Widerstandskultur der „Herren des Strandes“

Straßenkinderprojekt in Brasilien und Berlin

Von Liane Kirsch

So, wie die afrobrasilianischen Sklaven durch Capoeira Kraft schöpften, Geschick und Selbstverteidigung erlangten, um sich gegen ihre weißen Unterdrücker zu behaupten, lernen Straßenkinder in Brasilien und Berlin sich gegen die Widrigkeiten des Lebens durchzusetzen.

Capitães de Areia, die Herren des Strandes, nennen sich die obdachlosen Kinder in Salvador de Bahia, die dort auf der Straße und am Strand leben. Von ihren Familien können sie weder finanziellen, noch sozialen Rückhalt erfahren. Sie verarmen zusehends. Grundbedürfnisse, wie tägliches, ausgewogenes Essen, Körperpflege, Kleidung und Obdach, sind inzwischen Luxus für diese Kinder. Aber auch an einfachen menschlichen Bedürfnissen wie dem sozialen Zusammenhalt in der Familie, Geborgenheit, Zuneigung, Trost, Anerkennung oder einfach Liebe leiden sie Mangel.

 

Soziale Mission des Mestre Emm

 

1973 gründete der Capoeirista Emmanoel Nascimiento, alias Mestre Emm, in Nanuque (Bundesstaat Minas Gerais) die Gruppe Capitães de Areia in Anlehnung an die so genannten Straßenkinder. Allein in der 60.000 Einwohner zählenden Stadt Nanuque leben rund 1.100 obdachlose Kinder. Mestre Emm entwickelte seinen eigenen Capoeira-Stil und baute gleichzeitig einen Verband an Sport-, Freizeit-, Erziehungsund Kultureinrichtungen auf. Mit inzwischen zehn Filialen und in Kooperation mit Waisenhäusern in den Favelas (Armenviertel) der Bundesstaaten Bahia, Minas Gerais und Espirito Santo sowie einer Filiale in Berlin betreut Capitães de Areia pro Heim rund 180 obdachlose Kinder. Der Verein in Bahia geht zunächst auf die vorrangigen Probleme der Kinder ein und unterrichtet sie in Lesen und Schreiben, bietet ihnen medizinische Grundversorgung, zeigt ihnen das Nähen von Kleidung und die Herstellung eigener Schuhe sowie die Möglichkeiten der Nahrungsversorgung durch das Erlernen von Obstund Gemüseanbau oder durch Fischfang.

 

In Nanuque selbst werden die Kinder sogar in die ökologischen Projekte des Umweltpreisträgers „Global 500“ der UNO von 1990, Dr. Ivan Claret Marques Fonseca, eingebunden. Zu den Aktivitäten gehören beispielsweise das Säubern von Flüssen, allgemeine ökologische Erziehung sowie die Anpflanzung von medizinischen Heilpflanzen, Obst und Gemüse.

 

Ziel der Gruppe ist es, den Kindern eine Ausbildung und - zumindest in kleinem Rahmen - Schulbesuch und Erziehung zu ermöglichen. Darüber hinaus leistet der Verein eine zusätzliche Unterweisung in Capoeira, die die gesamte Geisteshaltung der Kinder und ihren Seelenzustand positiv beeinflusst. Capoeira schult ihr Reaktionsvermögen, ihre Körperbeherrschung und den Gleichgewichtssinn. Insgesamt wird der Körper trainiert, Haltungsschäden vorgebeugt und das gesundheitliche Wohlbefinden gefördert. Ebenso wichtig ist jedoch der Aspekt der Selbstverteidigung, der eine ungeheure Rückwirkung auf das Selbstbewusstsein der Kinder hat.

 

Chance auf „besseres“ Leben

 

Selbstbewusstsein, Identität und soziale Integration schöpfen die Kinder aus der „Capoeira-Schule“. Capoeira verkörpert für sie den Kampf gegen soziale Probleme, um Freiheit und verbesserte Lebenssituation. Die physische wie psychische Stärkung durch Capoeira versetzt die Kinder in die Lage, ihr Schicksal besser zu meistern. Durch Bewegung, Tanz, Musik und Gesang schaffen sie sich ein Ventil für ihre bedrückenden Probleme. Aufgrund dieser Schule haben sie eine größere Chance, durch Verrichtung kleinerer Arbeiten ihrem Schicksal schrittweise zu entkommen, vielleicht sogar als Capoeira-Lehrer den Sprung in eine höhere soziale Schicht zu schaffen. Auf diese Weise konnten jedoch schon viele Kinder von der Strasse weggeholt werden; die Chance auf ein „besseres“ Leben war damit geboten.

 

Die Situation in Berlin ist wohl nicht mit der in den Favelas Brasiliens zu vergleichen, dennoch sind auch dort die Schicksale als hart und erschütternd zu bezeichnen. Seit acht Jahren arbeitet die Filiale von Capitães de Areia in Berlin und führt sozio-kulturelle Projekte durch. Unter der Leitung von Mestre Léo Gonçalves unterrichtet der Verein Capoeira und Percussion, ruft zum Mitmachen bei der Betreuung obdachloser und sozial schlechter gestellter Kinder in Berlin auf.

 

Ähnlich wie bei den Projekten in Brasilien ist das Ziel, die Kinder durch Capoeira in ihrer Persönlichkeit zu festigen, ihnen Selbstvertrauen und Kraft zu geben, ihre Lebenssituation zu meistern.

 

Gerade aber der Berliner Verein hat sich die Überwindung rassistischer Vorurteile durch das Kennenlernen und Begreifen anderer Kulturen auf die Fahne geschrieben. Einer der Höhepunkte bildet das so genannte batizado (Taufe, Aufnahme der Neulinge), das im Rahmen des Karnevals der Kulturen in Berlin abgehalten wird. Die Kinder führen das Erlernte des vergangenen Jahres vor und versetzen Eltern und Publikum in Staunen über ihre Portugiesischkenntnisse, Körperbeherrschung und das Spielen verschiedener Instrumente. Diese positive Bestätigung der eigenen Persönlichkeit und Fähigkeiten schafft neue Energie und Perspektiven für die Kinder. Die Kinder spüren in diesem Augenblick ihre Stärke und die Geborgenheit der Gemeinschaft und treten mit gestärktem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl ihren Alltagsproblemen entgegen.

 

Die Autorin ist Mitarbeiterin des Vereins Capitães de Areia: www.capitaes-de-areia.com