Trinidad, Indien und der Rest der Welt

Der Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul

von Michaela Romkens

Naipaul wurde 1932 in der Nähe von Port of Spain, der Hauptstadt Trinidads, geboren. Als Sohn indischer Einwanderer wuchs er in einer von Schwarzen dominierten Gesellschaft auf und lernte schnell, was es heißt, zu einer ethnischen Minderheit zu gehören. Die kleine Karibikinsel und seine persönlichen Erfahrungen in diesem Schmelztiegel der Kulturen machte er zum Ausgangspunkt seines Schaffens. Besonders die frühen Werke sind beherrscht von Impressionen aus seiner Jugendzeit in Trinidad und der Geschichte seiner brahmanischen Familie. Den Antillen kehrte Naipaul jedoch schon mit 18 Jahren den Rücken. Angespornt durch seinen Vater, selbst Journalist und Schriftsteller, und dem Wunsch, dem trüben Einwanderer-Dasein in Trinidad zu entkommen, erhielt er 1950 ein Regierungsstipendium, das ihn nach England führte.

 

Dort studierte er in Oxford Literaturwissenschaften. Nach Beendigung des Studiums arbeitete er zunächst als Literaturrezensent beim New Statesman und als Journalist für die BBC, bevor er sich 1955 ganz der schriftstellerischen Arbeit verschrieb. Seitdem gehört Naipaul zum illustren Kreis der so genannten postkolonialen Autoren: ein Schriftsteller aus den ehemaligen Kolonien, der sich mit den kulturellen und politischen Hinterlassenschaften der europäischen Kolonialherrschaft auseinandersetzt und so seinen literarischen Finger in Wunden legt, die noch lange nicht verheilt sind. Paradoxerweise machte er gerade England, das Herz des alten Empire, und noch dazu ein Cottage auf dem traditionsverhafteten Land, zu seiner neuen Heimat. In seiner Sichtweise der Welt lässt Naipaul sich aber von keiner Seite vereinnahmen.

 

Gleichsam kritisch attackiert er sowohl die alten Herrscher als auch die Situation in den Ländern der ehemals Unterjochten. Seine Bücher kreisen um Rassenfragen, Entwurzelung, Fanatismus und die Abgründe des Menschen. Naipauls Produktion umfasst dabei ein vielschichtiges Oeuvre. Zum größten Teil besteht es aus fiktiven Erzählungen und Essays, aber auch aus einigen dokumentarischen Reiseschilderungen und autobiographisch inspirierten Werken. Die herkömmliche Abgrenzung von Fiktion und Sachprosa fällt bei Naipaul jedoch schwer. Fern von existierenden Genres und mit zunehmender Experimentierfreude hat er einen ganz eigenen Stil entwickelt, ein faktisch-fiktionales Schreiben, bei dem er seinen vielzähligen Reiseerfahrungen eine literarisch höchst ansprechende Form gibt. Mit viel Liebe zum Detail lässt er auch die Menschen sprechen, denen er bei seinen Reisen begegnet ist und macht sie so zu Zeugen ihrer Gesellschaft. Dies verleiht seinen Romanen oftmals einen reportagehaften Charakter.

 

Literatur gewordene Feldforschung

 

In seinen frühen Werken, die er „soziale Kömodien“ nennt, verarbeitet Naipaul zunächst die Impressionen seiner Jugendzeit in Trinidad. Schon einige Jahre nach seinem Debütroman, The Mystic Masseur (1957; Der mystische Masseur), in dem er auf ausgesprochen humoristische Weise einen Masseur in Trinidad porträtiert, gelingt ihm 1961 mit dem Roman A House for Mr. Biswas (Ein Haus für Mr. Biswas) ein Meisterwerk. Es beschreibt die Integrationsprobleme eines einfachen, aber ambitionierten indischen Einwanderersohns, Mohun Biswas, der versucht, die eigenen ethnischen Bräuche zu wahren und zugleich seinen wirtschaftlichen und kulturellen Platz innerhalb der Gesellschaft Trinidads zu finden. Mit der Geschichte setzt Naipaul seinem eigenen Vater ein Denkmal, der sein Leben lang darum kämpfte, ein Journalist und Schriftsteller zu werden, durch die erbärmlichen Lebensbedingungen in Trinidad aber immer wieder an schier unüberwindbare Grenzen stieß.

