Gewalt & Widerstand

Argentinische und brasilianische Filme auf der 53. Berlinale

von Sonja Hofmann

Auch in diesem Jahr fand die Berlinale ohne lateinamerikanischen Wettbewerbsbeitrag statt. In den Sektionen Panorama und Forum gab es jedoch ein halbes Dutzend Filme aus Brasilien und Argentinien zu sehen. Wieder war es das Thema „Gewalt“, das die lateinamerikanischen Beiträge beherrschte, doch in ihrer Ausgestaltung erwiesen sich die Filme als höchst unterschiedlich und experimentierfreudig.

 

Am Anfang schien alles ein Spiel, ein Abenteuer zu sein. Der 10-jährige Harry wird mit seinem jüngeren Bruder, dem „enano“ (Zwerg), von einem auf den anderen Tag aus der Schule geholt, um mit den Eltern in der quietschgelben Ente von Buenos Aires in ein Landhaus zu fahren, ihr vorübergehendes neues Domizil. Dort angekommen, müssen sie sich neue Namen zulegen und lernen, sich in den Büschen zu verstecken.

 

Unser kleiner Protagonist entscheidet sich sofort für den Namen Harry, in Anspielung an den großen Entfesselungskünstler Harry Houdini, dessen Buch er im Kinderzimmer ganz oben auf einem Regal gefunden hat und das ihn fortan nicht mehr loslässt. Nur langsam erfährt das Publikum etwas von den Hintergründen zu diesem Versteckspiel. Wir schreiben das Jahr des Militärputsches 1976. Die Eltern, ein Anwalt und eine Professorin, gespielt von den argentinischen Stars Cecilia Roth (Todo sobre mi madre) und Ricardo Darín (El hijo de la novia), erfahren in kurzen Telefonaten von immer neuen Verhaftungen ihrer Kollegen und Freunde. Auch das Landhaus bietet nicht lange Schutz. Bald schon müssen sie sich entscheiden, die Kinder den Großeltern zu überantworten oder sie den zunehmenden Gefahren auszusetzen. Der Regisseur des argentinischen Spielfilms Kamchatka, Marcelo Piñeyro, tauchte selbst während der Militärdiktatur für eine Zeit in einem Haus unter, das dem in seinem Film ähnelte. „Ich wollte zeigen, wie die Familie die Gewalt spürt, ohne sie dabei physisch zu fühlen und wie eine ganze Gesellschaft unter diese Bedrohung, diese Gewalt geriet“, kommentierte der Regisseur nach der Vorführung auf der Berlinale sein Werk. Im Gegensatz zu anderen Filmen über den argentinischen Militärputsch, wird hier ganz auf das Zeigen von Repression und Folter verzichtet und aus der Perspektive eines Kindes erzählt. Dennoch liegt über dem Film die verzweifelte Atmosphäre der akuten Bedrohung. Jedes Detail im Alltag, das morgendliche Frühstück mit der Familie etwa, wird zu einem wichtigen Ritual, denn jeder Morgen könnte der letzte sein. Kamchatka (tatsächlich benannt nach der Halbinsel aus dem Risiko-Spiel) ist ein Film über den Widerstand, über das Überleben. Mit eindringlichen Bildern und herausragenden Darstellern gelang dem Regisseur ein einfühlsames Porträt über den Zusammenhalt einer Familie in einer Ausnahmesituation.

 

Argentinische Rebellion

 

Eine ganz andere Form des Widerstandes aus Argentinien schildern die sechs Dokumentarfilme der politischen Filmbewegung des Cine Piquetero. Ausgerüstet mit einfachen Videokameras stürzten sich junge Filmemacher während der Aufstände vom 19. und 20. Dezember 2001 in die aufgebrachte Menschenmenge auf den Straßen und dokumentierten das Geschehen zwischen Protestaktion und polizeilicher Repression. Andere Videos zeigen Proteste von Arbeitern, die ihre von baldiger Schließung bedrohten Fabriken besetzen.

