Paraguay...ein linguistisches Binnenland

von Priv. -Doz. Dr. Sonja Maria Steckbauer

Seit Paraguay ist neben Bolivien das einzige Binnenland Lateinamerikas. Die besondere geographische Lage trug ebenso zu seiner Abgeschiedenheit bei wie die von Diktaturen geprägte Geschichte des Landes. Trotz Internationalisierungsbestrebungen, wie dem Beitritt zum gemeinsamen Markt MERCOSUR, befindet sich das Land bis heute in einer Art Isolation. Es wird wiederholt mit einer „Inselohne Meer“ (Juan Bautista Rivarola Matto) verglichen, wobei die linguistische Situation einen wesentlichen Aspekt für das Binnendasein darstellt.

Seit 1992 ist die indianische Sprache Guaraní neben Spanisch Staatssprache, und damit ist Paraguay das einzige Land in Lateinamerika, in dem eine Indianersprache sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart die Funktion einer Nationalsprache innehatte und hat. In Paraguay wird Guaraní vom Großteil der Bevölkerung aktiv gesprochen oder zumindest passiv verstanden und im Unterschied zur soziolinguistischen Situation in anderen lateinamerikanischen Ländern ist in Paraguay das Sprechen der indianischen Sprache nicht mit Prestigeverlust verbunden. Diese besondere sprachliche Situation erklärt sich aus der Geschichte des Landes, die im folgenden aus einer linguistischen Perspektive analysiert werden soll.

 

Die Wurzeln des Guaraní

 

Es ist sehr wenig über Al-ter und Herkunft des Vol-kes der Guaraní bekannt,außer dass ihr Name eine vom Wort aba-riní (Krieger)abgeleitete Autodenomination ist. Kurz vor Beginn der spanischen Konquista ließen sich die Guaraní an denUfern der Flüsse Paraná und Paraguay nieder.

 

Dennobwohl sie eigentlich sesshafte Landwirte waren, zogensie in gewissen Zeitabständen in neue Regionen weiter –auf der Suche nach dem „Land ohne Übel“ (yvy marane’),welches sie glaubten, im Gebiet des heutigen Paraguaygefunden zu haben. Die Sprache Guaraní wurde dortschnell zur lingua franca verschiedener kleinerer Indianer-völker, mit denen aus wirtschaftlichen und politischenGründen eine Kommunikation notwendig war. Im Ver-gleich mit anderen südamerikanischen Indianersprachenhatte Guaraní damit schon vor der Konquista einebesonders vorteilhafte Ausgangssituation.

 

In der Kolonialzeit verbündeten sich die Spanier mitden Guaranís: sie jagten beide einen Traum und warenauf der Suche nach dem – in ihrer Vorstellung völligunterschiedlichen – irdischen Paradies. Obwohl nicht voneiner vollkommen friedfertigen Unterwerfung der StadtAsunción (1537) ausgegangen werden kann, lebten nach20 Jahren die 300 ansässigen männlichen Spanier relativ friedlich – und vermutlich größtenteils zweisprachig –mit der autochtonen Bevölkerung zusammen und wa-ren Väter von ca. 3.000 Mestizen. Diese Tatsache brach-te Paraguay die Bezeichnung „Paradies Mohammeds“ein.

 

Von 1603 bis 1768 wurde Paraguay im religiösenaber auch kulturellen Bereich von den Jesuiten geprägt.Mit ihnen erlebte das Guaraní einen eindeutigen Prestige-gewinn und erfuhr eine enorme territoriale Ausbreitung,da durch sie diese Sprache früher als andere indianischeSprachen in Grammatiken und Wörterbüchern (1639und 1640) schriftlich fixiert wurde.

 

Sprache der Nationversus Staatssprache

 

Die Sprache ist ein we-sentlicher Bestandteil derkollektiven Identität, so-mit ein wichtiger verbindender Faktor für einen soebengegründeten Staat. Es soll hier in keinster Weise eine Lob-rede im Stile des revisionismo histórico geführt werden, aberes bleibt dennoch klar festgestellt, dass die diktatorialenMaßnahmen von Gaspar Rodríguez de Francia (1814-1840), wie seine Abschottungspolitik und die Verpflich-tung zur Mischehe, positive Auswirkungen auf die Spra-che Guaraní hatten. In einer Zeit der jungenUnabhängigkeiten in Lateinamerika, in denen die spani-sche Sprache als Trägerin von Nationalbewusstsein ge-sehen und ihre Verbreitung gefördert wurde, konnte sichnur in Paraguay die indianische Sprache als Sprache derNation halten.

