Abenteuer Dokumentation

Filmen während und nach der Unidad Popular in Chile

von Patricio Guzmán

Der chilenische Dokumentarfilmer Patricio Guzmánwurde vor allem mit seiner Trilogie über den Militärputsch von General Pinochet La batalla de Chile (1973-79) berühmt. Auf dem Internationalen Filmfestival inInnsbruck 2002 präsentierte Guzmán neben seinemKlassiker auch seine neueren Filme über chilenische Vergangenheitsbewältigung und die Bewahrung der Erinnerung: in Chile, La memoria obstinada (1996/97)sprach er mit den „anonymen Helden“ aus dem Umfeld Allendes genauso wie mit einstigen Befürworterndes Putsches und filmte die Reaktion von Studenten inSantiago während der Vorführung von La batalla de Chile.El Caso Pinochet (2001) widmet sich dem Ereignis der Festnahme Pinochets im September 1998 in London.Der in dreijähriger Arbeit entstandene Film ist ein unvergessliches, erschütterndes Dokument über einen einzigartigen Prozess und den Schmerz und die moralische Stärke der einstigen Opfer. Sonja Hofmann sprach für Matices mit dem Regisseur.

Was macht für Sie die Faszination des Dokumentarfilms aus?

 

Ich glaube, der Dokumentarfilm ist das filmische Gen-re, das sich in den letzten 10-15 Jahren am meisten ent-wickelt hat. Von den 80er Jahren bis heute sind Doku-mentationen immer mehr perfektioniert worden undwir wissen die filmischen Erzählstrukturen besser zunutzen. Auch fand ein Wandel von der Objektivität hinzu mehr Subjektivität statt und der Themenkreis hat sicherheblich erweitert. Deshalb empfinde ich dasDokumentarfilmemachen von Tag zu Tag als angeneh-mer, bereichernder und faszinierender. Bisweilen gerätman als Dokumentarregisseur in die Versuchung, zumSpielfilm überzuwechseln. Denn auch mit sehr gutenDokumentationen verdient man weniger, arbeitet abermehr, weil es schwieriger ist. Der Spielfilm, den ich tat-sächlich einmal gemacht habe, ist sehr schlecht gewor-den, richtig fürchterlich. Ich glaube, man muss sich ebendaran gewöhnen, dass Dokumentarfilme zwar sehr gut,aber auch sehr bescheiden sind, sehr leidenschaftlich, aberauch sehr diskret. Und ich würde das um keinen Preisändern wollen. Für mich ist der Dokumentarfilm einerder wenigen Orte der Reflexion, die dem modernenMenschen heute noch zur Verfügung stehen. Und des-halb gefällt er mir so wahnsinnig gut.

 

Gibt es denn in der jungen Generation von Filmemachern auch viele, die sich Dokumentationen zuwenden?

 

Im Moment kann man geradezu von einemDokumentationsboom sprechen, der aber gefährlich ist, denn wenn er vorbeiginge, wäre das schrecklich. Aberes gibt wirklich eine Tendenz und einen Enthusiasmusfür Dokumentarfilme, die man überall spürt: die the-matischen Fernsehkanäle bringen jetzt mehr Dokumen-tationen, das Festival von Cannes zeigt Dokumentarfil-me im Wettbewerb, was sensationell ist und es gibt zahl-reiche Jugendliche, die zum Dokumentarfilm tendieren.Gerade viele Studenten von Filmschulen tun dies zwaraus opportunistischen Gründen, d.h. sie machen Doku-mentationen, um rasch voranzukommen, weil es billi-ger ist und auf den ersten Blick einfacher zu realisierenscheint. Doch oft erreichen sie am Ende die Festival-teilnahme nicht, weil sich die Arbeit dann doch alsschwierig und langwierig herausstellt. Die Dokumenta-tion kann man nicht kontrollieren. Das Drehbuch istimmer offen gehalten, nie weiß man, wo der Film be-ginnt und wann er aufhören wird. Jeder Film ist also einPrototyp. Es gibt keine festen Regeln für die Herstel-lung von Dokumentarfilmen. Deshalb ist es ein sehr fra-giles Genre, sehr leicht zu manipulieren und das ist dasGefährliche daran. Aber es gibt immerhin mehr jungeLeute, die sich dazu berufen fühlen und sich für Doku-mentationen interessieren, als früher.

 

War Ihre Begeisterung für den Dokumentarfilm bereits in den 70er Jahren in Chile schon so ausgeprägt?

 

Ja, aber das war verschieden. Damals war es die Reali-tät, in die ich mich verliebt hatte. Es war eine unheimlichfaszinierende und dynamische Zeit und es gab so vielEnergie auf den Straßen, dass ich mir sagte: wir müssensofort jetzt und hier filmen! Weil es so offensichtlich war.Das war es, was mich begeistert hat.

 

Und waren Sie sich zu dem Zeitpunkt bereits der Gefahren bewusst, derer Sie sich aussetzten?

