Made in Chile?

Schwerpunkt Chile auf dem CineLatino-Festival

von Sonja Hofmann

Lange Zeit schien der chilenische Film ins Hintertreffen geraten, abgedrängt von den lateinamerikanischen Konkurrenten Argentinien, Brasilien und Mexiko. Nun widmeten in diesem Jahr gleich zwei Festivals dem Filmschaffen Chiles besondere Aufmerksamkeit. Während das CineLatino-Festival mit Hauptsitz in Tübingen Chile als Schwerpunktland der diesjährigen Filmschau auswählte, wartete das Internationale Filmfestival Innsbruck mit einer Hommage an den chilenischen Dokumentarfilmregisseur Patricio Guzmán auf. Beide Festivals zeigten, dass die politische Dimension im chilenischen Film nach wie vor eine gewichtige Rolle einnimmt.

Das CineLatino als Schaufenster des lateinamerikanischen Films in Deutschland (beteiligt sind neben Tübingen die Städte Frankfurt, Heidelberg und Stuttgart) entwickelt sich von Jahr zu Jahr mehr zu einem wahren Publikumsmagneten. Bei einem Besucherzuwachs von 50% sahen in diesem Jahr mehr als 10.000 Zuschauer die lateinamerikanischen Festivalbeiträge. Das mag nicht zuletzt an der geschickten Kombination von erfolgreichen Filmen wie Amores Perros oder Y tu mamá también aus Mexiko mit hierzulande noch unbekannten Werken liegen, der Mischung von etablierten Regisseuren mit Erstlingswerken junger Filmemacher sowie der Einbindung von Literatur und Diskussion.

 

Mit dem Schwerpunktland Chile konnten all diese Punkte vereint werden. Schon der Eröffnungsfilm kam aus Chile und wurde in der deutschen Erstaufführung gezeigt. La fiebre del loco (Regie: Andrés Wood, Chile/Spanien/Mexiko 2001) beginnt in der pazifischen Unterwasserwelt und entführt die Zuschauer in ein kleines Fischerdorf im Süden Chiles. Hier wird einmal im Jahr die Schonzeit für eine gewisse Muschelart namens „Loco“ aufgehoben, die vom Aussterben bedroht ist und der aphrodisische Wirkung nachgesagt wird. Doch nicht nur die Dorfbewohner sind „verrückt“ nach den Locos, auch zwielichtige japanische Geschäftsmänner sind an der Jagd auf die Schalentiere beteiligt.

 

Andrés Wood studierte Film in New York und erhielt für seinen ersten Spielfilm Historias de Fútbol zahlreiche Preise. Ebenfalls auf internationalen Festivals ausgezeichnet wurden die Filme des chilenischen Regisseurs Luis R. Vera, der seit 1979 in Schweden lebt. Veras neuer Spielfilm Bastardos en el paraíso (Chile/Schweden 2000) gleicht einer nüchtern-realistischen Dokumentation und thematisiert die Perspektivlosigkeit von Jugendlichen aus Emigrantenfamilien. In einer tristen Vorstadtsiedlung von Stockholm leben Manuel, Kalle und Lena, die schon im Sandkasten unzertrennlich waren. Während Manuels Vater auch nach Jahren noch an eine Rückkehr nach Chile glaubt, macht sich die Clique seines Sohnes über die Aktivitäten der Solidaritätsgruppen lustig. Allmählich bricht der Freundeskreis auseinander. Manuel gerät zunehmend in kriminelle Kreise, Kalle läuft zu den Skinheads über und Lena will Polizistin werden. Eines Nachts kommt es zum ungeplanten Wiedersehen der drei ehemaligen Freunde, es ist Lenas erster Einsatz auf Polizeistreife...

 

Das Filmschaffen Chiles stand auch im Blickfeld des erstmals von CineLatino veranstalteten Forums für Film, Literatur und Politik, das gemeinsam mit der Universität Tübingen organisiert wurde. Unter dem Motto „Fiktion- Vision-Illusion? Wie Bilder die Welt verändern“ und veranschaulicht in drei Literaturverfilmungen, wurde die Flucht in andere Wirklichkeiten, die das Medium Film bietet, debattiert. In der bekannten Erzählung von Antonio Skármeta Der Radfahrer vom San Cristóbal, 1987 von dem deutschen Regisseur Peter Lilienthal verfilmt, flüchtet der Protagonist nicht nur vor der erdrückenden Atmosphäre seines Elternhauses mit der kranken Mutter, sondern auch vor dem Leistungsdruck des Radsports. Eine ironisch-fantastische Vision verhilft ihm trotz eines Unfalls und damit einhergehender Verspätung beinahe zum Sieg, auf jeden Fall aber zum Happy End gegen Bestechlichkeit und Werteverfall. Gezeigt wurde zudem die von Antonio Skármeta eigenhändig verfilmte Fassung seines Romans Ardiente paciencia (Chile/ Deutschland 1983), eine Hommage an den chilenischen Dichter Pablo Neruda. Während die spätere Verfilmung von Michael Radford (Il Postino, 1994) zu internationalem Erfolg gelangt war, findet sich in Skármetas Original eine wesentlich schärfere Auseinandersetzung mit dem politischen Hintergrund Chiles (dem Aufstieg Allendes und dem folgenden Militärputsch Pinochets), weshalb der Film auch erst viel später in Chile zu sehen war.

 

Mit den Auswirkungen der Pinochet-Diktatur und ihren zahlreichen Opfern setzte sich der bekannte chilenische Dokumentarist Patricio Guzmán (La batalla de Chile) in seinem neuen Film El Caso Pinochet (Frankreich/ Chile/Spanien 2001) auseinander. Vor dem Hintergrund der Verhaftung Pinochets in London 1998 schuf Guzmán in dreijähriger Arbeit eine bewegende Dokumentation über die vielen ungelösten Einzelschicksale und die noch immer unbewältigte Vergangenheit seines Heimatlandes. Das 11. Internationale Film Festival Innsbruck widmete dem Regisseur im Juni diesen Jahres eine Hommage und zeigte neben der Österreich-Premiere von El Caso Pinochet auch seine berühmte Trilogie La batalla de Chile (1973-1979) sowie den Film Chile-La memoria obstinada (1997). Ein Interview mit Patricio Guzmán, der seine Filme in Innsbruck persönlich vorstellte, folgt in der nächsten Ausgabe von Matices.