 

Obwohl unter den beiden López (Carlos AntonioLópez 1841-1862 und Francisco Solano López 1862-1870) Spanisch als Unterrichtssprache vorgeschriebenwar, blieb bis zur zweiten Hälfte des 19. JahrhundertsGuaraní die Sprache der Erziehung und Bildung, wassich in der Folge als militärischer Vorteil erweisen sollte:Sowohl in der Guerra de la Triple Alianza (1864-1870) alsauch 70 Jahre später in der Guerra del Chaco (1932-1935)erhielt Guaraní eine militärisch bedeutsame Funktion alsGeheimsprache. Gleichzeitig wurde es zum Symbol dernationalen Einheit, was sich auch in den seit dem Chaco-Krieg bis heute gesungenen Liedern, chácore purahéi, zeigt.

 

Hier ausschließlich die Hochzeiten des Guaraní in derGeschichte Paraguays anzuführen, würde jedoch eineeinseitige Darstellung bedeuten.

Diese Sprache hatte imLaufe ihrer neueren Geschichte auch einige schwierigePhasen durchzustehen, wie vor allem zwischen denbeiden großen Kriegen Paraguays. Von den Regierun-gen dieser Zeit wurde Guaraní als „Zeichen der Barbarie“und somit als Problem für die Entwicklung eines mo-dernen Staates in Paraguay gesehen.

 

Nach einer weiteren Phase der Geringschätzung abdem Beginn der Diktatur Stroessners erhielt die Spra-che Guaraní in der Constitución Nacional de la República delParaguay von 1967 zum ersten Mal offizielle Anerkennung. Darin wird erstmals festgehalten, dass die beidenStaatssprachen Paraguays Guaraní und Spanisch sind.

 

Das linguistische Pendel bewegte sich also im Laufeder Jahrhunderte hin und her, zwischen einem Symbolnationaler Einheit und einem auszurottenden, die natio-nale Einheit verhindernden Übel. Mit der Offizialisierungder Sprachen Spanisch und Guaraní in der ConstituciónNacional de la República del Paraguay von 1992 halten sichdie beiden Sprachen jetzt zumindest offiziell die Waage,ist das Sprachpendel in eine Ruheposition gekommen.

 

Die Offizialisierungdes Guaraní

 

Im Jahr 1975 hatte Peruals erstes lateinamerika-nisches Land eine india-nische Sprache, das Quechua, zur zweiten Staatsspracheernannt. Die Offizialisierung des Quechua wurde zwarnach wenigen für die Verbreitung dieser Sprache kaumförderlichen Jahren wieder zurückgenommen, galt aberdennoch als wegweisend für die Situation der Indianer-sprachen in Lateinamerika.

 

Im Jahr 1992 folgte Paraguay dem peruanischenBeispiel: Die Constitución Nacional República del Paraguayvon 1992 erkennt im Artikel 140 Guaraní als zweiteStaatssprache an und verpflichtet sich, den Sprecherndieser Sprache eine gleichberechtigte Beteiligung amwirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben zu er-möglichen. Positive Konsequenzen der Constitución 1992für die Verbreitung des Guaraní können hier nur kurzangeführt werden, ohne im Einzelnen darauf einzuge-hen: ein bilinguales Erziehungsprogramm ab 1994, neueAnsätze zur Vereinheitlichung von Schrift und Gram-matik in Guaraní, erste Schritte des Guaraní in bisherspanischsprachige Medien, wie Tageszeitungen und Radio.

 

Die aktuelle linguistische Situation

 

