Hohe Verschuldung und rivalisierende Jugendbanden

Honduras auf der Suche nach Lösungen

Torsten Eßer

Oscar Rodríguez wurde 1942 in Tegucigalpa, der Hauptstadt von Honduras, geboren. Er besuchte eine Schule des Salesianer-Ordens und ließ sich in El Salvador zum Grundschullehrer ausbilden. Später studierte er Physik, Chemie und Mathematik auf Lehramt, danach Philosophie, Theologie und Musik. Es folgten Auslandsstudien in Rom und Innsbruck, wo er ein Diplom in Psychologie machte. 1970 trat er in den Salesianer- Orden ein und wurde zum Priester geweiht, 1993 zum Erzbischof von Tegucigalpa. Im Februar 2001 ernannte Papst Johannes Paul II. ihn zum Kardinal. Torsten Eßer sprach für Matices mit ihm über die Verschuldung seines Landes, Jugendbanden und evangelische Freikirchen.

 

Honduras hat 5,5 Miliarden US-Dollar Auslandsschulden und ist vor Haiti das zweitärmste Land Lateinamerikas und der Karibik. Wie kann man das Verschuldungsproblem lösen?

 

Mit dem aktuellen internationalen Finanzsystem scheint mir das unmöglich. Das ist wie ein Dialog von tauben Partnern. Der Internationale Währungsfond (IWF) hat nur die Heavily Indebted Poor Countries-Initiative (HIPC) als Rezept. Wir haben 13 Jahre nach der ersten IWF-Strukturanpassung der Wirtschaft erst im Jahr 2000 den decision point erreicht. Das bedeutet, dass wir ein Entschuldungsprogramm über 900 Millionen US-Dollar für die nächsten zehn Jahre zugesagt bekommen haben. Das reicht nicht aus, man muss die Strategie ändern. Und das können eigentlich nur die G8-Staaten veranlassen. Vor vier Jahren beim G7-Gipfel in Köln habe wir Kanzler Schröder 17 Millionen Unterschriften, die weltweit gesammelt wurden, überreicht, um den Erlass der Schulden für die ärmsten Länder zu fordern. Damals gab es viele Versprechungen und viele Hoffnungen, die heute immer noch nicht erfüllt sind. Der HIPC-Prozess funktioniert nicht. Darum müssen wir einen neuen, unparteiischen Prozess aufsetzen, unabhängig von Personen und Institutionen, die - wie der IWF selbst - Gläubiger sind. Das Existenzminimum muss garantiert sein, man kann keine Zinsen vom Lebensnotwendigsten bezahlen. Ohne Entwicklung kann es keinen Frieden geben und Entwicklung gibt es nicht, wenn das Problem der Entschuldung nicht gelöst wird. Immer mehr Menschen verarmen. Darum brauchen wir nicht lange nach Massenvernichtungswaffen chemischer, biologischer oder atomarer Art zu suchen, denn die „Massenvernichtungswaffen“ Hunger, Ungerechtigkeit und Korruption vernichten seit Jahren die Menschen.

 

Denken Sie, dass die internationale Schuldenpolitik einem neuen Kolonialismus gleicht?

 

Ja, es handelt sich um einen neuen Kolonialismus. So wie die Kolonien in der Vergangenheit Tribut an das Imperium zahlen mussten, so müssen die verschuldeten Länder heute Zinsen an die internationalen Finanzinstitutionen zahlen. Und diese Institutionen wurden eigentlich nicht geschaffen, um sich oder irgendwelche Anleger zu bereichern. Sie wurden für zwei Aufgaben geschaffen: Entwicklung und Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Das scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Heute geht es nur darum, Völker gerade so am Leben zu halten, damit sie ewig Zinsen zahlen können.

 

Was können die Honduraner selbst tun, um die Situation zu verbessern?

 

Wir haben verschiedene Foren geschaffen. So zum Beispiel das Forum „Externe Schulden“, initiiert von den evangelischen Kirchen. Das unterstütze ich sehr. Das ist ein Zeichen der Hoffnung. Immer wenn eine IWF- oder Weltbank- Delegation anreist, bitten wir um ein Gespräch.

 

Denn jedes Mal, wenn die Regierung wieder ein Abkommen unterzeichnet, möchten wir es zuvor sehen. Ansonsten wird das geheim gehalten und zahlen darf wieder einmal das Volk.

 

El Salvador und Honduras leiden noch unter einem weiteren großen Problem, den so genannten salvatruchas - kriminellen Jugendbanden. Wie lässt sich das lösen?

