Der ersten Tage von matices

Mi reino es de este mundo

Gunnar Nilsson

Köln im Spätherbst 1993. Draußen hat sich der gefürchtete rheinische Grauschleier mit dauerhafter Nässe für ein halbes Jahr auf das Land gelegt. In einer leicht heruntergekommenen Büroetage Nähe Ebertplatz erlebt die Idee Matices den Augenblick ihrer geistigen Zeugung. Das Baby hat drei Väter und ist auch ohne Mutter kein Kind von traurigen Eltern. Im Frühjahr 1994 erscheint die erste Nummer. Seitdem kümmerten sich mehrere Generationen von Redakteuren bis an die Grenzen der Selbstaufgabe um Wachstum und Gedeihen des Zöglings.

 

 

Warum Matices? Warum eine weitere Zeitschrift zu Lateinamerika, wo doch hierzulande bereits verschiedene, vermeintlich vergleichbare Projekte existierten? In der Tat, Zeitschriften zu Lateinamerika gab es einige. In den 80er Jahren war eine vor allem politisch an Lateinamerika interessierte Öffentlichkeit – Stichwort ‘Solibewegung’ – entstanden, die alternative Informations- und Kommunikationswege suchte. Nach der Redemokratisierung in zahlreichen lateinamerikanischen Staaten und der Entspannung Mittelamerikas im Zuge des wegfallenden globalen Ost-West-Antagonismus war die Welt jedoch plötzlich komplizierter geworden. Demarkationslinien ließen sich nicht mehr an den Himmelsrichtungen ausrichten. Überall taten sich feine Haarrisse dies- und jenseits der bislang gerne bemühten Spaltung auf. Die Solidaritätsbewegung schien bedauerlicherweise an Elan zu verlieren.

 

Matices wollte dem Trend des nun spürbar erodierenden politischen Lateinamerikainteresses nicht durch neue vereinfachende Deutungsschablonen entgegenwirken, sondern ein Angebot zur Artikulation und Diskussion unterschiedlicher Positionen schaffen und der Komplexität des weitgehend sprachlich-historisch definierten Kulturraums – der zudem noch Spanien und Portugal einschließt – durch schlaglichtartige aber profunde Fokussierungen gerecht werden.

 

Die seit frühesten Tagen sorgsam gepflegte inhaltliche wie auch finanzielle Unabhängigkeit hatte freilich ihren Preis. Am Anfang war Matices eher ein No- als Low-Budget-Projekt. Zur Finanzierung der ersten Nummer hatten die bereits erwähnten Gründerväter noch das ‘Taschengeld’ aus ihrem privaten Portemonnaie berappt. Hätte sich der Verkauf – zunächst im Rheinland, erst später bundesweit – als Pleite herausgestellt, wäre es zu keiner zweiten Nummer und zu einem erheblichen Schuldenberg für die Herausgeber gekommen. Da Fremdzuwendungen auch nach den Anfangserfolgen eine Ausnahme blieben, mußte das Kind lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. So boten sich Vertriebseinnahmen und Anzeigenverkauf als einzig gangbare Finanzierungsperspektiven einer Publikation an, die mit dem Vorstoß an die 100-Seiten-Marge später das Limit des Realisierbaren kennenlernen sollte. Konjunkturelle Schwankungen bei der Akquise und den Abonnenten verursachten unzählige leicht- bis mittelschwere Finanzkrisen, führten jedoch glücklicherweise nie zum Kollaps.

 

Daß dem so war, lag ohne Zweifel am eigentlichen Kapital des Vereins. Wachsen und Gedeihen konnte das Baby nur durch menschliche Fürsorge, vor allem der Fürsorge zahlreicher Autoren, die ihre Artikel veröffentlichten, dank der Unterstützung nahestehender Mitstreiter, die neben vielem anderen es etwa ermöglichten, daß die Redaktionstreffen nicht mehr in ‘verruchten’ Kölsch- oder Tapas-Kneipen, sondern in bezahlbaren eigenen Räumen stattfinden konnten, und nicht zuletzt dank der zeitweise an Selbstausbeutung grenzenden Arbeit aller jener Redaktions- und Vorstandsmitglieder, die der Zeitschrift ihr eigentliches Gesicht verliehen.

 

Sicherlich waren die Rahmenbedingungen in Köln in der Mitte des vergangenen Jahrzehnts äußerst günstig. Verschiedene soziale, kulturelle und mit ökologischen Themen befaßte Institutionen hatten Netzwerke entstehen lassen, die verschiedene Kooperationsmöglichkeiten eröffneten. Vor allem aber der an der Universität neu eingerichtete Studiengang ‘Regionalwissenschaften Lateinamerika’ hatte ein anregendes Klima geschaffen, das engagierte Diskussionen über politische, soziale und wirtschaftliche Fragen, aber auch über Probleme der Literatur, der Musik, des Films oder der bildenden Kunst gedeihen ließ. Matices wollte diese Fragen aufgreifen und – wie es andere nichtakademische Zeitschriften bislang kaum geleistet hatten – gleichberechtigt nebeneinander präsentieren. Berührungsängste mit der akademischen Welt bestanden von Beginn an nicht. Im Gegenteil: Matices wollte nicht nur, aber auch Spiegel der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der spanisch- und portugiesischsprachigen Welt sein, wenngleich sich Sprache und Umfang eher an journalistischen Mustern orientierten.

 

Das Engagement, der Ideenreichtum und die Kompetenz von Mitarbeitern allein reicht jedoch nicht aus, um ein Projekt wie Matices über Jahre hinweg erfolgreich werden zu lassen. Es müssen auch funktionsfähige Organisationsstrukturen vorhanden sein, die sowohl den theoretischen Ansprüchen als auch den Erfordernissen des praktischen Betriebs und der sich ständig wandelnden Verhältnisse Genüge leisten. Aus dieser Perspektive gesehen, stellten sich die Beschlüsse des Winters 1994/95 zur Reform der internen Organisation als die entscheidenden heraus. Sie beendeten die anfängliche Phase des – sicherlich charmant-produktiven – Chaos, sorgten für die dringend nötige Professionalisierung und leiteten damit jene Kette von kleineren und immer wieder entscheidenden Neuerungen ein, die bis heute die Weiterentwicklung und Anpassungsfähigkeit des Projekts an nicht selten widrige Umstände gewährleisten, ohne daß der ursprüngliche Geist der Initiative Schaden leiden würde.

 

Gunnar Nilsson, Mitgründer und langjähriger Herausgeber der Zeitschrift Matices, ist Dozent für spanische und portugiesische Literaturwissenschaft am Institut für Romanistik der Friedrich-Schiller-Universität Jena.