Die Arbeit an der Erinnerung

Der spanische Autor Manuel Vázquez Montalbán

von Claudia Jünke

Er war einer von Spaniens führenden Schriftstellern und Intellektuellen, Chronist des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie und Schöpfer des unvergesslichen Pepe Carvalho. Manuel Vázquez Montalbán starb im vergangenen Oktober im Alter von 64 Jahren.

 

Wenn ich sterbe, verschwindet die Erinnerung an die Zeiten und die Menschen, die mich seit meiner Geburt zum Zuschauer ihrer eigenen Tragödie gemacht haben“ – dies sagt in einem seiner melancholischen Momente der Privatdetektiv Pepe Carvalho, die wohl bekannteste Gestalt im literarischen Werk von Manuel Vázquez Montalbán. Man möchte diesen Ausspruch dem Autor selbst in den Mund legen, hat doch Spanien mit seinem Tod im vergangenen Oktober einen der aufmerksamsten Zeugen und Chronisten der Veränderungen, Widersprüche und Tragödien seiner kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit verloren.

 

Ein gesellschaftlicher und kultureller Grenzgänger

 

Scheint es kaum möglich, die vielfältigen literarischen und nicht-literarischen Aktivitäten des Vielschreibers Vázquez Montalbán in wenigen Schlagworten zusammenzufassen, so ließe sich dies doch als eine Konstante festhalten, die sich in verschiedener Form wie ein roter Faden durch seine Arbeiten zieht: Das Bestreben, ein wacher und kritischer Beobachter des Zeitgeschehens zu sein und damit Erinnerungsarbeit zu leisten – das zu dokumentieren, was die Menschen jeweils beschäftigt, aber auch das ans Licht zu bringen, was von offizieller Seite gerne dem Vergessen anheim gegeben werden soll. Und dies nicht in moralisierendem Ton, sondern mit Humor, Ironie und dem präzisen Blick auf den Einzelnen und das Alltägliche.

 

Die herausragende Rolle Vázquez Montalbáns in der spanischen Gegenwartskultur lässt sich nicht nur aus der Bedeutung seiner kritischen Arbeit an der kollektiven Erinnerung ableiten, sondern auch aus seiner Rolle als Grenzgänger zwischen verschiedenen Bereichen der Literatur, Kultur und Gesellschaft. Bereits sein Geburtsjahr 1939 markiert eine Grenze innerhalb der Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, ist es doch das Jahr, in dem das definitive Ende der demokratisch gewählten zweiten spanischen Republik besiegelt und der von Franco ausgerufene ‚heilige Kreuzzug’ institutionalisiert wird. Es beginnen die langen Jahre der Diktatur und gleichzeitig der Widerstand gegen dieses System, dem sich Vázquez Montalbán später anschließen wird.

 

Geboren wird der Autor im Barrio Chino von Barcelona, einem der armen Altstadtviertel, in dem er auch seine Jugend verbringt. Trotzdem schafft er es an die Universität: Sein Studium der Journalistik – das er anschließend durch ein Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie ergänzt – finanziert er sich als Versicherungsvertreter. Als Sohn andalusisch-galicischer Eltern ist er in der katalanischen Metropole, in der er bis zu seinem Tod leben wird, nicht nur Grenzgänger zwischen den verschiedenen sozialen Milieus, sondern auch zwischen den unterschiedlichen regionalen Kulturen Spaniens: ein untypischer Katalane, der sich einerseits der Region verbunden fühlt, dessen Muttersprache und schriftstellerisches Medium andererseits jedoch nicht die identitätsstiftende katalanische Sprache, sondern das Kastilische ist.

 

Politischer Widerstand und zeitkritischer Journalismus

 

Vázquez Montalbán beginnt früh, sich dem antifranquistischen Widerstand anzuschließen und engagiert sich im kommunistischen PSUC (Partit Socialista Unificat de Catalunya). Nachdem er 1959 an einer Solidaritätsdemonstration für streikende Bergarbeiter in Asturien teilgenommen hat, wird er für 18 Monate ins Gefängnis gesperrt. Sein politisches Engagement prägt auch seine Karriere als Journalist, die nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis beginnt. Sein journalistisches Werk ist nicht weniger umfangreich als sein literarisches; er schreibt für verschiedene oppositionelle Zeitungen und Zeitschriften und ist teilweise auch – beim legendären Por favor – als Herausgeber tätig. Aus einer Serie von kulturkritischen Reportagen, die er Ende der sechziger Jahre für die berühmte Zeitschrift Triunfo verfasst, geht der Band Crónica sentimental de España (1971) hervor, ein Buch, in dem er die Bedeutung der spanischen Populärkultur herausstellt und ein Umdenken innerhalb der spanischen Linken fordert.

