Edouard Glissant

Der karibische Diskurs - eine Poetik der Interkulturalität

von Claudia Ortner-Buchberger

Glissant spürt in seinem lyrischen, romanesken und essayistischen Werk der Entstehungsgeschichte dieses „Laboratoriums“ einer multikulturellen Gesellschaft nach: Das Romanwerk kann als ein postmoderner Epos der karibischen Gesellschaft gelesen werden, die sich - in Ermangelung eines eigenen Gründungsmythos - anders nicht ihres historischen Ursprungs versichern kann. Glissant rekonstruiert die Geschichte der Plantagengesellschaft, indem er die Erzählungen unterschiedlicher Vertreter der zeitgenössischen karibischen Gesellschaft in Beziehung zueinander treten läßt - Geschichten, die sich über die Grenzen des einzelnen Buches hinaus im Gesamttext seines Romanwerks überkreuzen und ineinander verschlingen. Jeder erzählt seine Version der Genealogie der eigenen Familie, um so das Dunkel einer Vergangenheit zu erhellen, über die es kaum schriftliche Aufzeichnungen gibt.

 

Die Gewalt, die am Anfang der Geschichte der Karibik stand, findet in Glissants Beschreibung der Ankunft des ersten négrier, des ersten Sklavenschiffs, ihren sinnfälli- gen Ausdruck. Es sind olfaktorische Eindrücke, die die Erinnerung Papa Longoués, einer der Hauptfiguren im Romanwerk Glissants, an den Gestank, der aus dem Schiffsrumpf drang, auslösen: Ein Gestank, der von den unzähligen Toten herrührt, die die Überfahrt nicht überlebten und der von den unerträglichen hygienischen Bedingungen spricht, denen die Überlebenden ausgesetzt waren. Der Rumpf des Sklavendampfers ist aber auch der Ort, an dem jede Erinnerung an Afrika ausgelöscht wurde und an dem die Kommunikation in den Muttersprachen versiegte: ein Ort der Gewalt, an dem die Kreolisierung, d.h. - im Sinne Glissants - das Aufeinandertreffen ursprünglich nicht zusammengehöriger Elemente und das neu In-Beziehung- Setzen derselben, auf den Antillen ihren Ausgang nahm.

 

Das Leben des 1928 geborenen Edouard Glissant weist viele Elemente der Biographie eines typischen Drittwelt- Intellektuellen auf: Auf dem Lande in Martinique aufgewachsen, verbringt er seine Gymnasialzeit in der Hauptstadt Fort-de-France, wo Aimé Césaire - mit Léopold Senghor zusammen Mitbegründer der Négritude-Bewegung - zu seinen Lehrern zählt. 1946 nach dem Abitur geht er nach Paris, wo er neben seinem Philosophiestudium zahlreiche Kontakte zur Pariser Intelligentzia, die zu diesem Zeitpunkt auch schon eine multikulturelle ist, pflegt und als Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitschriften, u.a. Présence africaine und Les Lettres nouvelles in Erscheinung tritt. Glissants journalistische Tätigkeit mündet schließlich in den Chefredakteurposten für den Courrier de l’UNESCO, den er von 1982 bis 1988 einnimmt. Sein politisches Engagement für die Unabhängigkeit der Karibik - so die Gründung des Front Antillo- Guyanais pour l’indépendance - bringt ihm ab 1959 mehrere Verhaftungen ein.

 

Die Stationen seiner Biographie können als Kommentar zu seinen theoretischen Schriften gelesen werden. Sie zeichnen die Bewegung von der Peripherie (Martinique) zum Zentrum (Paris) und wieder zurück zur Peripherie nach und werden für Glissant zum Anlaß, diese Beziehung neu zu denken und zu leben: Nach seiner Rückkehr aus Paris betont Glissant in seinen theoretischen Schriften - vor allem in dem Essayband Le discours antillais (1981) - die Zugehörigkeit der Karibik zum amerikanischen Raum. Schon in seinem ersten Roman La Lézarde (1958) ließ Glissant die jugendlichen Protagonisten ihre Überzeugung äußern, dass das Zentrum sich nicht „da unten“ in Frankreich befindet, sondern hier, „bei uns“, auf Martinique. Glissant entwickelt mit seinem discours antillais eine theoretische Annäherung an die Problematik „Peripherie- Zentrum“, die sowohl den Diskurs der Négritude mit seiner Fokussierung auf Afrika als auch den Drittwelt-Diskurs marxistischer Prägung hinter sich läßt. Er löst das Konzept der Négritude als einer weltumspannenden Gemeinschaft der Menschen afrikanischer Herkunft ab, wenn er nicht mehr wie Aimé Césaire eine afrikanische Identität beschwört, sondern auf der Besonderheit der antillanischen Situation insistiert. Sowohl das literarische als auch das theoretische Werk Glissants verstehen sich als Illustration dieses discours antillais, der das Postulat einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einheit des karibischen Raumes beinhaltet, und daraus die Forderung nach der Abkehr Martiniques von der Anbindung an Frankreich als département d’outre-mer ableitet. In Glissants Öffnung hin zu den USA, wo er nach einer Lehrtätigkeit an der Universität Baton Rouge in Louisiana heute an der City University of New York eine Professur für Literatur hat, durchbricht er das binäre Dominanzgefälle, das die Beziehung Martinique-Frankreich charakterisiert, und lässt in seiner Person die unterschiedlichen „Zentren“ in eine Beziehung zueinander treten.