 

Zusammengeschlossen in Filmkollektiven wie „Cine Insurgente“ und „Argentina Arde“, verstehen sich diese Filmemacher als Teil der Widerstandsbewegung. Viele von ihnen sind Filmstudenten mit geringen finanziellen Mitteln. Indem sie mit und aus der Bewegung heraus filmen, schaffen sie eine Gegenöffentlichkeit zu den Standpunkten der großen Medien und TV-Sender. Gezeigt werden die Videos vor allem auf Versammlungen und in unabhängigen Kinos. Alles andere als professionell gemachte Dokumentationen, sondern fast schon als Nachrichtenvideos gedacht, sind die Filme wichtige Zeugnisse der politischen Opposition Argentiniens. In einem computeranimierten Zeichentrickfilm erzählt Juan Antin von einer Rebellion der besonderen Art: Mercano el Marciano erzählt die Geschichte des Marsbewohners Mercano, der, nachdem sein Alien-Hund von einer fehlgeleiteten Erdensonde erschlagen wurde, als kleiner grüner Rächer auf die Erde fliegt und nach einer Bruchlandung in Buenos Aires erstmal mit dem dortigen Chaos aus Plünderungen und Armut klarkommen muss. Da niemand von seiner Anwesenheit Notiz nimmt, schafft sich der verzweifelte Marsianer mittels geklautem Laptop seine eigene virtuelle Welt. Bald loggt sich der einsame zwölfjährige Julián, der tagein, tagaus stumpf im Internet surft, in Mercanos Welt ein, und wird zum unentbehrlichen Freund des traurigen Marsmenschen. Juliáns Vater allerdings, ein windiger Konzernchef, trachtet Mercanos Hirn auszusaugen, nachdem er in dessen Programm die Chance auf ein gewinnträchtiges Geschäft gewittert hat. Bald schon sitzt die Bevölkerung Argentiniens wie gebannt vor den Bildschirmen und bastelt sich im Cyberspace die neue Traumwelt zusammen. Klar, dass Julián und Mercano das Ganze mit einem großen Gemetzel zu beenden suchen. Am Ende entscheidet eine winzige Handlung, das Durchtrennen des richtigen Kabels, über die Zukunft der Welt... Juan Antin, der Leiter der Abteilung für Animation der Universidad de Cine, hat mit seinem ersten abendfüllenden Animationsfilm satirischen Spaß mit einem ironischen Blick auf das heutige Argentinien in der Krise verbunden.

 

Thema Gewalt

 

Die Gewalt ist im brasilianischen Film omnipräsent. Der Debütfilm von José Henrique Fonseca O homem do ano wollte zeigen, wie jemand durch Außeneinwirkung in ein Netz aus Gewalt hineingezogen wird, geriet aber letztlich nicht überzeugend. Weil er eine Fußballwette verloren hat, muss Maiquel seine Haare blond färben und wird dafür von dem Kriminellen Suel verlacht. Nachdem Maiquel ihn getötet hat, glaubt er, schnell verschwinden zu müssen, doch zu seinem größten Erstaunen feiert ihn die Nachbarschaft als Helden. Bald schon erhält Maiquel Angebote, weitere unliebsame Personen gegen Geld aus der Welt zu schaffen. Seine Karriere als Auftragskiller nimmt ihren Lauf. Mit der Verfilmung des Romans „O Matador“ von Patrícia Melo wollte Fonseca erzählen, wie sich durch eine banale Veränderung, wie die der Haarfarbe, ein ganzes Leben verändern kann. Maiquel kommt gegen sein vorgezeichnetes Schicksal nicht an und findet kein Zurück. Leider ist die Handlung viel zu konstruiert, zu glatt und stereotyp, als dass der Zuschauer sich in den Protagonisten hineinversetzen könnte. Der neue Film des Regisseurs João Batista de Andrade ist da schon vielschichtiger angelegt. Rua 6, sem número ist ein Spiel zwischen Realität und Phantasie.

