Drachen im Frühling

Ein Interview mit "Inti-Illimani"

torsten Eßer

Inti-Illimani gehörte seit 1968 zu den Bands der Nueva Canción Chilena, die einen gesellschaftlichen Wandel forderten und die Unidad Popular unterstützten. Am 11. September 1973 befand sich die Gruppe auf Tournee in Italien, wo sie dann 15 Jahre lang im Exil blieb. Mit Horacio Duran, einem der beiden Gründungsmitglieder, sprach Torsten Eßer für Matices über Musik, den Putsch und die heutige chilenische Gesellschaft.

 

Welche Bedeutung hatte Eure Musik vor dem Putsch für die chilenische Gesellschaft?

 

Schon Jahre vor der Regierung Allende war es in Chile zu einer neuen musikalischen Entwicklung gekommen. Begonnen hat sie mit der Sängerin Violeta Parra, die die Folklore vom Land in die Stadt holte und der Jugend bekannt machte. Ihr folgten Victor Jara, Patricio Manns, die Gruppe Quilapayún, wir und viele andere. Diese Musik war ein Ausdruck unserer nationalen Identität. Dies alles geschah parallel zur Erstarkung der linken Arbeiterbewegung, die schließlich in der Unidad Popular und der Regierung Allende gipfelte. Wir lieferten sozusagen die Musik für diese Bewegung. Die im nachhinein so benannte Nueva Canción Chilena war auch eine musikalische und textliche Revolution, und sie erforderte eine neue Art des Zuhörens und des Umgangs mit ihren Inhalten. Ich bin dankbar für diese Frage, denn es ist sehr wichtig diese Dimension hervorzuheben. Viele reduzieren diese Bewegung leider immer nur auf die Agitprop-Funktion [Agitationspropaganda] für die Unidad Popular und die Regierung Allende. Das war sie auch, und das war wichtig, aber die Bewegung war viel weitreichender.

 

Wie wichtig ist diese Musik für die heutige Jugend in Chile?

 

Sie ist immer noch wichtig. Das gibt uns Kraft. Die Musik von Gruppen wie Inti-Illimani, Quilapayún, Los Jaivas oder Congreso ist gerade bei der Jugend wieder sehr beliebt. Unsere Musik ist kein von Nostalgie geprägtes Relikt aus der Vergangenheit, sie ist sehr zeitgenössisch.

 

Was habt Ihr gefühlt, als Euch in Italien die Nachricht vom Putsch erreichte? Wart Ihr froh, nicht in Chile zu sein?

 

Das ist schwer zu sagen. Große Traurigkeit, großer Schmerz, wegen des Putsches und der Gewalt. Zugleich ein Gefühl, Glück gehabt zu haben, weil wir im Ausland waren. Das sagten auch viele von unseren Verwandten und Freunden, die noch dort waren. Unsere Art das zu verarbeiten war, wie verrückt zu arbeiten. Wir gaben über 150 Konzerte pro Jahr und bekämpften so den Schmerz.

 

Wie war das Gefühl, als ihr 1988 wieder nach Chile reisen durftet?

 

Wir kamen am 18. September 1988 in Chile an, einige Tage nachdem unser Einreiseverbot nach 15 Jahren aufgehoben worden war. Das war kurz vor dem Plebiszit, aus dem Pinochet als Verlierer hervorging. Wir gaben noch am gleichen Tag ein Konzert: Am Flughafen erwarteten uns hohe Vertreter der linken Parteien und Organisationen und viele tausend Menschen. Sie brachten uns direkt in ein Viertel in der Nähe vom Flughafen und wir spielten dort. Es war unbeschreiblich. In mir entstand ein nie zuvor gefühltes Glück. Der 18. September ist der Nationalfeiertag Chiles, mitten im Frühling. Alle positiven Erinnerungen, die man an Chile hatte, erfüllten sich an diesem Tag: Die Sonne schien über den schneebedeckten Anden, es flatterten viele Drachen im Wind, ein Symbol für das erwachende Leben und den Frühling. Die Familien saßen auf den grünen Wiesen und feierten. Mein Glück schloß sogar meine Feinde mit ein.

 

Ist die heutige Demokratie in Chile real oder nur oberflächliche Kosmetik unter der immer noch die Vertreter der Diktatur die Fäden ziehen?

