Wie Behinderte in Guatemala überleben

Im entscheidenden Moment stand kein Sauerstoffgerät zur Verfügung. In der einfachen Hütte, in der Miguel geboren wurde, gab es ja nicht einmal Strom. So blieb sein Gehirn minutenlang unterversorgt. Das war vor fünfzehn Jahren im Hochland Guatemalas.

Andreas Bourke

Während seiner ersten Lebensjahre bemerkte niemand, dass Miguel die Aufmerksamkeit und Fürsorge seiner Eltern noch dringender benötigte als seine acht älteren Geschwister. Der Vater war sowieso fast nie Zuhause. Er mußte monatelang auf den Feldern der Kaffeebarone arbeiten, um den spärlichen Lebensunterhalt seiner Familie zu sichern. Miguels Mutter hatte nicht die Kraft, sich allein neben all ihren häuslichen Aufgaben auch noch den besonderen Bedürfnissen ihres geistig behinderten Sohns zu widmen. So kam es, dass sich niemand um ihn kümmerte, als eine Infektion sein Rückrat angriff. Schon bald konnte er die Gliedmaßen seiner linken Körperhälfte nicht mehr bewegen. Im Alter von sechs Jahren saß er nur noch gekrümmt und war mental auf dem Stand eines Dreijährigen.

 

Als Miguels Eltern nicht mehr in der Lage waren, für ihren Sohn zu sorgen, brachten sie ihn in das Zentrum Hermano Pedro in der Kolonialstadt Antigua. Dort werden zur Zeit über zweihundert schwerstbehinderte Patienten betreut. Miguel ist heute ein fröhlicher Jugendlicher mit dem Geist eines Kindes. Pater Giuseppe Contrán, Direktor des Zentrums, ist vor zwanzig Jahren nach Guatemala gekommen. „Wir hoffen, dass wir einige unserer Patienten glücklich machen können,“ sagt er. „Viele überleben nicht lange, aber diese Zeit möchten wir ihnen so schön wie möglich machen. Wir geben ihnen die Liebe, die sie brauchen.“

 

In Guatemala lebt wahrscheinlich jede vierte Familie mit einem behinderten Menschen. Niemand weiß genau, wieviele es sind. In den Statistiken sind Behinderte weitgehend unsichtbar. Es gibt keine umfassenden Studien und nur wenige Zahlen. Selbst das Gesundheitsministerium mißt dieser Bevölkerungsgruppe keine große Bedeutung bei. „Die Situation der Behinderten in Guatemala ist kritisch,“ sagt Dr. Herrera, der im Ministerium das kleine Referat für die Belange von Behinderten leitet. „Ihre Rehabilitation ist teuer, aber der Haushalt der staatlichen Krankenhäuser reicht nicht einmal aus, um akute Krankheiten und Verletzungen zu behandeln. Die medizinischen Bedürfnisse von Behinderten übersteigen bei weitem die Möglichkeiten der Hospitäler. Wer ehrlich ist, muß zugeben, dass sich nur sehr wenig um diese Patientengruppe gekümmert wird.“

 

Behinderung aus Armut

 

Die Hauptursache für Behinderungen in Guatemala ist Armut. Jeden Tag werden Kinder mit einem Geburtsfehler geboren, der bei angemessener medizinischer Versorgung hätte verhindert werden können. Unterernährung führt zu Hirnschädigungen und motorischer Beeinträchtigung. Die WHO spricht von weltweit 335 Millionen Menschen mit mittelschweren und schweren körperlichen Beeinträchtigungen. Davon leben weit mehr als zwei Drittel in den Ländern Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas. Doch neunzig Prozent der Rehabilitationsmaßnahmen werden in den reichen Industrienationen erbracht.

