Stilvielfalt Capoeira

Rückblick auf historische und moderne Capoeira-Formen

von Matthias Röhrig Assunção

Die Quellenlage zu Capoeira ist eher dürftig, und so streiten sich die Historiker über Entstehung und Herkunft. Die modernen Formen der Capoeira gehen auf die verschiedenen Ausprägungen zurück, die im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind.

Die ältesten Quellen zu Capoeira lassen sich auf das Jahr um 1800 datieren. Selbst für das 19. Jahrhundert ist die Quellengrundlage für die Existenz der Capoeira im Nordosten Brasiliens äußerst dünn. Der österreichische Reisende und Maler Moritz Rugendas veröffentlichte 1835 ein Werk, in dem er Capoeira ausdrücklich erwähnt. Er gibt eine kurze Beschreibung sowie eine bildliche Darstellung der Capoeira mit dem Titel “Jogar Capoera ou danse de la guerre”. Weder nennt er den Ort, noch informiert er über die Verbreitung von Capoeira zu jener Zeit. Die Form des Berges im Hintergrund der Szene deutet jedoch eindeutig auf die Stadt Rio de Janeiro, die im Südosten Brasiliens liegt.

 

Eine andere Lithografie wird gerne als Beweis für Capoeira im Nordosten des Landes, und zwar für Salvador de Bahia zitiert. Das Bild mit dem Titel „San Salvador“ zeigt sechs Männer und drei Frauen schwarzer Hautfarbe. Sklavenhalter oder ähnliche weiße Aufsichtspersonen sind nicht zu erkennen. Ein Paar unterhält sich, ein anderes Paar flirtet miteinander und eine Frau mit einem Korb auf dem Kopf schaut zu, wie vier der Männer Bewegungen ausführen. Diese Bewegungen werden als Capoeira interpretiert. Weder ist bewiesen, dass es sich tatsächlich um Salvador als Handlungsort handelt, noch, dass die tänzerischen und spielerischen Bewegungen Capoeira darstellen. Genauso gut könnte es sich um batuque, ein anderes Kampfspiel handeln, das ebenfalls zu jener Zeit ausgeübt wurde. Capoeira wurde im 19. Jahrhundert als generischer Begriff für eine Bandbreite von Kampfspielen verwendet, so wie batuque in Angola und Brasilien jede Art von Tanz der Schwarzen bezeichnete, der von Trommeln begleitet wurde. Der Begriff “Capoeira” im Zusammenhang mit einer bestimmten Aktivität von Sklaven taucht zuerst in Quellen der Stadt Rio de Janeiro auf. In diesem Zusammenhang ist in Polizeiquellen wiederholt die Rede von capoeira(s), womit sowohl eine Tätigkeit als auch eine Gruppe von Personen beschrieben wurde. Unter Capoeira verstand man eine spezifische Kampftechnik; die sich vor allem durch Schläge mit den Füßen und dem Kopf auszeichnete, wobei auch verschiedene Arten von Waffen (Messer, Steine, Flaschenscherben) eingesetzt wurden.

 

Afrikanische Sklaven, hauptsächlich Bantus, beherrschten diese Technik. Gleichzeitig bezeichnen die Polizeiquellen Gruppen von “malfeitores“ (Missetätern), die die Straßen der Hauptstadt unsicher machten, als capoeiras. Gemäß dieser Quellen stifteten diese capoeiras „desordens“ (Unruhe), indem sie unschuldige Personen angriffen und verletzten und sich den Anordnungen der Polizei widersetzten. Aus den Beschreibungen der Capoeira geht eindeutig hervor, dass diese wenig mit dem gemein hat, was heute unter Capoeira verstanden wird. Nie ist die Rede von einem “Spiel” zwischen zwei Kontrahenten in einem Kreis, mit musikalischer Begleitung. Im Gegenteil, es handelt sich immer um Auseinandersetzungen zwischen Gruppen, die alle möglichen Waffen einsetzten. Einzig die Existenz von bestimmten Techniken (Schläge, Kopfstöße) und die gelegentliche Erwähnung eines bestimmten Grundschritts (ginga) bilden Kontinuität zu späteren Formen der Capoeira.

