinischen Autors – und in dessen ganz eigene Poetik.

Allein die Cover der deutschsprachigen Ausgaben der zehn schmalen Bände aus dem Werk César Airas verheißen das Wundersame, Groteske, Unerhörte: Die Büste einer Nonne mit Erdbeerkopf, ein Papagei, der auf einer Bombe hockt, ein gehörnter Mönch im Lotussitz ... nun, im Coronajahr: ein Hund mit Atemschutzmaske. Doch Die Wunderheilungen des Doktor Aira ist kein Pandemieroman. Dennoch und obwohl im spanischsprachigen Original bereits 1998 erschienen, passt dieses rasante philosophische Verwirrspiel um Fakt und Fiktion, Traum und Wirklichkeit, „Vernunft“ und „Realismus“ gut in unsere heutige Zeit, in der die Hoheit über das, was als wahrhaftig akzeptiert wird, hart umkämpft ist.

Der zehnte Band der Reihe – in der jedes Werk für sich steht, auch wenn es Verbindungen gibt – kreist um den somnambulen und paranoiden Wunderheiler Doktor Aira, der zu Beginn des Romans durch die Straßen von Flores, Buenos Aires, wandelt. Zwischen Erinnerungen an seine Kindheit und dem Bewusstsein, den Zenit seines Lebens bereits überschritten zu haben, sinniert er über die „Blamagen“ seines Lebens bis er schließlich vor einer Libanon-Zeder innehält, um der Natur zu huldigen und dem Baum sein armes Heilerherz auszuschütten.

Doch eine Midlife-Crisis ist nicht das einziges Problem des Doktors: Über Funk und Fernsehen in Buenos Aires zu einiger Berühmtheit gelangt, muss der Wunderheiler ständig auf der Hut sein, denn der abtrünnige Doktor Actyn, Chefarzt für Inneres am Hospital Piñero, setzt tagtäglich alles daran, ihn der Scharlatanerie zu überführen. Dabei hat Aira doch die Formel zur Wunderheilung längst gefunden! Würde sich doch nur eine Gelegenheit bieten, seine Fähigkeiten endlich einmal unter Beweis zu stellen – eine, die nicht von Actyn inszeniert ist ... Denn tatsächlich hat der Held so viel damit zu tun, den Fallen seines Antagonisten zu entgehen, dass er zum Wunderheilen gar nicht kommt. Bis er am Ende muss.

In eindrücklichen Bildern und brillanter Sprache lotet César Aira in Die Wunderheilungen des Doktor Aira nicht nur die Grenzen und mannigfaltigen Möglichkeiten literarischen Erzählens aus, sondern verhandelt auch die Fall- stricke moderner Massenmedien. Am Ende steht ein unmögliches Finale, das einem den Atem raubt.

Wird die normative Kraft des Faktischen die Unwahrheit besiegen? Was ist das Faktische?

Mit Sicherheit lässt sich nach der Lektüre eins sagen: Man hat Lust auf mehr von diesem Autor. Wie gut also, dass es noch neun Bände zu entdecken gibt.

 

Julius Hendricks