 

Der arbeitslose Journalist Solano sieht zufällig, wie ein Straßenjunge einen alten Verkäufer ersticht. Bevor er stirbt, steckt der Alte Solano noch ein Geldbündel zu, dass er einer gewissen Maíra in der „Rua seis“ aushändigen soll. Da es davon in Brasilia eine ganze Menge gibt, begibt sich Solano auf die Suche und grast eine Favela nach der anderen nach der geheimnisvollen Maíra ab. Dabei vermischen sich schon bald mehrere Ebenen: die Suche des angehenden Schriftstellers nach einer spannenden Story, die Beschäftigung mit seiner eigenen Vergangenheit und seiner damaligen Geliebten und die zunehmende Verstrickung in mafiöse Strukturen. Organisierte Kriminalität und soziale Diskriminierung beschäftigten den Regisseur schon in früheren Filmen. Wie Solano, so tauchte auch der Filmemacher als Fremder von außen in die zunehmend unzugänglicher werdende Welt der Kriminalität ein. Doch den Zutritt für richtige Dokumentationen wie er sie früher drehte, erzählt Andrade, den würde er heute so nicht mehr erhalten. Der interessanteste Film unter den brasilianischen Beiträgen beschreibt einen 24-Stunden- Tag von mehreren schrillen Bewohnern eines heruntergekommenen Viertels in der Küstenstadt Recife, deren Geschichten zusehends ineinandergreifen:

Dunga, schwuler Koch und Geschäftsführer des betagten „Hotel Texas“, will den Macho Wellington, der im Schlachthaus arbeitet, verführen.

 

Wellington wiederum betrügt seine bigotte Frau Kika, die sich bei einer religiösen Sekte engagiert, mit der Verkäuferin Daisy. Da beschließt Dunga, mit einer Intrige die beiden Damen gegeneinander auszuspielen. In seinem Hotel wohnt außerdem der Deutsche Isaac, ein Sadist, der zum Zeitvertreib auf Leichen schießt und ein Auge auf Lígia geworfen hat, eine attraktive Barfrau, die ausrastet, sobald Isaac ihr zu nahe kommt. Der Regisseur führt uns mit bestechenden Bildern durch seinen Reigen der Eifersucht und Leidenschaften und spielt mit dem machistischen Gebaren der Männer, bis zuletztdie Frauen, die Haare in sattes Mangogelb getaucht, gestärkt aus dem Geschlechterkampf hervortreten .

 

Interview mit Cláudio Assis

 

Amarelo Manga zeigt eine Geschichte, oder besser gesagt mehrere Geschichten, von Menschen, die sich innerhalb von 24 Stunden ereignen.

Das ist der Reigen, der Ablauf, das Pendel des Lebens, in dem sich die täglichen Abläufe wiederholen. Die Bar von Lígia wird geöffnet und sie wird wieder geschlossen, alles wiederholt sich immer wieder, auch unsere Laster. Auch das Fleisch steht im Film als Symbol für die Sünde, im Schlachthaus steht das Fleisch für die Gewalt und das Leiden. Vielleicht bringe ich ja so auch die Leute davon ab, Fleisch zu essen...

 

Die Gewalt ist ja ein vorherrschendes Thema in deinem Film...

 

Gewalt gibt es in den Metropolen der ganzen Welt. Mein Interesse ist, die Gewalt in Brasilien zu verdeutlichen und zu zeigen. Die Gewalt ist in jeder einzelnen Person präsent und gerade bei Menschen, die uns nahe stehen, wollen wir die zwischenmenschliche Gewalt am wenigsten wahrhaben. In der Liebe sind wir blind und egoistisch. Wir lieben immer falsch. Ich möchte mit meinem Film das Publikum zu Diskussionen über Gewalt provozieren. Der Film ist voller gelungener eingestreuter Alltagsbeobachtungen, die man im Fernsehen eher selten sehen kann. Ich bin gegen das brasilianische Fernsehen, da es sehr grausam ist und die Charaktere nur als Klischees benutzt. Es respektiert die Menschen nicht.

