Feinheit und Würde

Sebastião Salgados Les enfants de l’exode in Bonn

von Dirk Ufermann

Im Kontext der Realismusdebatte der 1930er Jahre bemerkte Bertolt Brecht: „Realismus ist eine Angelegenheit nicht nur der Literatur, sondern eine große politische, philosophische, praktische Angelegenheit und muss als solche, große allgemein menschliche Angelegenheit behandelt und erklärt werden.“ Dieser „allgemein menschlichen Angelegenheit“ ist die Fotografie Sebastião Salgados von Anfang an mit großem Engagement verpflichtet. Seine Fotoserie Les enfants de l’exode, in der deutschen Version als Flüchtlingskinder sprachlich etwas eindimensional gefasst, da die globale und zahlenmäßig ungeheure Dimension verloren geht, ist Bestandteil des Exodes-Projektes, an dem Salgado von 1993-2000 arbeitete. Seit Beginn der 1980er Jahre fertigt und organisiert Salgado seine Fotos in Form großer Zyklen. Die auf Forschungsreisen entstandenen fotografischen Untersuchungen münden später in voluminösen Fotobüchern und Ausstellungen. Die Arbeit in Bildserien integriert das Einzelmotiv in eine Gesamtsituation und legt so den Interpretationshorizont fest. Vorgängige Bildserien waren Autres Amériques (1984), Sahel - L’homme en détresse (1986), La main de l’homme / Workers (1993, simultan in acht Ländern publiziert). 1997 erschien Terra, ein Band über die Landlosenbewegung Brasiliens.

 

Tendenziell arbeitet Salgado in der Tradition der humanistischen Fotografie, deren Kennzeichen es ist, mit den Menschen und Situationen in Kontakt zu kommen und sie auf poetisch-empathische Weise ins Bild zu setzen. Das Einverständnis der Fotografierten, die Interaktion von Fotograf und Modell ist wesentliches Moment der Arbeit. André Kertész (1894-1985), Dorothea Lange (1895-1965) – ihr Foto Migrant Mother von 1936 ist ein direktes ikonografisches Vorbild –, Bill Brandt (1904-1983) und Henri Cartier-Bresson (*1908) sind hier Bezugspunkte. Salgados Fotos integrieren den dokumentarisch-engagierten sowie den künstlerischen Aspekt, soziales Engagement und ästhetisches Kalkül.

 

Menschen als privilegiertes Thema Salgados

 

Salgado wurde 1944 in Aimorés, Minas Gerais, Brasilien geboren, floh während der brasilianischen Militärdiktatur, wie auch sein Landsmann Oscar Niemeyer, nach Paris, wo er seither lebt. Salgado begann erst relativ spät mit der Fotografie. Er arbeitete zunächst als Reportagefotograf mit den Agenturen Sygma (1974) und Gamma (1975–79) zusammen. Nach Sergio Larrain war er der erste lateinamerikanische Fotograf, der Mitglied der Agentur Magnum wurde (1979-1994). Durchgängiges Thema von Salgados Arbeiten ist der Mensch, vielleicht konkreter noch: dessen Würde, die er auch unter den widrigsten und unmenschlichsten Bedingungen aufspürt. Kennzeichen seiner Arbeitsweise ist ein ausgiebiges Recherchieren auf Reisen. Reisen ist für ihn eine Lebens-, Erkenntnis- und Arbeitsform zugleich. Dreiviertel des Jahres ist er unterwegs. Reisen geben ihm die Möglichkeit, näher bei sich selber zu sein, den Sinn fürs Essentielle zu schärfen. Gleichzeitig versucht Salgado, mit den Menschen, die er auf den Reisen fotografiert, möglichst viel Zeit zu verbringen, um zu erfahren, was ihre Realität ist, was sie als Realität empfinden. „Ich bereise die Welt auf der Suche nach Menschen, die so sind, wie sie sind.“ Daher sind die Arbeiten weder inszeniert, noch stilisiert, aber doch durch das Auge des Fotografen relativ vereinheitlicht.

 

Salgado bereiste für seinen letzten Zyklus Exodes (in der dt. Buchfassung: Migranten) seit 1993 weltweit Flüchtlingslager. Exodes ist eine Untersuchung über die aktuelle Völkerbewegung. “Wir sind dabei, die Neuorganisation der Menschheit zu erleben, das Konzept der Grenzen wird nicht mehr lange so wie bisher bestehen können.” Die Fotos zeigen einen kleinen Ausschnitt dieser Transformation, darunter die jetzt in Bonn ausgestellten 90 großformatigen Porträtfotos von Kindern in Flüchtlingssituationen u.a. aus Afghanistan, Angola, Bosnien, Brasilien, China, Ecuador, Indien, Indonesien, Kroatien, Kurdistan, Mexiko, Mosambik, Pakistan, Ruanda, Sudan, Zaire.

