Dinosaurier schlafen nicht

Das Minicuento in der Literatur Lateinamerikas in den letzten zehn Jahren

von Matei Chihaia

Obwohl der Erfolg der großen lateinamerikanischen Romane ungebrochen ist, zeichnet sich in der südamerikanischen Literaturszene ein neuer Trend ab. In der Kürze liegt die Würze: das Minicuento erlebt seinen Durchbruch als literarische Gattung.

 

„Cuando despertó, el dinosaurio todavía estaba allí“

 

Diese Erzählung ist allgemein anerkannt als der kürzeste minicuento, der jemals geschrieben wurde. Ich stelle sie als Widmung voran, weil der Autor, Augusto Monterroso, 1921 in Honduras geboren, letztes Jahr starb. Nur wenig früher war eine kritische Ausgabe dieses Texts erschienen, die nicht weniger als 135 Seiten zählt (El dinosaurio anotado. Edición crítica de „El dinosaurio“ de Augusto Monterroso von L. Zavala). Darin kann man nachlesen, dass eine der schwierigsten Fragen für den Verfasser die Kommasetzung war, die den Sinn des Satzes völlig auf den Kopf stellen kann. Außerdem, was alles hinter der Kürze steckt – wie Monterroso in La brevedad schreibt: „lo cierto es que el escritor de brevedades nada anhela más en el mundo que escribir interminablemente largos textos, largos textos en que la imaginación no tenga que trabajar, en que hechos, cosas, animales y hombres se crucen, se busquen o se huyan, vivan, convivan, se amen o derramen libremente su sangre sin sujeción al punto y a la coma.“ Der Traum eines Schreibens ohne Punkt und Komma, eines Schreibens, das wie im Traum vor sich geht, verwirklicht sich in seinem genauen Gegenteil, einem eng begrenzten Text, bei dem die Zeichensetzung so entscheidend ist wie eine Weichenstellung beim Zugfahren. Als Monterroso im Jahr 2000 mit dem Premio Príncipe de Asturias ausgezeichnet wurde, gestand er, durch die Lektüre von Marcel Prousts A la recherche du temps perdu – einem mehrere tausend Seiten langen Werk! – zum Schreiben von Kurz- und Kürzesterzählungen angeregt worden zu sein. Der Titel der Sammlung, in der “El dinosaurio” (1959) und andere kurze Texte erschienen, lautete dementsprechend Obras completas (y otros cuentos). Das erinnert nicht zufällig an die Erzählungen von Jorge Luis Borges, der es für Zeitverschwendung hielt, einen Roman zu verfassen, und statt dessen lieber gleich die Zusammenfassung und Kritik noch nicht geschriebener Bücher fingierte. Dieses Prinzip bildet, seit der argentinischen Avantgarde, eine der wichtigsten Begründungen von Kürze in Lateinamerika.

 

Die Welt jenseits von García Márquez und Vargas Llosa

 

In einem wegweisenden Gespräch kommen zwei der interessantesten Gegenwartsautoren, Ricardo Piglia und Roberto Bolaño, in El Pais vom 3. März 2001, auf Borges zurück. Eine der Schlußfolgerungen besteht darin, dass die Helden des alten „boom“, insbesondere García Márquez und Vargas Llosa, die in den letzten Jahren ja durch zwei weitere Welterfolge ihre Aktualität bestätigten, von der neueren Entwicklung in Südamerika bereits überholt sind: „La tendencia más interesante de la narrativa actual del Cono Sur podría definirse como la sustitución del fantaseo lírico del realismo mágico por un surrealismo mucho más subversivo, atraído por una imaginería de lo grotesco y a menudo encaminado a una representación satírica de la realidad latinoamericana.“

 

Als Beispiel für diese groteske Subversion würde ich persönlich niemand anders als noch einen weiteren verstorbenen Dinosaurier anführen, Juan Carlos Onetti, dessen knappe Erzählung „Ella“ 1993 entstand. Diesmal kann ich nur eine Leseprobe zitieren: „Cuando al fin Ella murió, rematando esperanzas y deseos, estábamos a fin de julio; en una fecha abundante en crueldades, en frío, viento, aguacero. De los cielos negros de nubes y noche, caía una lluvia lenta, implacable, en agujas que amenazaban ser eternas. Se desinteresaban de abrigos y pieles humanas para empapar sin dilaciones huesos y tuétanos.“ Es geht in diesem Text, dessen Protagonisten mit „Él“ und „Ella“ bezeichnet werden, um den Tod und die Einbalsamierung einer Frau, die gerade durch die vorausgesetzte Unmißverständlichkeit des Pronomens hindurch als Eva Perón identifizierbar ist. Schon in dem kurzen Zitat erkennt man den Reiz, der in der perspektivischen Verkürzung des Erzählens liegt; es lässt so unterschiedliche Dinge, wie die Politik, die Körper und das Wetter verschmilzen, es entzieht sich der logischen Ordnung der Bedeutungen, die auf dem Satz der Identität (A=A) beruht, um den Unterschied von Regenmantel und Haut aufzulösen. In einem Kommentar zu Augusto Monterroso schreibt die mexikanische Autorin und Kritikerin Margo Glantz: „Hago una observación cualquiera y mi nieto de cuatro años me dice que lo que digo es perfectamente lógico. Le pregunto si sabe qué significa la palabra lógico, claro, contesta, un animal carnívoro, como los dinosaurios.“ Die semantische Mehrdeutigkeit, die aus der Kürze entsteht, darin ist man sich inzwischen einig, macht das literarische Spezifikum dieser Art von Erzählung aus: der Leser muss selbständig Kontexte rekonstruieren, durch welche die vermutliche, die angenommene Bedeutung gestützt wird. Ein Beispiel ist die Interpretation von Onettis Erzählung als Zeugnis des ausgehenden Peronismus, aber auch die beiläufige Montage von Monterrosos berühmtem Reptil in Kommentare zur politischen Aktualität.