 

Dabei haben wir so viele verschiedene Kulturen, die auch alle vertreten sein sollen. Ich will, dass das Volk präsent ist. Ich bin für die Globalisierung, aber das Individuum und die einzelnen Kulturen müssen dabei berücksichtigt werden. Ich zeige den Alltag der Menschen von Recife, sonst hat man möglicherweise eher ein Bild der Strände im Kopf.

 

Warum sitzt im Hotel Texas immer eine Gruppe Leute stumm vor dem Fernseher?

 

Das sind die Indianer Brasiliens, die kaum respektiert werden. Sie sind die eigentlichen Herren des Landes, leben jedoch entfremdet in ihrem eigenen Land. Was für ein Land ist das eigentlich, in dem die Weißen für die wahren Herren des Landes das Fernsehen bestimmen?

 

Du zeigst den Alltag und das Chaos des Lebens in Brasilien mit sehr extremen Seiten, wie dem Deutschen Isaac, der auf Leichen schießt...

 

Isaac hat vor nichts Respekt, weder vor den Frauen, noch vor sonst irgendjemandem. Er hat eine nekrophile Ader, er tötet Leichen. Doch das ist immer noch besser, als Lebende zu töten. Alle Geschichten im Film haben mit Menschen zu tun, die es wirklich in Brasilien gibt. Ich habe das alles selbst gesehen.

 

Hat sich seit der Wahl des neuen Präsidenten Lula da Silva der Alltag in Brasilien verändert?

 

Ja! Lula repräsentiert den Widerstand, Hoffnung und Veränderung. Ich habe die Hoffnung, dass mit Lula Veränderung eintritt. Wir kämpfen mit der Arbeiterpartei seit der Militärdiktatur. Ohne zu kämpfen erreicht man nichts. Auch die Bourgeoisie hängt sich opportunistisch ans Volk.

 

War es schwierig, im Nordosten, in Pernambuco, den Film finanziert zu bekommen?

 

Das Equipment, die Kameras etc., das ganze Geld für Filmförderung konzentriert sich in Brasilien auf die Achse Rio-São Paulo. In Pernambuco, bzw. in Recife einen Film drehen zu wollen, ist sehr problematisch. Um den Film zu realisieren, habe ich sechs Jahre gebraucht.

 

Wird Amarelo Manga denn in Brasilien gezeigt werden?

 

Der Film war zuerst auf dem Festival in Brasilia zu sehen, wo er sieben Preise gewann. Nach dem Festival hier in Berlin werden wir die nationale Auswertung starten und im April dann den Film in Recife im Kino zeigen – wir sind ja ein kolonialisiertes Land, deshalb werden alle es toll finden, dass wir in Berlin waren... Ich werde auch versuchen, selbst bei den Vorführungen anwesend zu sein, um mit dem Publikum den Film zu diskutieren.

 

Wir haben die Farbgebung in dem Film bewundert, die ja dieses Amarelo Manga verkörpert...

 

Das ist die Farbe dieser Gegend, doch Amarelo Manga ist dieses mangofarbene Gelb, mit dem sich Kika, die Frau von Wellington, nach ihrem „Sündenfall“ die Haare färbt. Auch die Schamhaare der Barfrau Lígia sind in diesem Ton eingefärbt. Es ist eine Art atmosphärische Farbe, die konsequent durchgehalten wird.

 

Am Ende des Films sieht man die Gesichter von allen Beteiligten, die dokumentiert werden. Besteht denn Hoffnung auf eine positive Wendung?

So lange wir leben, besteht durchaus Hoffnung.