 

Interessant ist, wie und in welchem Verhältnis sich Salgados Vorgehen als empathischer externer Dokumentarist auf die Kinder auswirkt. Die Porträtierten treten dem Fotografen mit erstaunlichem Selbstbewusstsein entgegen und setzen sich auf eine selbstbestimmte Weise ins Bild: sie lassen sich fotografieren und werden nicht fotografiert. Obwohl vor dem Hintergrund des Lagerdaseins, vor Zäunen, bröckelnden Mauern, Schultafeln und Wellblechwänden aufgenommen, ist es nicht die abbildhafte Situation im Kontext des Flüchtlingsdaseins, was das Bild wesentlich bestimmt. Im Moment des Fotografierens erheben sich die Porträtierten aus ihrer Situation. Sie scheinen trotz ihres geringen Alters wissend, erfahrungsgesättigt, oft trauernd und doch nicht resignierend oder herabgewürdigt. Es ist keine Opferfotografie. Die Porträtierten stellen sich dem Fotografen als Individuen entgegen. Entscheidend für die Interpretation ist der einheitlich formal gehaltene Bildtitel, etwa: Whitehead : ein Gefängnislager für Vietnamesische Flüchtlinge. Die Kinder wurden im Gefängnis geboren. Hongkong, 1995. Erst durch das Zusammenwirken von Foto und Titel ergibt sich die ganze Härte. Es wird klar, unter welchem Stern die Kinder ihr Leben fristen, in einer Situation, für die sie keine Verantwortung tragen können und einer Zukunft entgegensehend, die sich wahrscheinlich eher problematisch als hoffnungsvoll erweisen wird. Die Wahl des Porträts als Dokumentationsform zeigt das Desaster von Flucht und Vertreibung individuell, bewahrt jedoch einen besonderen Moment im Leben der Kinder.

 

Schnörkellosigkeit als Merkmal politischen Engagements

 

Die Porträts sind streng frontal aufgenommen. Die Schwarz-Weiß-Fotografie ermöglicht Salgado die subtile Ausnutzung von Kontrasten. Die Bilder sind streng im Aufbau, was eine gewisse Stille und Statik, auch Gelassenheit im Ausdruck evoziert. Salgados Fotos sind von ungemeiner Intensität, Sensibilität und Kraft. Man spürt in jeder Aufnahme die tiefe Zuneigung des Fotografen. Die Fotos sind jedoch nicht eindimensional, ihre Lesbarkeit ist nicht präskriptorisch, dem Betrachter eine moralische Haltung oktroyierend. Die Betroffenheit rührt aus dem Spiel der (zuerst) mangelnden Eindeutigkeit. Die Fotos sollen – so ihr Autor – als Basis für Diskussionen dienen, über die Situation und über unsere Verantwortlichkeit für diese Situationen. Sie sind ein „Manifest der Momente“, die wir gerade erleben: „Ich möchte mit meiner fotografischen Kamera den Menschen, die es wollen, die Möglichkeit geben, durch sie hindurch zu sprechen. Die fotografische Sprache ist eine Sprache mit Hintergedanken. Sie ähnelt im Grunde der geschriebenen Sprache und beinhaltet eine Ideologie, die zusammen mit der Geschichte des Fotografen geschrieben wurde.“ Salgado, der selbst 1969 vor der brasilianischen Militärdiktatur nach Paris geflohen ist, stellte diese Arbeiten kostenlos dem UNHCR, dem Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, zur Verfügung, das sie in seinen Publikationen unentgeltlich nutzen kann. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen versorgt circa 22 Millionen Flüchtlinge weltweit, darunter schätzungsweise 10 Millionen Kinder. UNHCR schätzt die Zahl der Kinder, die sich aktuell in einer Flüchtlingssituation befinden, auf über 25 Millionen innerhalb einer Gesamtzahl von 50 Millionen Flüchtlingen. Über 2 Millionen Kinder wurden in den vergangenen 12 Jahren in Konflikten getötet, 6 Millionen verwundet und 1 Million zu Waisen.