 

Phantasie statt Konsum

 

Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen, als bis zur textinternen Vieldeutigkeit, und behaupten, dass die Lektüre solcher Texte die Bereitschaft zu fiktionaler Eigenproduktion fordert. Einerseits lassen sich so abstruse Sätze wie „El dinosaurio“ nur schwierig als eigentlich gebrauchte mündliche Äußerungen vorstellen, andererseits liegen sie als uneigentliches Zitat in aller Munde. Die Inszenierung der Narration wird insofern von dem Autor an die literarische Öffentlichkeit abgegeben – die aus der Rolle des Rezipienten in die eines produktiven Dialogpartners erhoben wird.

 

Dies läßt sich besonders gut an den neueren Erklärungen für das Phänomen ablesen, das an sich mindestens so alt ist wie das antike Epigramm. Ein mexikanischer Wissenschaftler, Lauro Zavala, führt so unterschiedliche Gründe an wie die „crisis de la sociedad civil (con la consiguiente multiplicación de voces públicas)“, die Einführung eines Wettbewerbs durch die Zeitschrift El Cuento, und die neuen Formen des computerunterstützten Schreibens. Auch der Venezolaner Julio Miranda erklärt den Erfolg der Kurzerzählung mit Blick auf das literarische Leben: in Analogie zum wenig kapitalintensiven Kurzfilm dient die Gattung vielen Autoren als Experimentierfeld, für den Leser, der seine Lebenszeit mit dem Konsum von Fiktionen verschwendet, kann Kürze einen ‚ökologischen’ Sinn haben. Und er folgert, dass die Einladung, mit der Erzählung umzugehen, sie fortzuspinnen und einzubetten, als „una propuesta de responsabilidad y libertad“ verstanden werden kann.

 

Die Webseite als Maß aller Dinge

 

Weil die meisten Definitionen von Gattung mit der Zählung von Worten oder Seiten operieren, liegt es relativ nahe, die Verkürzung mit dem Medium des Internet in Verbindung zu bringen, dessen Aufschwung in Lateinamerika sich in den letzten zehn Jahren – ungefähr zwischen Onettis „Ella“ und der kritischen Ausgabe von Monterrosos „El dinosaurio“ – vollzogen hat. Die Sammlungen der frühen 90er Jahre, Brevísima relación. Antología del microcuento hispanoamericano (Chile 1990) und La mano de la hormiga. Los cuentos más breves del mundo y de las literaturas hispánicas (Madrid 1990) wie auch die mexikanische Zeitschrift El Cuento, setzen die Grenze bei einer Druck-Seite, während es inzwischen eher auf – schneller oder langsamer zu ladende – Webseiten ankommen mag. Gerade in Mexiko, wo Lauro Zavala 1998 den Primer Encuentro Internacional de Minificción organisierte, differenziert sich ein „cuento ultracorto“ aus, dessen Mustertext „El dinosaurio“ ist und dessen maximaler Umfang dementsprechend bei nur 200 Wörtern, also etwa einer Bildschirmseite, liegt.

 

Wo wenig ist, hat auch das kleinste Teil Bedeutung

 

Aus der Vielfalt von Namen und Definitionen, aus den zahlreichen poetologischen Erklärungen der verschiedenen Autoren für das Phänomen der Kürze, zeichnet sich für mich eine immer größere Bedeutung des Umgangs mit literarischen Texten ab. Es handelt sich bei den Erzählungen, die privilegiert werden, um Formate, die dem Zitat entsprechen: Das Verhältnis von Autor und Erzählerrolle, das in längeren Texten zum Gegenstand der Verhandlung werden kann, läßt sich so von dem Leser bestimmen, der im Akt des Zitierens noch stärker die Fiktion mitproduziert als im Akt des Lesens. Die kritischen Ausgaben – etwa El dinosaurio anotado – bilden in diesem Zusammenhang nur diejenige Gattung, innerhalb derer Varianten und Variabilität der Textreproduktion am stärksten reflektiert werden (Monterrosos Satz wird auf mindestens 550 verschiedenen Web-Seiten in den verschiedensten Wortlauten wiedergegeben). So wie im Reich der Dinosaurier, von denen nur wenige Spuren erhalten sind, die Entdeckung eines Knöchelchens die größten Folgen für unser Bild von der Steinzeit hat, rücken auch im Fall der kurzen Erzählung Satzzeichen und Bedeutungsnuancen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Umgekehrt sind die ausgestorbenen Reptilien in unserer Vorstellung vielleicht deswegen so wach und grausam, wie kaum ein lebendes Tier, weil keine empirische Grundlage unser Bild von ihnen je sicher widerlegen kann. Sie schlafen nicht, in ihrem Reich geht die Sonne nie unter.