 

Das ist für mich das größte und komplexeste Problem momentan. Es wurde aus den USA importiert, von jungen Salvadorianern, die in Los Angeles in ähnliche Jugendbanden eintraten und dann des Landes verwiesen wurden. Darum heißt es salvatrucha. In der Heimat angelangt, gründeten sie neue Banden. Das Hauptproblem war, dass diese Jugendlichen kein Zuhause hatten und haben. Die Wohnungen in Honduras sind winzig, so dass die Kinder de facto auf der Straße leben. Wenn sie dann zusätzlich keine Arbeit haben und keine Ausbildung und sich auch nicht sportlich betätigen können, da es keine Sportplätze gibt, dann werden sie leicht Mitglied in einer dieser Banden. Ein weiterer Grund sind die echten Straßenkinder, die keine Familie mehr haben. Viele dieser Kinder werden kriminell und dann Bandenmitglieder. Die Regierung versucht das Problem zu lösen, aber die Situation wird immer schlimmer. Es gibt Todesschwadronen, die nachts Straßenkinder und vermeintliche Bandemitglieder töten. Die katholische Kirche hat einige spezielle Schulen für solche Jugendliche eingerichtet. Manche sind zwar verloren, aber die Mehrheit ist re-integrationsfähig, wenn wir ihnen helfen. Zum Beispiel haben einige Jugendliche im Moment sehr große Angst, weil sie tätowiert sind. Eine Tätowierung zu haben kann ein Todesurteil sein. Wenn nachts die Todesschwadronen durch die Straßen fahren, töten sie einen tätowierten Jungen sofort. Das ist grauenhaft, und die Täter werden nie gefasst. Einige Jungen wollen ihre Tätowierung entfernen. Aber das ist nicht einfach. Auf dieser Reise durch Deutschland haben wir ein Laser- Gerät gespendet bekommen, mit dem das möglich ist.

 

Wie stellt sich die Ausbildungssituation in Honduras dar?

 

Die Mehrheit unserer Bevölkerung ist sehr jung und alle wollen zur Schule gehen und/oder studieren. Die staatlichen Fördermöglichkeiten sind allerdings sehr begrenzt. Wir brauchen Geld, wir können kaum die Lehrer bezahlen und keine neuen Schulen bauen.

 

Und wenn jemand fertig studiert hat, muss er nach jahrelangem Lernen feststellen, dass es keine Arbeit für ihn gibt. Die Studenten erhalten ihren Titel und sind dann arbeitslos. Darum versuchen wir, etwas Ähnliches aufzubauen wie die deutsche Fachhochschule mit ihrer praxis- nahen Ausbildung, damit die Jugendlichen bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Und vielleicht ihre eigenen kleinen Firmen gründen können.

 

In Lateinamerika / Honduras gibt es einen starken Vormarsch evangelischer Freikirchen aus den USA. Wie begegnet die katholische Kirche diesem Phänomen?

 

Das ist kompliziert. Zunächst kamen sie mit Unterstützung der US-Regierung, um den sozialen Frieden zu zerstören. Viele dieser Kirchen betrachten die Beziehung zu Gott als etwas rein persönliches, ohne jede soziale Verpflichtung. Das ist sehr bequem, vor allem für einige Regierungen. Wie zum Beispiel für Fujimori in Peru, der unter anderem von diesen Kirchen an die Macht gebracht wurde.

 

Wir versuchen unsere Gläubigen besser zu schulen und einzubinden. Es gibt viele Getaufte in unserer Kirche, die nie Religionsunterricht hatten. Sie wechseln schnell zu solchen Kirchen, vor allem wenn das mit ökonomischen Vorteilen verbunden ist. Diese Freikirchen bieten zum Beispiel Wunderheilungen an, was gut ankommt, da unser Gesundheitswesen stark beschädigt ist. Diese Wunderheilungen werden teilweise über Anzeigen bekannt gemacht, die die exakte Uhrzeit des Wunders angeben. Das ist schon lächerlich. Wir müssen unseren Glauben mehr auf die individuelle Situation abstimmen und die Gläubigen besser unterweisen.

 

Es gibt eine Tendenz, die indigenen Glaubensrituale stärker in die Handlungen der katholischen Kirche einzubetten. Hängt das damit zusammen?

 

Ja. Allerdings in Honduras weniger, da es nur noch rund 20.000 indígenas gibt, der Großteil der Bevölkerung sind Mestizen. Dafür gibt es rund 200.000 Schwarze, die garífuna an der Küste. Wir führen die Messe in ihrer Sprache durch und kleiden uns auch manchmal wie sie. Ich habe auch schon Messen in ihrer Tracht zelebriert. Das ist wichtig, damit sie sich bei uns zuhause fühlen. Unsere indígenas hingegen leben am Rande der Gesellschaft, beispielsweise weil sie vor der Kolonialmacht in abgelegene Gebiete flüchteten. Seit 20 Jahren gibt es eine katholische indigene Gemeinde, aber es bleibt schwierig, die Kaziken arbeiten häufig noch gegen uns.

 

Man sagt, sie haben mehr Macht und Einfluss auf das Volk als der Präsident. Stimmt das?

 

Nein, das sind Übertreibungen. Sicher ist aber, dass das Volk der Kirche zuhört, nicht nur mir, auch anderen padres. Warum? Weil wir keine persönlichen Interessen verfolgen, sondern dem Gemeinwohl dienen. Das vergisst die Regierung sehr häufig.

 

Glossar

HIPC - Heavily Indebted Poor Countries

1996 wurde die HIPC I-Initiative zur Entschuldung der hoch verschuldeten armen Länder ins Leben gerufen. 1999 beschlossen die G7-Staaten in Köln die weiter reichende HIPC II-Initiative.

decision point

Zeitpunkt, an dem IWF und Weltbank nach Abschluss einer Schuldentragfähigkeitsanalyse über die Höhe einer Entschuldung entscheiden.