Vom Rieseln der Zeit

Argentinische und brasilianische Beiträge auf der 56. Berlinale

von Sonja Hofmann

Die Spielfilme und Dokumentationen aus Brasilien und Argentinien, die in den verschiedenen Programmen der diesjährigen Berlinale zu sehen waren, drehten sich zumeist um ganz spezielle Familienkonflikte. Die Konstellationen reichten vom Vater-Sohn-Problem im Beitrag von Daniel Burman bis zum Mutter-Tochter- Drama, gespielt von den brasilianischen Stars Fernanda Montenegro und Fernanda Torres.

 

Daniel Burman ist bereits ein Dauergast auf den Berliner Filmfestspielen. Mit seinem mittlerweile fünften Spielfilm wurde er zum vierten Mal auf das Festival der deutschen Hauptstadt geladen. Gelöster, beinahe heiter wirkte er denn auch bei der Präsentation von Derecho de familia im voll besetzten Zoo-Palast, in dem sein neues Werk als Eröffnungsfilm der Panorama- Sektion gezeigt wurde. Daniel Hendler spielt darin den Sohn des Anwaltes Dr. Perelman. Ariel ist ebenfalls Anwalt, doch fühlt er sich in der Nachahmung seines Vaters sichtlich unwohl. Auch als er selbst Vater wird, gelingt es ihm nicht, dieser Rolle gerecht zu werden. Sein kleiner Sohn scheint ein Wesen von einer anderen Galaxie zu sein.

 

Während es in Burmans letztem Spielfilm El abrazo partido, für den er im Wettbewerb der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, um eine Identitätsfindung aufgrund eines abwesenden Vaters ging, muss sich Ariel Perelman allmählich daran gewöhnen, dass er seine eigenen Entscheidungen treffen, sein eigenes Leben leben muss, statt den perfekten Schatten seines Vaters zu geben.

 

Ein Schattendasein führt auch der Protagonist im diesjährigen argentinischen Wettbewerbsbeitrag El Custodio. Der erste eigene Spielfilm des 1972 geborenen Argentiniers Rodrigo Moreno zeigt die alltägliche Routine eines Leibwächters. Rubéns Aufgabe ist es, den Minister für Planung auf Schritt und Tritt zu begleiten. Er hält Wache vor den Türen der Konferenzzimmer, ja sogar vor den Toilettentüren, er begleitet den Minister nach Hause, auf den Landsitz, er bewacht seinen Schlaf, holt die Toch- ter von der Schule ab und fährt den Minister bei seiner Geliebten vorbei.

 

Doch bei allen Aktionen steht er im Abseits, von den Gesprächen und Inhalten bekommt er nichts mit; er ist immer dabei und gehört doch nicht dazu. Der Regisseur fuhr zur Vorbereitung seines Films einen Tag lang mit wirklichen Leibwächtern eines Ministers mit. Ihn interessierte das Schweigen dieser Männer, deren Hauptaufgabe es ist, nicht zu stören, immer präsent und zugleich unsichtbar zu sein. Um dieser Absurdität zu entsprechen, kommt der Film mit äußerst wenigen Dialogen aus. Wir folgen Rubéns eintönigen Autofahrten und irgendwann bemerken wir, dass wir darauf gefasst sind, dass hier noch etwas passieren wird, dass Rubén sein Leben im Schatten eines anderen Menschen längst satt hat, dass es unter seiner Schutzweste schon zu brodeln begonnen hat.

 

Brasilianische Familiensaga

 

Der brasilianische Regisseur Andrucha Waddington (Eu, tu, eles – Ich, du, sie-Darlenes Männer, 2000) drehte mit Casa de areia eine sich über fast 60 Jahre erstreckende Familiensaga. Die Geschichte beginnt 1910, als sich Dona Aurea mit ihrer Mutter Maria und einer Hand voll anderer Menschen, angeführt von ihrem Mann Vasco durch eine Sandwüste im Norden Brasiliens schleppt. Ihr vornehmes Leben in der Hauptstadt mussten sie für den Traum des Gatten aufgeben, der hier ein Stück Land gekauft hat, das er zu bewirtschaften trachtet. Schon bald suchen die anderen Männer das Weite, Vasco kommt um. Die beiden Frauen sind auf sich allein gestellt. Die schwangere Aurea bekommt eine Tochter, die sie wiederum Maria nennt. Mit Hilfe eines in der Nähe lebenden entlaufenen Sklaven organisieren sie ihr Überleben auf der Sanddüne, doch jegliche Versuche, die unwirtliche Gegend wieder zu verlassen, scheitern.