 

Ich wusste, dass es sehr chaotisch und improvisiert ab-laufen würde. Auf der Straße zu filmen ist ein Abenteu-er wie eine Safari oder eine Entdeckungsreise. Man weißnie, was passieren wird, es ist außerordentlich, wie derJazz. Daher definiert sich auch meine Berufung. Wennes die Unidad Popular in Chile nicht gegeben hätte, wärees vielleicht ein langweiliges, normales Land gewesen;vielleicht hätte ich dann sogar Spielfilme gedreht. DasDokumentarkino hatte mich bereits vor der UnidadPopular fasziniert, aber ich war noch nicht völlig festge-legt. In den 50er und 60er Jahren habe ich in Chile eineReihe von Dokumentarfilmen gesehen, die für michausschlaggebend waren. Die Begeisterung für diese Fil-me war die erste Auswirkung, die der Dokumentarfilmauf mich ausübte. Als ich dann nach meinem Studiumin Spanien nach Chile zurückkehrte, war es die Realität,die mich in ihren Bann zog.

 

Fühlen Sie sich als Teil eines lateinamerikanischen Filmschaffens?

 

Ich glaube, dass das lateinamerikanische Kino zu einemgroßen Teil ein a posteriori erfundenes Kino ist. Die„charlas“ von Julio García Espinosa, Fernando Birri etc.kreierten das Gefühl, dass das lateinamerikanische Kinomit einem Ganzen korrespondiert. Das stimmt für michso aber nicht.

 

La batalla de Chile ist der erste lateinameri-kanische Dokumentarfilm des sog. „cinéma vérité“ oderdes „cine directo“, das verwandt sein könnte mitFrederick Wiseman, Chris Marker oder Jean Rouch.Denn deren 16 mm-Kameras produzierten dasselbe.Das bedeutet, dass das cine directo universeller ist alsdas lateinamerikanische Dokumentarkino, das keinendefinierten Stil hat. La hora de los hornos (von Fernando Solanas und Octavio Getino, Arg. 1966-68, Anm. d.Verf.) z.B. ist ein in sich einzigartiges Werk. Ein filmi-sches Essay, gedreht in der sehr eigenen Getino-Solanas-Ästhetik. Und die Filme von Santiago Álvarez trageneindeutig seine Handschrift, eine eigene solide unabhän-gige Ästhetik. Und Sanjinés ist wieder ein ganz andererFall. Also ist die Idee einer stilistischen, formalen undideologischen Kohärenz eines lateinamerikanischen Ki-nos komplett falsch, denn es hatte kein Modell, auchGlauber Rocha nicht. Das Wichtigste ist das Schaffenselbst. Mit oder ohne theoretischen Apparat. Mich inte-ressierte hauptsächlich, zu erzählen, was Allende in die-sen Momenten tun würde. Und jetzt interessiert mich,was mit diesem so bewegten, ideologisierten Chile, das sich in die Idee des Sozialismus verliebt hatte, passiertist, was aus dieser Erfahrung und aus den fünf odersechs Millionen Anhängern Allendes geworden ist.

 

Wie schwer war es für Sie, die sehr emotionalen Szenen in Memoria obstinada zu filmen?

 

Ja, das war schwer. Mein Kameramann, ein sehr guterFreund von mir, weinte und ich fühlte, wie er zitterte.Er konnte gar nicht mehr durch die Kamera sehen, dennalles war ganz benebelt. Es ist tragikomisch, weil manarbeitet und gleichzeitig weint. Aber die Freude amFilmemachen ist so groß, dass einen das etwas auf Dis-tanz hält. Das Gefilmte ist wichtiger als die Emotion.Es ist wunderbar, der Figur zu folgen und ihre Emotion zu sehen. Aber es ist auch schwer, denn es ist auchein Gefühl der Ohnmacht.

 

Wie haben Sie das Vertrauen der Befragten in El Caso Pinochet gewonnen, die sehr persönliche Aus-sagen machen?

 

Einen großen Anteil daran trägt die eigene Geschick-lichkeit. Ich habe eine einfache persönliche Haltung, diemir Glaubwürdigkeit verleiht. Das ist für die Interview-Situation fundamental. Man muss sich völlig den Perso-nen zur Verfügung stellen. Auch die Umgebung ist dabeisehr wichtig. Es gilt, einen kinematographischen Raumzu schaffen, damit sich das Interview in eine Szene wan-delt, den Interview-Charakter verliert und in eine weite-re Stufe der Kommunikation eintritt. Es handelt sichnicht wirklich um ein Interview, da das Schweigen ebensowichtig ist, wie das Gesagte.

 

Wann geben Sie dem Film Ihre eigene persönliche Note, während des Drehs oder erst im Schnittraum?

 

Das ist ziemlich mysteriös. Ich nehme mir das nie vor,denn man weiß es letztlich nie, wann man dem Filmseinen persönlichen Akzent verleiht. Jeder Film hat ei-nen anderen Stil. In El Caso Pinochet z.B. gibt bereits dieerste Sequenz dem ganzen Film den Stil vor. Aber dashabe ich während des Drehs noch gar nicht gewusst.Man weiß es einfach nicht, es ergibt sich.