Wir müssen mit dem Freihandel brechen!

Interview mit dem bekannten mexikanischen Professor für Ökonomie, Arturo Huerta González

von Lennart Laberenz

Um einen Ausweg aus der mexikanischen Wirtschaftskrise zu finden, fordert der bekannte mexikanische Professor für Ökonomie, Arturo Huerta González (56), von der staatlichen Universität in Mexiko Stadt (UNAM) eine Abkehr von der neoliberalen Politik und eine Rückkehr zum Protektionismus. In dem mit Papieren zugestopften Büro schaut neben Huerta ein offensichtlich fröhlich gelaunter Karl Marx aus einem ungewöhnlich bunten Portrait in die Runde.

 

Mexiko galt in den 1990er Jahren als Avantgarde einer neoliberaler Umstrukturierung von Ökonomie und Gesellschaft. Welches waren die wesentlichen Charakteristika?

 

Zum Ende der 1980er Jahre fiel die politische Entscheidung, sich wirtschaftlich zu öffnen, sowohl in Bezug auf den Warenverkehr als auch den Finanzsektor. Die mexikanische Politik wählte einen Kurs der Deflation, einen Sparkurs bei öffentlichen Ausgaben, Geldabwertung und Währungsschrumpfung, um Auslandsschulden bezahlen zu können. Das waren wesentliche Charakteristika zwischen 1982-1987. Die Regierung von Salinas de Gortari (1988-1994) fand, dass es einen Überfluss an Kapital in internationalen Finanz- und Warenmärkten gab, und so verstärkten sie eine Politik zugunsten von Kapitalflüssen ­ ebenfalls um die Auslandsschulden bezahlen zu können. In der Konsequenz sehen wir seitdem eine Finanzpolitik, die sich der Wechselkursstabilität verschrieben hat.

 

Eine künstlich niedrige Inflationsrate?

 

Richtig. Eine Politik, die vor allem vom internationalen Finanzkapital eingefordert wurde und wird ­ schließlich wollen sie, dass die Währung in einem Land, in welchem sie investieren, stabil ist. Und genau jenes internationale Finanzkapital verlangte eine Politik des unbehinderten Kapitalflusses, wofür eine gewisse Rentabilität gewährleistet werden musste. Also ein beschleunigter Prozess der Privatisierung von staatlichen Firmen. Dies beobachteten wir insbesondere zum Anfang der 1990er Jahre: Mexiko verkaufte die Banken, die Telekommunikation, den Bergbau ­ alles, um Devisen ins Land zu bringen, die Börsenkurse anzuheben und um attraktiv für Direktinvestitionen und das internationale Kapital zu sein. Problematisch wurde die Situation ab 1994, als Mexiko fast alles privatisiert hatte und sich die Kapitalzuflüsse verringerten. Gleichzeitig stieg auch unser Außenhandelsdefizit. Unter anderem hat ab Dezember 1994 die Politik der Währungsstabilität und der Begünstigung von Währungs- und Börsenspekulation Mexiko in die drastische Wirtschaftskrise getrieben. Dessen ungeachtet führte die neue Regierung jene Stabilitätspolitik weiter. Also wieder: Stärkung des Peso und hohe Zinsen, fiskalische Disziplin. Bei den Verhandlungen über die Auslandsschulden war diese Politik Garant für Kompromisse. Dies können wir zum Beispiel in der Rede von Clinton vor dem US-Kongress erkennen, als er zu Beginn der mexikanischen Wirtschaftskrise die Kredite zur Unterstützung des neoliberalen Modells in Mexiko rechtfertigt. Er sagte vor dem Kongress, dass die Interessen der USA gefährdet wären, wenn Mexiko nicht unterstützt würde. Und dies nicht nur im Hinblick auf den Wirtschaftsaustausches, sondern weltweit, weil gerade Mexiko als internationales Beispiel für ein Wirtschaftsmodell stand. Ganz Lateinamerika und die ehemals sozialistischen Länder beobachteten die Entwicklung in Mexiko, um diese Politiken zu kopieren.

 

Die Krise in Mexiko also als Gefahr für die politische Rhetorik der USA?

