Mosaik der Klänge

Traditionelle und populäre Musik der anglo- und frankophonen Karibik

von Torsten Eßer und Patrick Frölicher

Seit ihrer Entdeckung durch Christoph Kolumbus waren die karibischen Inseln vielen unterschiedlichen kulturellen Einflüssen ausgesetzt: Spanier, Franzosen, Engländer, Niederländer, Dänen, die USA und andere hinterließen als Kolonialherren ihre Spuren: auf vielen Inseln gleich mehrere Besitzer in Folge oder im Wechsel. Der Einfluß aus Europa ist unüberhörbar, zum Beispiel bei der weit verbreiteten Quadrille (u.a. auf Dominica, den Virgin Islands und St. Lucia), der Mazurka (mazouk) oder der Polka. Eine Besonderheit bietet Montserrat: Die Musik dort hat starke irische Einflüsse, da der Großteil der ersten Siedler von der grünen Insel kam. Heute leben auf Montserrat als deren Nachfahren die so genannten „Black Irish“.

 

Afrikanische Sklaven vielerlei Herkunft drückten der Kultur einen prägnanten Stempel auf, vor allem in der Musik waren ihre Rhythmen prägend. Ihnen folgten „Gastarbeiter“ aus Asien (Chinesen, Inder) und dem Nahen Osten. Nur von der ursprünglichen indianischen Bevölkerung der Inseln - Araukanern und Kariben - sind in der Musik kaum Spuren erhalten. Sie wurden von den Kolonialherren zügig ausgerottet oder umgesiedelt. Mit den Weißen kamen auch die Kirchen und ihre Musik auf die Inseln: Gospel- oder andere Gesänge der Katholiken und Protestanten nahmen Einfluss für die Entwicklung der Musik.

 

Nicht zu unterschätzen ist seit dem 20. Jahrhundert die Rolle der karibischen Diaspora in Großstädten wie New York, London und Paris. Sie modernisierte die traditionellen Klänge ihrer Heimat und führte die so entstandenen neuen Stile häufig zu internationalem Erfolg. Seit der Verbreitung von Radio, Fernsehen und kommerziellen Tonträgern auf den Inseln ab etwa der Mitte des vorigen Jahrhunderts dominieren die größeren Inseln der Region - Kuba, Dominikanische Republik, Trinidad, Jamaika - die Musik ihrer kleineren Nachbarn: son, merengue, calypso, soca, zouk, reggae und dance-hall sind inzwischen auf fast allen Inseln zu Hause, häufig allerdings in lokalen Ausprägungen wie zum Beispiel dem blue beat (calypso) auf Barbados oder als Mischformen wie dem spouge (calypso + ska) auf Barbados oder dem von der Gruppe Exile One 1973 erfundenen cadence-lypso (calypso + cadence-rampa) auf Dominica.

 

Lokale Gesangs- und Tanzformen wie der goombay (Bahamas) oder der mento (Jamaika) sind auf vielen Inseln in ihrer Existenz bedroht oder schon in Vergessenheit geraten, wie der kalenda in Grenada. Viele dieser Genres dienten und dienen der oralen Übermittlung von Informationen, Geschichten und Geschichte sowie der Sozialkritik, so zum Beispiel der benna auf Antigua & Barbuda oder der Jwé auf St. Lucia. Eine Tradition, die heute übrigens von der dance-hall-music in viel direkterer Form fortgesetzt wird. Damit die alten Traditionen nicht ganz verschwinden, veranstalten die Behörden einiger Inseln seit ihrer Unabhängigkeit Sing- und Erzählwettbewerbe und sorgen so für die Fortführung dieser Gebräuche: Der 28. Oktober zum Beispiel ist der „Internationale Kreol-Tag“, an dem auf sehr vielen Inseln Sprech- und Musikveranstaltungen durchgeführt werden.

 

Rhapsody der Ölfässer

 

Trinidad ist die Heimat des calypso. Nachdem seit Beginn des 20. Jahrhunderts seine Texte mehrheitlich nicht mehr in Kreolisch, sondern in Englisch gesungen wurden, traten Interpreten wie „Lord Executer“ oder „Mighty Sparrow“ ihren Siegeszug durch die Karibik an. Calypso ist heute auch in Antigua & Barbuda, Barbados, Dominica oder St. Lucia die wichtigste Musik. Der internationale Erfolg stellte sich ein, nachdem der calypso in den 1980er Jahren, vor allem von der trinidadischen Diaspora in New York, mit Elementen aus dem US-amerikanischen Funk und Soul vermischt wurde und unter dem Label soca die Tänzer begeisterte. Soca-Bands benutzen elektrische Instrumente und veränderten die ursprünglich sozialkritischen in partytaugliche Texte. Die große indische Volksgruppe auf Trinidad hat den soca wiederum mit ihren musikalischen Traditionen vermengt: herausgekommen ist chutney-soca.