 

Die Privilegierung des kleinen, marginalen geographischen Raumes, der im Mittelpunkt von Glissants literarischem Schaffen steht, wird in seiner Vernetzung mit der gesamten Welt gedacht.

 

Auf der Ebene von Glissants Biographie wird die Polarität von Regionalität und Internationalität sichtbar in seiner explizit markierten Zugehörigkeit zum karibischen Raum und in seinem Agieren als Intellektueller in den „dominierenden“ Regionen (Frankreich/ USA), welches zuletzt in Glissants Mitgliedschaft im internationalen Schriftstellerparlament eine lebendige Ausprägung erfahren hat.

 

Die intensive literarische und theoretische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Karibik rückt die Frage nach einer Poetik der Interkulturalität in den Mittelpunkt, die im Zentrum seiner Texte La poétique de la relation (Poetik der Beziehung) und Pour une poétique du divers (Für eine Poetik der Unterschiedlichkeit) steht: Er fragt nach dem Wie, mit dem die Kulturen zu Objekten des Diskurses gemacht werden, und er fragt nach den Möglichkeiten der ästhetischen Umsetzung kultureller Heterogenität und Pluralität. Das Geschichtskonzept Glissants ist von der Abkehr der Vorstellung einer identitéracine (Identität im Sinne einer einheitlichen Wurzel) geprägt. Für ihn sind kulturelle Prozesse nur als interkulturelle zu beschreiben, in denen immer schon Unterschiedliches verhandelt und ein modus vivendi erarbeitet werden musste.

 

Die Antillen bilden aus dieser Perspektive sozusagen den „Normalfall“ der Geschichte. Die Entwicklung von theoretischem Diskurs und romaneskem Werk vollzieht sich bei Glissant als parallel verlaufender Prozeß: Steht in den ersten Romanen La Lézarde (1958), La case du commandeur (1981) und Le quatrième siècle (1964) die Herausarbeitung der réalité antillaise im Mittelpunkt der Texte, organisiert sich der umfangreichste Roman Tout-monde (1993) um die Themen von Interkulturalität, Regionalität und Globalität.

 

Nach einigen sporadischen Veröffentlichungen von Gedichten gelingt Glissant mit seinem ersten, 1958 mit dem Prix Renaudot ausgezeichneten Roman La Lézarde (Sturzflut) der literarische Durchbruch. In seinem inzwischen sechsbändigen Romanwerk bedient sich Glissant der Techniken des Romanzyklus wie dem retour des personnages und der Verfahren einer postmodernen neobarocken Ästhetik. Der Leser wird in ein Labyrinth von Geschichten geführt, die sich zu einem Geflecht verdichten. Die Fäden, die in La Lézarde in die Textur eingewoben sind, werden in den weiteren fünf Romanen aufgegriffen und weitergesponnen. Sie folgen nicht einem linearen, chronologischen Modell von Geschichte, sondern bilden ein labyrinthisches Geflecht, das kein Oben und kein Unten kennt.