 

Mehr noch, Clinton sagte, dass rasche Abhilfe für die Krise der mexikanischen Wirtschaft deshalb unabdingbar sei, weil sonst die Krise zu einem Umdenken hinsichtlich des gesamten wirtschaftlichen Modells weltweit hätte führen können. Die Amerikaner gewährten einen Hilfskredit von über 30 Milliarden US-Dollar, allerdings unter der Kondition, mit genau der gleichen Wirtschaftspolitik fortzufahren. Also wieder Stabilisierung von Währung und Wechselkurs. Zu dieser Zeit profitierte Mexiko davon, dass die US-Konjunktur eine starke Nachfrage nach Importgütern unterstützte und die mexikanische Wirtschaft wachsen ließ. Wir können einen starken Anstieg der Exportgüter und eben einen starken Kapitalzufluss beobachten. Von 19962000 wuchsen bestimmte Exportbranchen in Mexiko zweistellig. Das Problem allerdings ist, dass jene Exporte wiederum auf Import von Rohstoffen und Teilfertigprodukten bestand. Die wurden hier nur zusammengeb a u t und wieder exportiert.

 

Das starke Wirtschaftswachstum brachte keine größere wirtschaftliche Entwicklung und keinerlei Entwicklung des Binnenmarktes hervor. Als also die Dynamik der US-Wirtschaft 2001 einbrach, hat uns das sehr stark getroffen. Die Folge war ein immenser Fall der Exportquote und somit ein Zusammenbrechen des Kapitalzuflusses.

 

Wie sieht denn die Politik der Regierung Fox unter diesen Umständen aus?

 

Zunächst einmal ist das eine sehr defensive Politik. Die erwähnte niedrigere Exportquote und der schrumpfende Kapitalzufluss wird gegenwärtig durch eine Sparpolitik beantwortet. Damit die internationale Krise nicht die Währungsstabilität beeinträchtigt, fährt die Regierung eine Hochzinspolitik und einen Kurs der Reduzierung öffentlicher Ausgaben, die Öffnung des in staatlicher Hand verbliebenen Öl- und Energiesektors für internationale Investoren ist ein Beispiel dafür. Warum? Um den Zufluss von internationalem Kapital zu sichern und zu fördern, sowie die Auslandsschulden bezahlen zu können. Denn wir haben gegenwärtig keine produktiven, monetären oder mikroökonomischen Wachstumsmöglichkeiten mehr.

 

Aber doch nicht aufgrund der generellen Disposition der mexikanischen Wirtschaft ...

 

...überhaupt nicht, dies ist eine Konsequenz der vorherrschenden Politik! Die Politik des so genannten Freihandels hat die nationalen Produktionszusammenhänge attackiert! Tatsächlich hat die wirtschaftliche Öffnung des Landes, vereint mit einer erzwungenen Währungsstabilität, zu einer stärkeren Deindustrialisierung geführt. Dies hat die Auftragslage und so die Einkünfte der mexikanischen Firmen beeinträchtigt. Viele Unternehmen sind hochgradig verschuldet und können diese Schulden gar nicht mehr bezahlen, wir haben noch nach 1995 exorbitant viele Pleiten. Und da wir keinen eigenen Bankensektor mehr haben, bekommen die Firmen auch keine Kredite mehr. Die Regierung insistiert auf ihrer Finanz- und Wirtschaftspolitik und verhindert somit eine Entwicklung von Binnenmärkten. Wir haben kein binnenwirtschaftliches Wachstum, alle Kraft orientiert sich auf den Export zur Schuldentilgung.

 

Wie sehen die Positionen der mexikanischen Regierung angesichts der Verhandlungen der WTO oder gegenüber weiteren Freihandelsabkommen aus?

 

Im Zusammenhang mit den WTO-Verhandlungen in Cancún spielte Mexiko die Rolle eines Streikbrechers gegenüber der Gruppe der 22 Länder, die sich zu einer Artikulation gegen die Politik der USA, der EU und Japan zusammengefunden hatten. Brasilien, Indien und China hatten dort eine wortführende Rolle übernommen. Eigentlich war Mexiko dieser Gruppe nur beigetreten, um die anderen Länder von der Notwendigkeit der Annahme der Position der entwickelten Länder zu überzeugen. Die mexikanische Regierung hat die Position der USA, nicht über Subventionspolitik zu diskutieren, von vorne herein akzeptiert und versuchte, diese in die G22 hineinzutragen. Es hat sich gezeigt, dass Mexiko wieder einmal nicht zur Verteidigung von Interessen der Entwicklungsländer agiert hat. Im Hinblick auf den FTAA-Vertrag (Free Trade Area of the Americas) ist Mexiko bereits vollständig eingekauft. Mexiko hat den NAFTA-Vertrag (North American Free Trade Association) mit den USA und Kanada unterschrieben. Mexiko hat gegenüber den USA in eigentlich allen wirtschaftlichen Positionen den eigenen Standpunkt aufgegeben. Wir haben keine Politik der öffentlichen Investitionen mehr, keine Politik der Verstaatlichung von Industrien. Mexiko hat alle Fragen der Landwirtschaftspolitik, Fragen der Urheberschaft und Patente bis hin zur Genpolitik und Zollregelungen den Interessen der USA untergeordnet. Der Hintergrund des FTAA ist das wirtschaftliche Interesse der USA an den brasilianischen Märkten. Brasilien ist die zentrale lateinamerikanische Wirtschaft mit einer höheren Akquisitionskraft etwa als Deutschland, Frankreich oder Italien, ein Markt von 170 Millionen Menschen.