 

Auch die international das Karibik-Feeling verkörpernden Steelbands haben ihre Wurzeln in Trinidad & Tobago. Seit dem 18. Jahrhundert gehören sie zum Bild des Straßenkarnevals, in ihrer heutigen Form entwickelten sie sich in den Slums der Hauptstadt Port of Spain. Sehr gute Bands können sogar Holst’s „Die Planeten“ oder Gershwin’s „Rhapsody in blue“ spielen. Ihre Trommeln (pans) bestehen größtenteils aus 55-Gallonen-Ölfässern. Steelbands sind heute ein international verbreitetes Phänomen. Die Anfänge des reggae liegen im US-amerikanischen Rhythm & Blues, der auf Jamaika mit einem übertriebenen backbeat und einem schnelleren Tempo versehen wurde. Diese Mutation, ska genannt, entstand in den Jahren vor der Unabhängigkeit (1962) und wurde von Gruppen wie den Skatalites populär gemacht. In Großbritannien griffen Ende der 70er Jahre Gruppen wie The Selector, The Specials und Madness diese Musik auf und verhalfen ihr zum internationalen Durchbruch. In Jamaika wurde die Musik jedoch immer langsamer gespielt und der Sound von Bass und Drums drängte in den Vordergrund: rock steady war geboren, der direkte Vorläufer des reggae. Als „Message-Music“ der Rastafaris, den Anhängern einer um 1930 auf Jamaika entstandenen Religion, handelten die Texte vieler Reggae-Stücke von den Problemen der Schwarzen, Korruption, Sex usw.: „Beim reggae wird ständig kommentiert, was politisch und sozial so los ist. Wenn etwas Wichtiges passiert rennen die Musiker am nächsten Morgen ins Studio. So gibt es im reggae und in seiner Weiterentwicklung, der dance-hall-music, einen Diskurs der Massen, denn die Texte spiegeln das, was im Publikum passiert, wieder, wirken aber auch auf die Leute ein. Ein dialektischer Prozeß, der sehr spannend ist. Traurig nur, dass die meisten Ausländer es nicht verstehen, weil es auf patois geschieht, der Sprache des Bauches und der Seele“, erklärt der in Jamaika lebende deutsche Schriftsteller Peter Paul Zahl. Musiker wie Bob Marley, Peter Tosh und Jimmy Cliff machten den reggae schließlich weltbekannt.

 

Musik für Touristen

 

Besonders beliebt ist in Haiti auch heute noch der im 19. Jahrhundert entstandene méringue, oder mereng, wie er im haitianischen creole heißt. Anders als sein Namensvetter aus der benachbarten Dominikanischen Republik wird die haitianische Variante hauptsächlich mit Saiteninstrumenten und Trommeln gespielt und ist deutlich langsamer. Aufgrund der starken afrikanischen Einflüsse gilt der mereng in Haiti als die nationale Musik schlechthin. Dennoch ist heute bei vielen Haitianern der so genannte compas (konpa) beliebter als der mereng. Als eine Mischung aus mereng, calypso und amerikanischem Swing drückt er besser die Wünsche und Sehnsüchte der haitianischen Jugend aus. Und auch der zouk von den anderen französischsprachigen Inseln der Karibik ist in Haiti sehr populär.

 

Als Reaktion auf den zunehmenden Einfluss ausländischer, vor allem angloamerikanischer Musik, kann die so genannte samba-rasins-ginen oder auch musique rasins (roots music) gesehen werden. Sie widmet sich der Pflege der Musik afrikanischer Herkunft. Die international bekanntesten Vertreter dieser Musik sind die beiden Gruppen Boukman Eksperyans und Boukan Ginen, die traditionelle Elemente und Instrumente mit Jazz- und Funk- Elementen mischen.

 

Die Inseln Martinique und Guadeloupe sind Überseedepartements Frankreichs. Erstmals trat Musik aus Martinique in den 1930er Jahren international in Erscheinung, als die biguine in den USA populär wurde, ein traditioneller Trommelgesang aus den Sklavensiedlungen und Zuckerrohrplantagen. Sie fand dann in einer stärker europäisch instrumentierten Variante Eingang in die Ballsäle der weißen Oberschicht und dank des Jazzstandards „Begin the beguine“ von Cole Porter auch in die angloamerikanische Popularmusik.

 

In den 1970er Jahren kam mit einer großen Zahl von Flüchtlingen aus Haiti der konpa nach Martinique und wurde dort zum kadans (frz. cadence) weiterentwickelt. Dieser zeichnet sich durch die Kombination von Jazz-Elementen mit einem charakteristischen, am klassischen europäischen Bel Canto orientierten Gesangsstil aus. Seit Mitte der 80er Jahre jedoch beherrscht eindeutig der zouk (kreolisch für „Party“) das Feld. Die auf dem kadans basierende Mischung aus karibischen Rhythmen, Funk und Soul sorgte nicht nur in der Karibik, sondern auch in Frankreich und in vielen Teilen des französischsprachigen Westafrikas für Furore. Als Initiatoren und Könige des zouk gelten bis heute die Musiker der Gruppe Kassav aus Martinique, die diese Musik Mitte der 1980er Jahre in Paris erfanden. Mit Konzerten vor bis zu 300.000 Menschen im Pariser „Pelouse de Reuilly“ verhalfen sie dem zouk zum Siegeszug in Europa. Ebenso wie Martinique ist das größere Guadeloupe heute eines der Zentren des zouk.

 

Zahlreiche der heute international erfolgreichen Musiker stammen von dort, wenngleich die meisten von ihnen heute in Frankreich leben: Die Hauptstadt des karibischen zouk ist immer noch Paris.

 

Auf vielen Inseln spielt der Tourismus für die Musik eine wichtige Rolle. So beschäftigt im US-Ferienparadies Bahamas jedes große Hotel eine eigene Band, die natürlich auch aktuelle Hits aus den Charts im Repertoire haben muss. Auch der Karneval dient auf den Bahamas hauptsächlich zur Unterhaltung der Touristen: Der traditionelle junkanoo, die akustische Form des goombay, wird deshalb von so vielen Musikern gespielt, weil Junkanoo-Bands von der Regierung bewusst gefördert werden, damit sie in großer Zahl in den Karnevalsumzügen Touristen amüsieren. Auf Antigua & Barbuda wurde der Karneval 1957 eigens für die Touristen eingeführt.