 

In seinen Romanen Le quatrième siècle (Das vierte Jahrhundert) und La case du commandeur (Die Hütte des Aufsehers) unternimmt Glissant anhand des Schicksals zweier „Gründerfamilien“, deren Mitglieder sich aus der „Ladung“ des ersten Sklavenschiffes konstituieren, die Rekonstruktion der Geschichte Martiniques. Konsequent vermeidet er jegliche Beschwörung eines afrikanischen Szenarios, sondern entwirft ein nuanciertes Tableau der Plantagengesellschaft, das keinem griffigen Schwarz-Weiß- Schema gehorcht, in dem die Europäer den Nicht-Europäern, die Herren den Sklaven entgegengesetzt werden. Glissant macht die Komplexität eines Ineinander und Miteinander sichtbar, das zwar von der Asymmetrie der Machtverteilung geprägt ist, dessen Dynamik aber auch eigene Lebensformen wie die der nègres marrons, der entlaufenen Sklaven, die eine Art Gegengesellschaft bilden, hervorbringt.

 

Bei aller Kritik an den zum Teil brutalen Praktiken der Machtausübung innerhalb der Plantagengesellschaft, die in den Romanen vermittelt wird, akzentuiert Glissant die vielfältigen Formen des métissage, die sich in dieser Gesellschaft - nicht nur auf biologischer Ebene - in der Überschreitung der Grenze zwischen weißen Besitzern und schwarzen Sklaven herausbilden konnten. So stellt Glissant die kapriziöse Mulattin Hernancia als Persönlichkeit dar, die sich in ihrer Eigenschaft als Lieblingsmätresse des Plantagenbesitzers zahlreicher Privilegien erfreut. Die Geschichte vom ersten schwarzen Aufseher in den Plantagen, der sich mit den Werten des Besitzers identifiziert und seine eigenen Leute malträtiert, durchbricht auch die Vorstellung von einer einfachen Zuordnung in ein Lager der „guten Schwarzen“ und der „bösen Weißen“.

 

Glissants Schreibstil wird häufig als hermetisch und schwer zugänglich betitelt - die dunkeln Texte, deren Dichte teilweise an Lyrik erinnert, entsprechen seiner Forderung nach Opazität (opacité) als Teil seiner Hermeneutik des Fremden: „Ich bin für die Opazität, d.h. selbst wenn ich den anderen nicht verstehe, selbst wenn ich die Beweggründe des anderen nicht gänzlich erhellen kann, stimme ich seiner Existenz grundlegend zu, seiner Existenz mit meiner Wahrheit, die der andere vielleicht nicht begreifen kann. Es gilt hier einen wichtigen Schritt zu tun, denn eine der Behauptungen des Okzident besteht darin, alles am anderen begreifen zu können.“

 

In der Rezeption und Adaption einer neobarocken Ästhetik greift Glissant auf eine Komponente des literarischen Selbstverständnisses der südamerikanischen Autoren zurück: Sowohl José Lezama Lima als auch Alejo Carpentier thematisieren explizit die Affinität der südamerikanischen Kultur zum Stil des Barock. Die Verwendung eines neobarocken Schreibstils ermöglicht Glissant jenen Gestus der Repetition, der mäandrierenden Diskurse, der opulenten Metaphern, die das Nebeneinander von Heterogenem favorisieren. Im Insistieren auf den Prinzipien einer neobarocken Ästhetik setzt Glissant nicht zuletzt ein weiteres Signal in seiner Abkehr von der kulturellen Vereinnahmung Martiniques durch Frankreich: Das Prinzip des Synkretismus, das dem Neobarock entspricht, kann als Antidote zu den zentralistischen und assimilierenden Tendenzen Frankreichs gelesen werden, das in seiner Selbstdarstellung unter den Insignien von clarté und pureté den Gestus der Imitation einfordert.

 

Glissant ist mit seinem Plädoyer für die antillanité zum Bezugspunkt und Vorbild der neuen Schriftstellergeneration der Kleinen Antillen (Bernabé, Chamoiseau, Confiant) geworden - mit seiner poétique de la relation (Poetik der Beziehung) hat er das Konzept der Weltliteratur fortgeschrieben und neu definiert.

 

Der Lyriker der Karibik: Derek (Alton) Walcott

Der bedeutendste Lyriker der karibischen Inselwelt ist der heute auf Trinidad lebende Derek (Alton) Walcott. Walcott wurde 1930 in der Stadt Castries auf St. Lucia geboren. Bereits im Alter von 18 Jahren veröffentlichte er seine ersten Gedichte. Nach seinem Studium auf St. Lucia und Jamaika zog er 1953 nach Trinidad, wo er als Literatur- und Kunstkritiker arbeitete. Der literarische Durchbruch gelang ihm 1962 mit der Lyriksammlung In a Green Night (In einer grünen Nacht). Es folgten zahlreiche Gedichte und Dramen, für die er 1992 mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde. (mr)