 

Stellt sich denn diesbezüglich mit der Regierung Lula ein Problem für die USA?

 

Nun, die Position der Brasilianer ist, in die Verhandlungen einzutreten, sobald die USA ihre Subventionspolitik für die Landwirtschaft und die Unterstützung für Dumpingstrategien rückgängig macht. Brasilien hat ein starkes landwirtschaftliches Potenzial und, wenn man so sagen will, eine hohe Wettbewerbsfähigkeit gerade gegenüber den USA. Wenn die USA ihre Subventionspolitik beenden würden, würden gerade landwirtschaftliche Produkte die US-Märkte erobern ­ ein Umstand, den die US-Regierung verhindern will. Vor diesem Hintergrund haben die USA eine wirtschaftliche Isolationspolitik gegenüber Brasilien orchestriert. Als die Brasilianer anfingen eine Blockpolitik der lateinamerikanischen Staaten gegenüber den USA zu organisieren, haben die USA diesen Block mit bilateralen Strategien zu spalten gewusst.

 

Ein weiterer Schritt ist, die Politik der Freihandelszone zu beschleunigen, um so den Druck auf die Brasilianer, sich dem Willen der USA zu beugen, zu erhöhen.

 

Diese Strategie bedeutet für Mexiko, dass es den Marktkräften der USA vollkommen ausgeliefert ist. Zumal Sie ja festgestellt haben, dass es keine nachfrageorientierte Strategie gibt. Wie kommt eine nationale Ökonomie da wieder heraus?

 

Mexiko müsste, um die gegenwärtige Stagnation und Abwärtsentwicklung zu überwinden, eine konsequente Politik zugunsten der Binnenwirtschaft organisieren, das heißt die öffentlichen Ausgaben steigern und mit einem Haushaltsdefizit und höheren Inflationsraten Politik machen. Genau das Gegenteil wird aber prominent vom Internationalen Währungsfonds (IWF) erzwungen. Der Kontext einer Globalisierung, die insbesondere vom Finanzkapital organisiert wird, bedeutet für staatliche Politik eine straffe Haushaltsdisziplin. Von dieser Warte aus gibt es also keinen Ausweg.

 

Der bloße Anstieg von öffentlichen Ausgaben ist jedoch noch kein Garant für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Um die Binnenwirtschaft zu dynamisieren, müssen wir zudem zu einer Politik des Protektionismus zurückkehren. Also, die Idee des Freihandels beiseite lassen. Mexiko hat mit 32 Ländern Freihandelsabkommen und ist damit weltweit Spitzenreiter in dieser Kategorie. Dies bindet uns an einen Kurs, der eine Stärkung der Binnenwirtschaft verhindert. Wir konstruieren damit eine größere Verwundbarkeit im Moment der Wirtschaftskrise und zementieren damit geradezu das Niveau der Unterentwicklung.

 

Also komplett mit dem IWF brechen? Aus der WTO austreten ? Die Freihandelsabkommen kündigen und eine staatliche Steuerung einführen?

Ja. Der freie Geld- und Warenverkehr, der in den letzten Jahrzehnten vom IWF und der WTO durchgesetzt wurde, bedeutet für uns Stagnation und Krise. Aus dieser Globalisierung müssen wir ausbrechen. Dieser Freihandel erlaubt keine Stabilisierung der Ökonomien der unterentwickelten Länder. Er ist vielmehr für die Stagnation in der Unterentwicklung verantwortlich. Das sehen wir in Mexiko und weltweit. Also müssen wir damit brechen.

 

Scheint nicht so einfach, schließlich bedeutet das nichts weniger als eine umfangreiche Strukturreform der existierenden Wirtschaft. Wie kann ich mir denn die Schritte einer solchen Politik vorstellen?