 

Das erste nicht-fiktionale Werk des Autors entsteht auf die Bitte der trinidadischen Regierung hin, durch einige Kolonialgebiete in der Karibik und Südamerika zu reisen und die gewonnenen Eindrücke zu einem Reisebericht zu verdichten. Dies tat Naipaul, und mit The Middle Passage:

 

Impressions of Five Societies (Auf der Sklavenroute. Meine Reise nach Westindien) veröffentlicht er 1962 in Anlehnung an die ehemalige Sklavenroute eine Porträtsammlung der karibischen Inselwelt. Naipaul hörte aber bald schon auf, „nur” Romane über das Milieu seiner Herkunft zu schreiben. Er reiste, manchmal über viele Monate, durch verschiedene Gegenden der Welt, um sie intensiv kennen zu lernen und darüber schreiben zu können. In der Zeit seines Schaffens entstand so eine ganze Reihe von Reisebüchern, die man getrost als Literatur gewordene Feldforschung bezeichnen kann.

 

Einer der Schwerpunkte von Naipauls ethnologischen Erkundungen ist Indien, das Land seiner Vorfahren. Drei umfangreiche Bücher sind aus den drei Reisen des Autors zurück zu seinen kulturellen Wurzeln entstanden. Sie zeugen auch von seinen sich wandelnden Eindrücken über die indische Gesellschaft. Als An Area of Darkness (Ein Land der Finsternis) empfindet Naipaul das, was ihm 1964 in Indien begegnet, ein „Land mit einer unerschöpflichen Bereitschaft, sich ausplündern zu lassen“. Naipauls Neugier auf das Land der Väter weicht der Impression eines Traumas von verrottetem Alten, dem nichts Neues zu entspringen scheint. Über zehn Jahre später sieht Naipaul in Indien eine „verwundete Kultur“ (1977: India. A Wounded Civilization; Indien – eine verwundete Kultur), und mit dem 1990 erschienenen Buch India. A Million Mutinies Now (Indien – Ein Land im Aufruhr) würdigt Naipaul bei kritischer Betrachtung der allerorts brodelnden Konflikte auch den gelungenen Aufbruch Indiens in die Moderne.

 

Naipauls Augenmerk gilt neben der Karibik und Indien aber auch Südamerika, Afrika und der islamischen Welt. Ein großer Erfolg wurde beispielsweise sein Diktatorenroman A Bend in the River (1979; An der Biegung des großen Flusses), der anhand der Geschichte einer ostafrikanischen Stadt eine pessimistische Analyse der Folgen der Kolonialzeit in Afrika liefert und die Korruptheit des Menschen anprangert.

Düstere Aktualität haben im Rahmen der Ereignisse des 11. Septembers auch Naipauls islamische Reiseberichte erfahren. Schon in A Bend in the River, Guerrillas (1975) und insbesondere in seinem 1982 erschienenen Werk Among the Believers (dt. im Sammelband: Eine islamische Reise/ Unter den Gläubigen/ Drei Kontinente) hatte sich der Autor mit dem Islam und seinen Anhängern beschäftigt. Die Effekte, die diese Religion auf die Gesellschaften ausübt, haben ihm schon damals missfallen.