 

Sein zeitkritischer Blick verliert auch nach dem Ende der Diktatur 1975 nicht an Schärfe: Zielsicher verweist er auf die Tendenzen zur Mythisierung der spanischen transición, das heißt des Übergangs zur Demokratie, auf das Vergessen, das mit dem Bedürfnis nach schneller Modernisierung der postfranquistischen Kultur und Gesellschaft einhergeht, auf die Schwachstellen innerhalb der Regierungen Felipe González und José María Aznar und die umstrittene Haltung des spanischen Staates während des Irak-Krieges.

Bis zu seinem Tod widmet er sich intensiv dem Journalismus und schreibt unter anderem jeden Montag eine Kolumne in El País.

 

Literatur gegen das Vergessen

 

Berühmt wird Vázquez Montalbán jedoch vor allem durch sein literarisches Werk, das sowohl Lyrik als auch Erzählliteratur umfasst. Im narrativen Genre, in dem hinsichtlich der Themen eine große Schnittmenge mit seiner journalistischen und essayistischen Arbeit erkennbar ist, beginnt er seine Karriere in den sechziger Jahren mit avantgardistischen, hochgradig selbstreflexiven Romanen und Erzählungen, deren Poetik er in seinem Manifiesto subnormal (1970) skizziert. Ab der Mitte der siebziger Jahre erprobt Vázquez Montalbán andere Mittel, um seine Perspektive auf die zeitgenössische Gesellschaft und Kultur im Medium der Literatur zu vermitteln. Er wendet sich ab vom experimentellen Metaroman und sucht eine poetische Sprache, die sich stärker an realistischen Darstellungskonventionen orientiert. Der Autor wird zum literarischen Chronisten der transición und der Demokratie – die Themen von Erinnerung und Vergessen rücken ins Zentrum seiner Arbeit. Die Qualität seiner Texte ergibt sich aus der meisterhaft gestalteten Verbindung von Politischem und Privatem, aus der Darstellung von Zeitgeschichte am individuellen Beispiel. In dem 1985 erschienenen Roman El pianista entwirft Vázquez Montalbán ausgehend von den beiden zentralen Figuren Alberto Rosell und Luis Doria ein kaleidoskopartiges Panorama der spanischen Gesellschaft seit dem Bürgerkrieg. In drei Kapiteln, die nacheinander in die Jahre 1983, 1946 und 1936 hineinblenden, entfaltet sich die Geschichte des Pianisten Rosell und seines Freundes, des avantgardistischen Komponisten Doria, deren Biographien nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs eine unterschiedliche Wendung nehmen: Während sich der Trotzkist Rosell auf die Seite der Republik stellt, sechs Jahre im Gefängnis verbringt und danach ein Leben am Rande der Gesellschaft führt, opfert Doria seine Karriere nicht seinen politischen Überzeugungen und avanciert zu Francos Kulturbotschafter in Paris. In den beiden unterschiedlichen Lebensläufen, die dem Leser in dichten Momentaufnahmen präsentiert werden, sind das priate Leben und das politische Bekenntnis der beiden Protagonisten unauflöslich miteinander verwoben. In einer Zeit, in der man in Spanien im Rausch der demokratischen Errungenschaften zumeist noch wenig von den düsteren Kapiteln des Krieges und seiner Folgen hören möchte, verleiht Vázquez Montalbán den Erinnerungen an diese Epoche eine Stimme. Gleichzeitig führt er damit vor, was Literatur im besten Falle leisten kann: menschliche Subjektivität in ihrer je konkreten historischen und kulturellen Erscheinungsform kritisch darzustellen.

 

Dieses Programm verfolgt er auch in weiteren bedeutenden Werken, so in dem gerade verfilmten Roman Galíndez (1990), der von einer amerikanischen Wissenschaftlerin handelt, die Nachforschungen über die 32 Jahre zurückliegende Ermordung des oppositionellen baskischen Politikers Jesús de Galíndez anstellt, in deren Folge sie selbst den Tod findet.

 

In der Autobiografía del general Franco (1992) werden wie in El pianista zwei unterschiedliche Biographien entworfen und einander kontrastiv gegenübergestellt. Darüber hinaus wird in diesem Buch auch explizit und implizit über die Frage der Möglichkeiten und Grenzen von Geschichtsschreibung und historischer Objektivität reflektiert – der Roman erzählt auch die Geschichte seiner eigenen Entstehung. Er beinhaltet nicht nur die fiktive Autobiographie Francisco Francos, sondern nimmt vielmehr in erster Linie den Prozess der Anfertigung dieser fingierten Memoiren in den Blick. Der Erzähler Marcial Pombo, selbst Opfer der Diktatur und erbitterter Antifranquist, erhält von einem Verlag den Auftrag, die Lebenserinnerungen des caudillo niederzuschreiben – aus dessen Perspektive, so wie dieser sie selbst geschrieben hätte.