 

Das Problem ist, dass effektiv niemand einen solchen Ausweg befürwortet. Das Grundschema der derzeitigen Globalisierung funktioniert über eine Finanzierung der Handelsdefizite und Verschuldung durch Privatisierung und Ausverkauf. Gleichzeitig sollen Phänomene wie gesellschaftliche Desintegration und existenzielle Armut ein wenig verschleiert werden, bleiben aber das Grundmuster und die Voraussetzung dieser Wirtschaftsform. Unsere Regierungen sind dabei, diese Globalisierung zu verschärfen, die Privatisierung zu beschleunigen und die Unterentwicklung der nationalen Märkte zu erhärten. Was aber passiert, wenn alles verkauft ist? Wir steuern in Richtung Argentinien. Die haben alle wichtigen Staatsbetriebe verkauft und alle Devisen für die vergebliche Schuldentilgung verbraucht. Und stehen mit dem Rücken zur Wand da. Dieses Beispiel zeigt, dass der freie Waren und Geldverkehr keine endogenen Wachstumspotenziale stimuliert, sondern sie eher zerstört.

 

Wenn dann einmal alles privatisiert und verkauft ist, wenn es keine Wachstumspotenziale für den Binnenmarkt mehr gibt, stagniert der Kapitalzufluss, unter Umständen kollabieren die Währungen, das gesamte internationale Kapital wird abgezogen, Börsen fallen in sich zusammen und der Staat ist handlungsunfähig.

 

Es gibt aber auch erfolgreiche Strategien. Die hochentwickelten Länder sind dies aufgrund ihrer protektionistischen Politik! Da wurden Binnenmärkte durch staatliche Intervention geschützt und der Konsum gestärkt. Dazu hat keine Politik der freien Märkte beigetragen, im Gegenteil, die Politik der freien Märkte hat die Krise der 1930er Jahre herbeigeführt. Wir bewegen uns also erneut auf veralteten Pfaden der Vergangenheit.

 

Mexiko hat nach einer aktuellen Studie einen informellen Sektor von etwa 47 Prozent der arbeitenden Bevölkerung. Es gibt eine hohe Arbeitslosenquote . Hat der formelle Arbeitsmarkt überhaupt die Möglichkeit, all diese Leute zu absorbieren? Und wie lässt sich auf diesem Fundament eine keynesianische Politik organisieren?

 

Der gegenwärtige Prozess der Globalisierung hat zu einer Deindustrialisierung und Entkapitalisierung der produktiven Sektoren geführt. Das stimmt sowohl für die Industriezweige als auch für die Landwirtschaft. Das spiegelt sich in weniger Arbeitsplätzen im formellen Sektor und so müssen die Leute im informellen Sektor überleben. Die Frage also bleibt die gleiche: Wie können die öffentlichen Ausgaben gesteigert werden und wie kann die Wirtschaft dynamisiert werden? Die Antwort ist wieder: Stärkung der Nachfrage auf dem Binnenmarkt. Dies kann in Form der öffentlichen Investitionen, wie auch der privaten Investitionen geschehen. Allerdings: Der Sektor des nationalen Kapitals hat seine Ausgaben drastisch reduziert, weil er hoch verschuldet ist. Schulden, die aus der schlagartigen Konfrontation mit dem staatlich subventionierten internationalen Kapital resultieren. Die Regierung ordnet sich der Disziplin des internationalen Finanzkapitals unter. Also kann der Export kein Wachstumspotenzial bilden und ebenso wenig kann die private nationale Wirtschaft dies tun. Tatsächlich kann doch nur die öffentliche Hand der Wachstumsmotor sein, sie muss mit fiskalischem Defizit arbeiten und die Märkte ankurbeln. Wir sehen aber, dass die Regierung seit den 1990er Jahren genau das Gegenteil tut und eine niedrige Inflationsrate mit fiskalischer Disziplin erzeugt. Und wir sehen ebenso, dass das Außenhandelsdefizit und die Schulden weiter bestehen bleiben. Wir können die Wirtschaft dynamisieren, indem wir mit defizitären Ausgaben der öffentlichen Haushalte arbeiten, solange sie mit Importsubstitution, mit einer Steigerung der Produktivität und mit einer Steigerung der Güter aus nationaler Produktion einhergeht. Mit dieser Form des Wachstums können wir die Binnennachfrage befriedigen und eine Preisstabilität erzeugen. Das Wichtige ist die Steuerung der öffentlichen Ausgaben in produktive Investitionen und nicht bloß für Importe. Dafür braucht es Staaten, die die nationalen Interessen vor die internationalen Interessen stellen und die einen Ausweg aus der Unterentwicklung suchen