 

Vadiação in Bahia

 

In Salvador wird Capoeira zuerst in einigen Zeitungsnotizen in den 1860er Jahren erwähnt. Eine konsistentere Beschreibung erfolgte jedoch erst durch Manuel Querino Anfang des 20. Jahrhunderts. In der vadiação – wie Capoeira in Bahia auch genannt wurde - sind zum ersten Mal eine Reihe von Merkmalen dokumentiert, die später zum “Wesen” der Capoeira schlechthin gerechnet werden. Dazu gehört der spielerische Aspekt der Capoeira, die als jogo (Spiel) in einem roda (Kreis) zwischen zwei Kontrahenten, begleitet von Musik, ausgeführt wurde. Die Lieder (ladainhas, corridos und chulas) erklären die Philosophie der Capoeira, erzählen von berühmten Meistern oder lehrreichen Episoden der Vergangenheit. Die vadiação war in ein Lebenskonzept eingebunden, das tief von den Werten der afrobrasilianischen Kulte (Candomblé) geprägt war. Im Gegensatz zu der capoeira betonte die vadiação den spielerischen Aspekt und gründete sich auf die Ambivalenz zwischen Kampf und Spiel. Ihre Einbindung in die afrobahianische Kultur bewirkte, dass sie selbst zum Fortbestand schwarzer Identität und Tradition beitrug.

 

Mestre Bimba entwickelte Ende der 1920er Jahre seine berühmte “Luta Regional Bahiana”, die trotz ihres Namens die erste Form ist, die national wie international Verbreitung fand. Mestre Bimbas Ausgangspunkt war eine Kritik an der traditionellen vadiação, die ihm nicht effizient genug erschien. Er führte eine Reihe von grundlegenden Innovationen ein: so holte er beispielsweise die Capoeira von der Straße in einen geschlossenen Raum - die “Akademie” - und führte neue Angriffstechniken ein. Die Capoeira Regional verzichtete auf verschiedene Rituale, wie die chamadas, und zeichnete sich durch schnellere Bewegungsabläufe und eine insgesamt aufrechtere Haltung aus.

 

Mestre Bimba und Regional

 

Eine nationale Anerkennung erfolgte 1953, als der ehemalige Diktator (1937-45) und 1950 demokratisch wieder gewählte Präsident Getúlio Vargas Meister Bimba persönlich empfing und die Capoeira als “einzig wahren brasilianischen Sport” lobte. Trotz dieser offiziellen Anerkennung verstarb Mestre Bimba 1974 verarmt. Die unter dem Namen Capoeira Regional bekannte Form wurde in den 1960er und 70er Jahren zum Inbegriff von Capoeira schlechthin.

 

Die Rückbesinnung auf die traditionelle Capoeira ist eng mit dem Meister Vicente Ferreira Pastinha (1889-1981) verbunden, dessen Stil allgemein als Capoeira de Angola bezeichnet wird. Er lernte Capoeira seinen Aussagen zufolge noch vor der Jahrhundertwende von einem “alten Afrikaner“. 1941 wurde ihm von anderen Altmeistern angetragen, zu unterrichten. Weil die Capoeira Regional in der Zeit von 1950-70 weitaus größere Aufmerksamkeit genoss, musste sich die Capoeira de Angola in Opposition zu ihr definieren, um ihre Existenz zu rechtfertigen.

 

Daher investierten die angoleiros in alle Aspekte, die in der Regional unter den Tisch zu fallen drohten, wie Spiritualität, Rituale, Theatralik und Traditionen. Dies führte zu einer Homogenisierung und Stilisierung der Angola, wie sie in der alten vadiação nie existiert hatte, und von Pastinhas Schülern fortgeführt wurde.