Der Censo Nacional dePoblación y Viviendas von1992 befasst sich aufetwa 30 Seiten mit der Sprachverteilung in Paraguay undlistet dabei unter der Kategorie „Idioma de hogar“ dieSprachverwendung auf: 88 Prozent der Bevölkerung desLandes sprechen Guaraní als Erst- oder Zweitsprache,aber nur 55 Prozent Spanisch. Es folgen Portugiesischund Deutsch; die Bedeutung dieser gesprochenen Spra-chen ist eine Folge der Migrationen im 19. und 20. Jahr hundert. Dabei ist es interessant zu beobachten, dassweniger als 1 Prozent der Bevölkerung der Kategorie„Sprecher von anderen Indianersprachen“ zuzuordnenist. In Paraguay leben 17 Ethnien indianischer Abstam-mung, die wiederum fünf linguistischen Familien angehören. Diese sind Guaicurú, Guaraní, Mascoy, Matacound Zamuco. Interessant ist dabei die Verteilung derSprachen auf die verschiedenen Departamentos, die imFolgenden in einer Tabelle und einer Karte dargestelltwird: Die dunkel eingefärbten Gebiete entsprechen denDepartamentos mit dem höchsten Anteil an mono-lingualen Guaraní-Sprechern. Es soll hierbei ausdrück-lich darauf hingewiesen werden, dass in vierDepartamentos, nämlich San Pedro (80,45 Prozent), Caazapá (75,94 Prozent), Concepción (68,89 Prozent)und Caaguazú (67,42 Prozent), mehr als zwei Drittelder Bevölkerung ausschließlich die autochtone Sprachesprechen. In den Grenzgebieten ist die Anzahl der bilin-gualen Sprecher generell besonders hoch. Die besonde-re sprachliche Situation dort in Verbindung mit einerhohen Anzahl an Sprechern des Guaraní führt häufig zueiner Zweisprachigkeit Portugiesisch und Guaraní oderzu einer Dreisprachigkeit Portugiesisch, Guaraní und Spa-nisch bzw. zu einer Vermischung der Sprachen. In denGebieten mennonitischer Besiedlungen wird bis heuteDeutsch von einem hohen Anteil der Bevölkerung ge-sprochen (Boquerón 42,45 Prozent); Bilingualität bedeutethier das Sprechen dieser Sprache in Kombination mitGuaraní oder einer anderen Indianersprache. Erwartungsgemäß ist die Zahl der bilingualen Sprecher desSpanischen und des Guaraní in der Hauptstadt Asunción(73,48 Prozent) und dem angrenzenden DepartamentoCentral (79,34 Prozent) am Höchsten. Aufgrund der zunehmenden Migration aus dem Hinterland Paraguaysund aus umliegenden Ländern treffen dort die Sprecherdieser beiden aber auch weiterer Sprachen auf engstemRaum zusammen.

 

Generell ist hervorzuheben, dass in zahlreichenDepartamentos der Republik Paraguays Spanisch nicht immer die mündlich verwendete Sprache in öffentlichen Angelegenheiten und noch weniger die bevorzugte Spra-che im privaten Bereich ist, dass sie jedoch die im geschriebenen Bereich eindeutig privilegierte Sprache ist.Dies manifestiert sich auch in der Literatur des Landes,die zu einem überwiegenden Teil in spanischer Spracheverfasst wird, wobei die Einflüsse aus dem Guaraní undanderen Sprachen in den verschiedenen Werken in unterschiedlichem Ausmaß erkennbar ist.

 

Guaraní ist über die vergangenen Jahrhunderte hin-weg den Weg von der Sprache eines seminomaden Volkes zur offziellen Sprache eines Landes mit festemSchritt, unbeirrbar in historischen Engpässen oder angesichts politischer Hindernissen gegangen und hatdabei auch in der Staatssprache Spanisch ihr Spurenhinterlassen. Diese Zeichen lassen die Vermutung zu, dassGuaraní diesen Weg auch in der Zukunft weiter beschrei-ten kann. Diese besondere Situation der Indianerspra-che macht Paraguay einmal mehr zu einer – linguisti-schen – Insel, die von spanisch- und portugiesischsprachigem Land umgeben ist.

 

 

Die Autorin ist Gastprofessorin am Institut für Romanistik

Karl-Franzens-Universität Graz - Österreich

 

Literatur

  • Constitución Nacional República del Paraguay. Ediciónoficial. Castellano-guaraní. Asunción 1992.
  • Corvalán, Graziella. Educación para todos y bilingüismodel Paraguay. Estudio de caso. Asunción 1995.
  • Melià, Bartomeu. La lengua guaraní del Paraguay: historia,sociedad y literatura. Madrid 1992. Potthast, Barbara. „Paradies Mohammeds“ oder „Land derFrauen“? Zur Rolle von Frau und Familie in Paraguay im19. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 1994.
  • Steckbauer, Sonja M. La situación del guaraní en elParaguay actual. In: Barbara Potthast, Karl Kohut, GerdKohlhepp (Hgg.). El espacio interior de América del Sur.Geografía, historia, política, cultura. Frankfurt a. M. 1999,S. 381-400.
  • Steckbauer, Sonja M. Perú: ¿educación bilingüe en un paísplurilingüe? Frankfurt a. M. 2000.