 

Über 15 Jahre später beleuchtet Naipaul in seinem Reisebericht Beyond Belief: Islamic Excursions Among the Converted Peoples (1998) erneut auf äußerst kritische und besorgte Weise den muslimischen Fundamentalismus, wie er ihn auf seinen Reisen durch Indonesien, Iran, Malaysia und Pakistan erlebt hat. Die alten Erkenntnisse erfuhren erneute Bestätigung, zum Teil sogar in noch schwärzeren Facetten. Viele junge und enthusiastische Gläubige, denen der Autor auf seiner ersten Reise in die islamischen Länder Asiens begegnet war, hatten nahezu terroristisches Gedankengut angenommen. So hat Naipaul schon früh auf das hingewiesen, was mit den Terroranschlägen des 11. September unbestreitbare Realität wurde: die Gefährlichkeit des islamischen Fundamentalismus.

 

Neben all seinen Büchern über die Gesellschaften der Dritten Welt hat Naipaul sich auch mit den Eigenarten der Europäer beschäftigt. In seinem bekanntesten Werk The Enigma of Arrival (1987; Das Rätsel der Ankunft), einem autobiographischen Roman, ist der Schriftsteller beispielsweise zu Gast in der englischen Wirklichkeit. Das Buch schildert Naipauls Werdegang vom Studenten zum Schriftsteller und beleuchtet in diesem Rahmen auf ganz natürliche Weise den ihm fremden Kulturraum mit all seinen Verhaltensweisen.

 

Ein Preisträger mit Macken

 

Ob man nun seine Werke über Trinidad, Indien oder den Rest der Welt ließt, Naipaul schafft es immer, dass der Leser Anteil nimmt an den betrachteten Kulturen, an ihren Menschen und ihren unterschiedlichen Lebenswegen. Eine vorgefertigte Lösung für die sich auftuenden Probleme der Gesellschaften hat der Autor aber nicht parat. Vielmehr eröffnet er Fragen, deren Reflexion und Beantwortung zu Verbesserungen führen könnten. Darin liegt Naipauls Kunst, für die er 2001 auch mit dem Literaturnobelpreis geehrt worden ist. Seiner schriftstellerischen Bedeutung zollten zuvor schon zahlreiche Preise und Auszeichnungen Tribut, unter anderem gewann er 1971 den britischen Booker Prize und 1990 wurde er von Königin Elisabeth II. geadelt.

 

Unumstritten und allseits beliebt ist der „literarische Weltenumsegler“, wie er oft genannt wird, jedoch nicht. Selbst als seine Nominierung für den Nobelpreis bekannt wurde, spalteten sich die Gemüter. Eine Tatsache, die auf Naipauls mangelnde „political correctness“ zurückzuführen ist. So gnadenlos, wie sein Blick auf die Schwächen der Gesellschaften in Erster und Dritter Welt fällt, so gnadenlos äußert er sich auch darüber.

 

Über seine Wahlheimat schrieb er einmal: „Das Leben hier ist eigentlich eine Art Kastration. In England sind die Leute sehr stolz darauf, dumm zu sein.“ und sein Urteil über das Bildungsniveau der USA fiel nicht minder verheerend aus: „Ungebildete Studenten in weißen Söckchen bedrohen Amerika mehr als Öl-Embargos.“

 

Aber auch die Dritte Welt kommt nicht besser weg. Dass sein siebzigster Geburtstag in seinem Heimatland Trinidad nicht mit einer Zeile gewürdigt wurde, mag daran liegen, dass er den karibischen Inselstaat gerne als „halbgare Gesellschaft“ und „Hort des Analphabetismus“ bezeichnet. Wiederholt scharf angegriffen wurde Naipaul auch dafür, dass er in seinen Büchern die Sichtweise, Armut und Instabilität der Entwicklungsländer seien auf die Ausbeutung durch die Erste Welt zurückzuführen, alles andere als untermauert. Der SPIEGEL kommentierte einmal: „So kalt wie er schreibt sonst niemand über die Dritte Welt“. Daher fällt es schwer zu sagen, welche Seite den Autor letztendlich für sich reklamieren darf...