 

Zudem haben die Menschen in Guatemala bis in die neunziger Jahre unter einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg gelitten, in dem zweihunderttausend Opfer ihr Leben verloren haben. 750 kriegsversehrte ehemalige Guerillakämpfer haben sich in der Vereinigung AGPD zusammengeschlossen. Um ihre soziale Wiedereingliederung zu unterstützen, hat die Europäische Union verschiedene produktive Projekte finanziert. Eines davon ist die Nähwerkstatt „Confecciones Rolando Morán“. Vor sechs Jahren bekamen fünf ehemalige Guerillerakämpfer ein kleines Startkapital und Nähmaschienen geschenkt. Heute arbeiten nur noch Joaquín Aguilar und Adan Gutierrez in der Werkstatt. Sie schneidern Hosen und Hemden, Schuluniformen und Brautkleider. Adán geht an Krücken, Joaquín sitzt im Rollstuhl. „Manchmal fühle ich mich schlecht,“ erzählt Joaquín. „Ich grübele darüber nach, warum all das passiert ist. Wir haben für eine gerechte Sache gekämpft, aber unsere Anführer von damals haben uns vergessen."

 

Zeit zum Nachdenken hat Joaquín reichlich. Jeden Tag rollt er morgens eine Stunde lang bis zur Werkstatt. Für den Rückweg muß er darauf hoffen, dass ihn ein Bekannter mitnimmt. Wenn das nicht klappt, quält er sich drei Stunden lang allein bergauf bis zu seiner Hütte. „Die Busfahrer hier in Guatemala warten nicht, bis dich jemand die Stufen hochhebt. Sie lassen dich einfach stehen. Du mußt selber sehen, wie du weiterkommst.“

 

Während des Gesprächs kommen mehrfach Klienten in die kleine Schneiderei. Sie wollen den Saum einer Hose enger machen lassen, Hemden kürzen oder eine kaputte Jacke reparieren lassen. Joaquín ist nicht wirklich zufrieden mit dem Umsatz und seinem Einkommen von etwa 120 Euro im Monat. Aber er weiß, dass es auch vielen Nichtbehinderten in Guatemala schwerfällt, mit einem kleinen Geschäft ein ausreichendes Einkommen zu verdienen. Vorerst haben es Joaquín und Adán geschafft, für sich selbst zu sorgen. Darauf legen sie großen Wert. „Manche Leute auf der Straße haben Mitleid mit mir“, erzählt Adán. „Einige schenken mir Geld. Ich lehne das Geschenk nicht ab, weil ich weiß, dass es gut gemeint ist. Aber es gefällt mir auch nicht. Ich will nicht, dass die Leute glauben, ich würde vom Betteln leben, anstatt zu arbeiten.“

 

Mitleid hält der guatemaltekische Psychologe Hector Berger für die verletzendste Haltung gegenüber behinderten Menschen: „Das kann häufig zu besonders nachhaltigen psychischen Schäden führen. Es ist erniedrigend, wenn man als armes, hilfloses Wesen angesehen wird oder wenn man uns als Invalide, als Wertlose bezeichnet.“

 

Hector Berger weiß, wovon er spricht. Ihm wurden auf Grund einer schweren Blutkrankheit mehrere Gliedmaßen amputiert. Trotzdem führt er ein privelegiertes Leben. Weil seine Familie zur guatemaltekischen Oberschicht gehört, kann er sich eine teure Behandlung und moderne Prothesen leisten. „Menschen mit physischen Begrenzungen, die in Armut leben, werden häufig zu einer Last für ihre Familien. Vielen bleibt nichts anderes übrig als zu betteln. Ich arbeite seit Jahren mit solchen Menschen zusammen und habe schon unzählige Male erlebt, das Personen, denen eine Prothese geschenkt wurde, diese Zuhause liegen lassen, um auf der Straße um Almosen zu bitten. Sie wissen, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt. Auf dem normalen Arbeitsmarkt haben sie keine Chance.“

 