 

Meiner Meinung nach gibt es einen wirklichen Wechsel in Chile. Leider ist die Militärdiktatur nicht gestürzt worden, sondern es gab einen vereinbarten Übergang, die so genannte Concertación. Aber mit dieser Realität muss man leben und arbeiten, sonst geht es nicht weiter. Chile ist ein echter Rechtsstaat, mit freien Wahlen und vielen Neuerungen. Was sich nicht verändert hat, ist, dass Chile eine durch und durch neoliberale Gesellschaft ist. Die wirtschaftliche Macht liegt nach wie vor in wenigen Händen. Die Regierung der Concertación hat dem ökonomischen System nur einige soziale Errungenschaften hinzugefügt. Man darf aber auch nicht vergessen, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen seit 1990 verdoppelt hat. Die extreme Linke hat durch die Concertación ihre Vision verloren und bekämpft sie nun genauso stark, wie die Rechten. Sie vertritt die Meinung, dass die jetzige Regierung genauso schlimm ist wie die Diktatur. Das lehne ich total ab, das ist absurd.

 

Ich glaube, die schlimmste Folge der Diktatur ist – neben der neoliberalen Wirtschaft – , dass es keine wirklichen politischen Debatten gibt, kein reale Streitkultur über politische und kulturelle Fragen, keine Visionen. Es gibt Fronten auf allen Seiten. Es gibt immer nur Gewinner und Verlierer. Die chilenische Gesellschaft ist auf zwischenmenschlicher Ebene sehr gespalten. Sie hat ihre Solidarität verloren.

 

Was fühlen Sie, wenn Ihnen auf der Straße jemand entgegen kommt, von dem Sie wissen, dass er ein Täter aus der Pinochet-Zeit ist, aber nie für seine Taten verurteilt wurde?

 

Die impunidad (Straflosigkeit) ist ein schwarzes Kapitel Chiles. Es gab einige Verurteilungen von Generälen oder von Folterern, aber das ist nur ein kleiner Teil. Ich habe mir immer einen wirklichen Neuanfang gewünscht mit Strafverfolgung aller Täter. Das ist nicht passiert, weil die Diktatur aus einer starken Position heraus mit den Vertretern der Concertación verhandeln konnte, die ihrerseits schwach war. So konnte sie drei oder vier Dinge durchsetzen – u.a. die impunidad – denen sonst niemand zugestimmt hätte. Viele Mörder laufen deswegen frei herum und viele Funktionäre der Diktatur sitzen immer noch auf ihren Sesseln in den Ministerien. Das war auch eine Vereinbarung während der Verhandlungen. Sie konnten sie nicht entlassen und noch heute machen sie ihre schmutzige Arbeit.

 

Nimmt die Politik heute noch Einfluß auf die Musik, gibt es noch Zensur?

 

Nein, es herrscht absolute Freiheit. Es gibt keine Verbote von offizieller Seite mehr. Aber es gibt innerhalb von Opus Dei [eine ultrakonservative religiöse Vereinigung] eine Gruppe, die Anträge bei Gericht stellt, um Veranstaltungen zu verbieten, so zum Beispiel die Aufführung von Scorceses Film „Die letzte Versuchung Christi.“

 

Victor Jara - Das Lied als Waffe

 

Der international bekannteste Vertreter der Nueva Canción Chilena ist sicherlich Victor Jara. 1957 lernte er die Folklore-Sängerin Violeta Parra kennen und schloss sich der Folkloregruppe Cuncumén an. Er lernte viele Volkslieder und -tänze und sah darin ein Mittel gegen die kulturelle Invasion aus dem Norden: „Die kulturelle Invasion ist wie ein dicht belaubter Baum, der uns daran hindert, unsere eigene Sonne zu sehen“, sagte Jara. Als Mitglied der kommunistischen Partei war es ihm unmöglich, seine Kunst von der politischen Situation zu trennen. Mitte der 60er Jahre wurden seine Texte immer stärker von den Ungerechtigkeiten, der Armut und der politischen Lage in Chile und Lateinamerika bestimmt: „Ein Künstler muss ein Revolutionär sein, so gefährlich wie ein Guerillakämpfer.“ Nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 endete der Traum von einer besseren Welt. Gefangengehalten im Stadion von Santiago, versuchte Victor Jara noch in dieser Situation den Mitgefangenen mit Liedern Mut zu machen - bis ihm feige Mörder die Finger brachen und ihn anschließend erschossen. (tee) Literatur/ CDs: Joan Jara. „Das letzte Lied – Das Leben des Victor Jara“, München 2000. Victor Jara. Complete (1990), Pläne (4-CD-Box mit acht Original LPs).