 

Vázquez Montalbáns Roman inszeniert nun ein Spannungsverhältnis zwischen Passagen der fingierten Franco-Autobiographie und Abschnitten, die die persönlichen Erinnerungen und Reflexionen des Erzählers beinhalten. Die individuelle und fragmentarische Geschichtserfahrung Pombos konterkariert und revidiert das – ebenfalls von Pombo entworfene – offizielle und monolithische Geschichtsbild des Francoregimes. Pombos Stimme erscheint als unerwünschtes ‚Rauschen’ im Diskurs der Mächtigen – auch nach 1975, wie der Erzähler feststellen muss: „die Geschichte hat eine glatte Oberfläche, und da passt kein störendes Rauschen wie das wütende oder verzweifelte Schluchzen oder Schreien“. Auch in diesem Roman stellt der Autor damit die Amnesie der spanischen transición heraus, indem er die Vorstellung von einer objetividad histórica grundsätzlich in Frage stellt und den kulturellen Wert subjektiver Erinnerung betont.

 

Pepe Carvalho – Detektiv, Gourmet und kritischer Leser

 

International populär geworden ist Vázquez Montalbán vor allem durch seine mittlerweile mehr als 20 Bände umfassende und in 24 Sprachen übersetzte Krimireihe um den Privatdetektiv Pepe Carvalho. Dieser hat unter Franco wegen politischer Aktivitäten im Gefängnis gesessen und danach in den USA für den CIA gearbeitet, bevor er wieder nach Barcelona kommt und als privater Ermittler tätig wird. Wie der Autor selbst ist der in Barcelona tätige Carvalho in verschiedener Hinsicht ein Grenzgänger: Er lebt hoch über der Stadt in dem ruhigen und grünen Viertel Vallvidrera, sein Büro befindet sich aber unten an den Rambles im Barrio Chino; er ermittelt sowohl in der Welt der Reichen und Erfolgreichen als auch in der der Kleinkriminellen und sozialen Randfiguren der Altstadtviertel – ein Milieu, aus dem auch seine Dauerfreundin, die Prostituierte Charo, und sein skurriler Mitarbeiter Biscuter, sein einstiger Zellennachbar im Gefängnis, stammen. Unter Rückgriff auf die Gattung der novela negra nach dem Vorbild der amerikanischen Klassiker von Raymond Chandler und Dashiell Hammett gelingt es Vázquez Montalbán einmal mehr, die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen und Umbrüche in Spanien seit Mitte der siebziger Jahre, als der erste Carvalho-Roman erscheint, aufzuzeichnen – er erzählt von den Gewinnern und Verlierern der Diktatur und der Demokratie, von Linken und Rechten, vom politischen Filz, von den Machenschaften der Hochfinanz oder vom gnadenlosen vorolympischen Umbauwahn in seiner Heimatstadt. Privatdetektive, so sagt Carvalho einmal zu Biscuter, sind „die Barometer der öffentlichen Moral“. Der letzte Carvalho-Roman, den der Autor vor seinem Tod fertigstellen konnte und der in Spanien im Januar unter dem Titel Milenio erscheint, öffnet diese Perspektive auf globale Fragestellungen und führt Carvalho hinaus aus seinem Barcelona, in die gegenwärtigen Brennpunkte der Weltpolitik, Afghanistan und Irak.

 

Carvalho ist jedoch nicht nur Detektiv, sondern auch leidenschaftlicher Gourmet. Die Gerichte, die er im Laufe der Jahre mit oft großem Aufwand und immer großer Kunstfertigkeit zubereitet, sind auch in einem eigenen Buch – Las recetas de Carvalho (1989) – erschienen.

 

Außerdem war der Detektiv in der Vergangenheit einmal ein begeisterter Leser mit einer umfangreichen Bibliothek – die er jetzt aber Stück für Stück im Kamin seines Hauses verbrennt. Warum er dies tue, fragt ihn Charo einmal während eines Buchopfers, und Carvalho antwortet: weil darin nur ein Haufen Unsinn stehe, wie in allen Büchern, die er gelesen hat. Ein Buch von Manuel Vázquez Montalbán findet sich nicht in Carvalhos Bibliothek.