Behinderte sind Teil des Straßenbilds von Guatemala-Stadt. Immer wieder sieht man Bettler, die sich an Kreuzungen auf einem Brett mit einfachen Rollen zwischen den wartenden Autos hindurchschieben. Eine Hand halten sie bittend in Richtung der Fahrer, mit der anderen drücken sie sich auf dem Asphalt vorwärts. Auch der fünfundzwanzigjährige José verdient so seinen Lebensunterhalt. An einem Tag bekommt er meist etwa vierzig Quetzales geschenkt, rund fünf Euro. Das reicht für Nahrung und die zehn Quetzal teure Pille, die er täglich schlucken muß. „Ich bin nicht traurig“, meint er. „Mein Leben ist in Ordnung. Traurig bin ich, wenn andere sterben, weil sie nicht mehr arbeiten können und nichts zu essen haben. Ich lebe ja noch und kann durch die Straßen ziehen.“

 

Mit dem Rollstuhl zu neuen Möglichkeiten

 

Bis vor wenigen Jahren war ein funktionsfähiger Rollstuhl in Guatemala ein Luxus, den sich nur wenige Behinderte leisten konnten. Diese Situation hat sich verbessert, seit in Chimaltenango die Rollstuhlwerkstatt Betel gegründet wurde. „Wir haben vielen Menschen helfen können“, erzählt der Geschäftsführer Edgar Ariel Gomez. „Für behinderte Menschen bedeutet es sehr viel, einen Rollstuhl zu besitzen. Sie brauchen dann nicht mehr ständig zu liegen. Ich selber habe erlebt, wie furchtbar das ist. Das Liegen macht dich krank, nicht nur körperlich. Es ist schrecklich, wenn du nicht einmal einen Moment lang rausgehen kannst, um die Sonne zu spüren. Außerdem bekommst du Geschwüre an denen du mit der Zeit sogar sterben kannst. Mit einem Rollstuhl hast du viel mehr Möglichkeiten.“

 

Die Werkstatt Betel wird von protestantischen Kirchen in Nordamerika und Europa unterstützt. So können jedes Jahr rund achthundert gebrauchte Rollstühle an Bedürftige übergeben werden. Weitere tausend werden repariert. Die 3000,- bis 8000,- Quetzales, die ein gebrauchter Rollstuhl normalerweise kostet, sind für die meisten Behinderten in Guatemala unerschwinglich. Sie können sich nur deshalb einen Rollstuhl leisten, weil die Ersatzteile, die in der Werkstatt Betel verarbeitet werden, von Krankenhäusern und Pflegeheimen der Partnerkirchen gespendet werden. Edgar Ariel Gomez und seine fünf Mitarbeiter bauen die alten Teile für einen geringen Lohn zusammen. Dabei wissen sie genau, worauf es ankommt, denn sie alle sind selber auf Rollstühle angewiesen.

 

Edgar ist froh darüber, mit anderen Rollstuhlfahrern zusammenzuarbeiten. So können sie sich gegenseitig unterstützen, auch außerhalb der Werkstatt. Jeden Dienstagmorgen rollen sie gemeinsam über die Straßen von Chimaltenango bis zu einer Sporthalle, um Basketball zu spielen.

 

Das Spiel ist schnell, aggressiv.

 

Der junge Mann Carlos ist als Kind an Polio erkrankt. Trotzdem sind seine Arme muskulös und durchtrainiert. Geschmeidig steuert er den Rollstuhl über den Platz, baut in seine Bewegungen kleine Finten ein und dreht sich auf engstem Raum um die eigene Achse. „Für mich ist Sport wichtig. Er hält gesund,“ erklärt Carlos stolz. „Außerdem wollen wir den Leuten zeigen, dass wir nicht unfähig sind. Viele glauben, Behinderte könnten nichts leisten. Das führt dazu, dass viele in ihren Hütten eingesperrt leben. Deshalb wollen wir, dass die Leute uns sehen. Sie sollen erkennen, dass auch Behinderte etwas leisten und Sport treiben können.“