 

Seit Anfang der 80er Jahre gelang es der Angola, wieder an Boden zu gewinnen. Dazu trugen die stärkere Betonung des afrikanischen Erbes in diesem Zeitraum und die Entwicklung der Regional zu einem immer gewalttätigeren Stil bei. Alle Anhänger der Regional, die sich auf die Suche nach den “Wurzeln” der Capoeira begaben, endeten irgendwann in den Schulen der Angola- Altmeister in Bahia. In zunehmendem Maße versuchten seitdem verschiedene Regional-Meister, intermediäre Stile zu entwickeln. Die Vielfalt der gegenwärtigen Stilrichtungen und –mischungen bricht inzwischen die starre Opposition zwischen Regional und Angola wieder auf.

 

Widerstand oder Machtmittel?

 

Wenn auch die von Capoeirista oft vollzogene Gleichsetzung von Capoeira und Widerstand nicht grundsätzlich angezweifelt werden soll, so muss doch vor einer unzulässigen Vereinfachung gewarnt werden, die widersprüchliche Aspekte bewusst ausklammert und somit auch deren Unterdrückung rechtfertigt.

 

Auf der einen Seite steckte die Praxis von Capoeira in der roda (Kreis) seit jeher einen “schwarzen Raum” ab, innerhalb dessen ein abweichendes Wertesystem galt. Hier konnte sich eine dissidente Subkultur entwickeln, die von grundlegender Bedeutung für die heutige schwarze Identitätssuche ist. Allgemeiner kann Capoeira zur Emanzipation beitragen, so wird Capoeira etwa von anarchistischen Therapiegruppen (Soma) eingesetzt. Der Capoeira-Kreis dient heute zur Überwindung von Rassendiskriminierung: In der roda sind alle gleich, und Capoeirista lernen in der roda den Umgang mit Menschen anderer Hautfarbe und Klassenzugehörigkeit. Jedoch sind auch für jede geschichtliche Periode andere Lesarten denkbar: Capoeira wurde in der Vergangenheit als Instrument politischer Manipulation und Einschüchterung eingesetzt, oder diente als Mittel zur Unterdrückung von Frauen und älteren Mitmenschen durch junge Männer. Auch Zuhälter in den Rotlichtdistrikten der brasilianischen Städte waren capoeiras. In diesem Zusammenhang ist es schwer, weiter ungebrochen von der Widerstandsfunktion von Capoeira zu reden. Capoeira war auch Mittel und Ausdruck von Männermacht. Die Ausbreitung der Capoeira unter der freien Bevölkerung erreichte sogar die repressiven Institutionen wie das Heer und die Nationalgarde. Hatten sich die Polizeichefs mit der Zwangsrekrutierung vieler capoeiras für den Paraguay-Krieg (1864-70) eine Säuberung der Hauptstadt erhofft, so bedeutete das Ende des Kriegs die Rückkehr der nun ruhmreichen Soldaten, die keinesfalls auf ihre alten Gewohnheiten verzichten wollten. Capoeiras, Soldaten und Polizisten lebten nicht unbedingt in getrennten Welten. Im Gegenteil; nach 1870 gab es eine “permanente Solidarität zwischen Soldaten und capoeiras”.

 

Während des 20. Jahrhundert haben Militärs wiederholt Capoeira für die Ausbildung von Rekruten eingesetzt. Sie versuchten, die Kunst in eine ‚nationale Gymnastik’ umzuwandeln, die sich den Zielen der nationalen Sicherheit unterordnete. Dafür wurde die Gründung von Capoeira-Verbänden gesponsert, die diese Prinzipien unter den Capoeirista verbreiten sollten.

 

In den letzten Jahren hat eine intensive Vermarktung von Capoeira eingesetzt. Lehrer und Hersteller von Capoeira- Artikeln streiten sich um ‚Märkte’ – die jungen Capoeirista. Da Capoeira jetzt als Symbol für das postmoderne Gefühl von ‚cool’ steht, kann mit Capoeira etwa für Handys geworben werden. Bei dieser ‚mainstream‘-Capoeira ist Widerstand nur noch eine rhethorische Floskel. Zum Glück gibt es einige Gruppen, die sich diesem Trend zur Anpassung widersetzen.