 

Waddingtons Familiensaga ist tatsächlich eine Familienproduktion: Mutter und Tochter werden von den beiden brasilianischen Filmstars Fernanda Montenegro und Fernanda Torres – auch im wirklichen Leben Mutter und Tochter – in wechselnden Rollen gespielt. Zudem ist der Regisseur mit Fernanda Torres verheiratet. Der gefragte Werbefilmer hat seine Geschichte in perfekte Bilder von bizarrer Naturschönheit gekleidet. Fasziniert schaut man dabei zu, wie die beiden Frauen sich in Sand und Wind abmühen, ihr Haus auf der Wanderdüne zu erhalten.

 

Doch der Fortgang der Geschichte, in der es mit zunehmendem technischen Fortschritt der Tochter Maria schließlich gelingen wird, fortzugehen, wirkt irgendwann allzu konstruiert und lediglich als Hintergrund für die sonnendurchfluteten Bilder der Sandwüste von Maranhão.

 

Von ganz realen Schwangerschaften hingegen berichtet die Dokumentation Meninas aus Rio de Janeiro. Sandra Werneck (Amores Possíveis, 2001) und ihre Co- Regisseurin Gisela Camara begleiteten ein Jahr lang vier schwangere Teenager in der Favela Rocinha: Die 13jährige Evelin, die 14jährige Edilene, deren Freund Alex gleichzeitig auch seine Ex-Freundin, die 15jährige Joice schwängerte und die 15jährige Luana, die mit ihrer Mutter und mehreren Schwestern lebt. Nahezu jede fünfte Schwangere in Brasilien ist ein Teenager. Sandra Werneck wollte das Umfeld dieser Mädchen kennenlernen, deren eigene Kindheit meist schon früh endet. Oft organisieren sie den Haushalt, passen nebenbei auf ihre jüngeren Geschwister auf. Die frühe Mutterschaft wird dann gerne mit dem Status des Erwachsenseins verwechselt. Die Mädchen erhoffen sich durch ihre Schwangerschaft mehr Anerkennung. Sehr selbstbewusst und selbstsicher gehen sie damit tatsächlich auch um. Erst im Nachhinein bereuen sie es dann manchmal, dass sie die Schule nicht beenden konnten, bestimmte Träume nicht mehr verwirklichen können. Stattdessen wiederholen sie die Geschichte der eigenen Mütter.

 

Nach Art des „direct cinema“ versuchten die Regisseurinnen, die Mädchen in normalen Situationen und Gesprächen mit ihren Eltern und Freunden zu filmen, ohne die Situationen erst kreieren zu müssen. Durch das vertraute Verhältnis, das sie sich zu den vier Mädchen erarbeitet hatten, ist eine äußerst natürliche, vielseitige und objektive Dokumentation entstanden, der man ein großes Publikum wünscht.

 

In der Nähe von Rio, in Baixada Fluminense, drehte Kiko Goifman seine Aufnahmen von der Verarbeitung eines Massakers, das dort im März 2005 verübt wurde. 29 Menschen wurden von Todesschwadronen getötet. In vier Teile gegliedert berichtet der Film von den Bewohnern wie auch den Killerkommandos der Gegend. Atos dos Homens wurde bereits im vergangenen Jahr auf dem Filmfestival von Locarno als Work in Progress vorgestellt. Matices berichtete darüber in No. 47. Jetzt konnten wir erneut mit dem Regisseur und Anthropologen über seinen fertiggestellten Film sprechen.