(SPIEL-) REGELN

von Nicole Rösner und Yusuf Mete

In jüngster Zeit erobert die Capoeira nicht nur die europäische Tanz- und Sportszene sondern auch die Medien, Werbung und Videoclips. Sogar im Internet und auf diversen Spielekonsolen der Teenies ist Capoeira heute ein Muss. Aber wie „funktioniert“ die Capoeira eigentlich?

Ai, Ai, Aidé                                                 Ai, Ai, Aidé Ai, Ai, Aidé

 Joga bonito                                             Spiel schön

 Que eu quero ver                                  denn ich will’s sehn 

Ai, Ai, Aidé                                                  Ai, Ai, Aidé

Joga bonito                                              Spiel schön

Que eu quero aprender                       Denn ich will’s lernen

Ai, Ai, Aidé                                                 Ai, Ai, Aidé

 

Capoeira-Lied

 

Die afrobrasilianische Kampfkunst Capoeira bedient sich völlig anderer als der mitteleuropäischen Klang- und Bewegungserfahrungen, wodurch sie zunächst als schwer zugänglich empfunden wird. Hier zu Lande sind fernöstliche Kampfsportarten geläufiger, und so gelingt es vielleicht, bestimmte Techniken wieder zu erkennen. Doch auf der Suche nach dem „Gewinner“ des Kampfes treten wir – bildlich gesprochen - zumeist ins Leere. Dies hängt damit zusammen, dass die Capoeira nicht in Runden abläuft, nach deren Ende ein Sieger nach Punkten ermittelt wird. Auch wenn es bei der Capoeira durchaus manchmal härter zugeht und es blaue Flecken geben kann, sprechen die Capoeirista vom jogo (Spiel). Man „spielt“ die Capoeira, indem man versucht, durch geschickte Manöver und malicia (List und Tücke) den Kontrahenten hereinzulegen und beispielsweise mit einem „Fußfeger“ zu Fall zu bringen oder auch einzig mit überlegener Ästhetik der Bewegungen zu bestechen. Die unzähligen floreios (akrobatische, nicht-kämpferische Bewegungen) sowie die allgegenwärtige Musik und der Gesang unterscheiden die Capoeira zusätzlich von den rein kämpferisch orientierten Sportarten.

 

Wie jedes Spiel verfügt auch die Capoeira über eine Reihe von Regeln, die sich in den unterschiedlichen Verbänden und Stilrichtungen teils erheblich unterscheiden. Anhand ihrer „Uniform“ lassen sich die Spieler der beiden großen Strömungen sehr leicht unterscheiden. Während man in der Capoeira de Angola seit Mitte des letzten Jahrhunderts überwiegend gelbe Hemden und schwarze Hosen ohne erkennbare Graduierung trägt, zeigt man sich in der Capoeira Regional in weißen Hemden und Hosen. Die jeweilige Graduierung drückt sich in der entsprechenden Kordel aus, die als Hosengürtel dient. Die Unterschiede zwischen Angola und Regional sowie ihren vielfältigen Unterströmungen sind so zahlreich wie ihre Gemeinsamkeiten.

 

Spielablauf

 

Austragungsort der Capoeira ist die roda (ein aus Menschen gebildeter Kreis). Die roda de capoeira beginnt stets mit der Musik des berimbau (einsaitiges Instrument in Form eines Bogens bestehend aus einem Stab und einer gespannten Saite), gefolgt von den anderen Instrumenten in je nach Schule festgelegter Reihenfolge. Bevor das eigentliche Spiel losgeht, wird der einleitende Gesang angestimmt, der besonders in der Capoeira de Angola eine strenge Abfolge unterschiedlicher Liedformen einhält. Das erste Spiel beginnt, wenn der berimbau gunga (das Hauptinstrument der Roda) zwischen den Kontrahenten gesenkt und wieder angehoben, bzw. ein anderes eindeutiges Zeichen gegeben wurde.

 

Da es keine festgelegten Runden oder Austragungslisten gibt, kann jederzeit jemand aus dem Kreis einen der beiden jogadores (Spieler) ablösen. Comprar o jogo (das Spiel kaufen) nennt sich dieser Vorgang, für den man natürlich kein Geld benötigt, sondern mit gebührendem Sicherheitsabstand beiden Spielern zeigt, mit welchem von ihnen man weiterspielen möchte. Oft kommt es jedoch auch vor, dass beide Spieler gleichzeitig abgelöst werden. Wer „herausgekauft“ ist, verlässt zügig aber aufmerksam das Kreisinnere, da das Spiel sofort weitergeht. Weitere Spielunterbrechungen oder -veränderungen sind situativ.

 

Regelwerk

 

1. volta ao mundo (Reise um die Welt): Ein Spieler fordert den anderen dazu auf, mit ihm eine oder mehrere Runden im Inneren der roda zu drehen, bevor das Spiel zwischen ihnen weiter geht (Achtung: Vor Angriffen ist man hier nicht geschützt!). Gründe hierfür können eine nötige Verschnaufpause oder das Unterbrechen des momentan besseren Spielflusses des anderen sein. Auch hier kann „gekauft“ werden. Diese Spielform findet sich vor allem bei Capoeira Regional.

 

2. chamada (Ruf): Ein Spieler nimmt eine der charakteristischen Körperhaltungen ein, die den anderen dazu auf“ruft“, sich zu nähern und die entsprechende Gegenposition einzunehmen. Darauf folgt eine traditionelle Bewegungsabfolge, nach der der Rufende die chamada wieder auflöst. Mögliche Gründe für eine chamada entsprechen denen der volta ao mundo; es kann aber auch ein „Test“ sein, ob der andere fähig ist, korrekt auf den Ruf zu antworten. Die chamada ist typisch für Capoeira de Angola.

 

3. iieeeh: hierbei handelt es sich um einen Ausruf, der alle Anwesenden zur ungeteilten Aufmerksamkeit auffordert (in der Capoeira de Angola beginnen viele Lieder mit diesem Ruf). Ruft der Meister/Leiter der roda „iieeeh“, so ist dies beispielsweise für zwei Streithähne die klare Anweisung, mit ihren momentanen Handlungen aufzuhören.

Die roda wird beendet, indem der Meister/Leiter der roda entweder laut das beschriebene „iieeeh“ ausruft, oder der berimbau gunga dies mit einer abschließenden Schlagfolge verkündet, mit deren letztem Ton auch die anderen Instrumente, das Klatschen und der Gesang verstummen.

 

Ungeschriebene Regeln

 

Für das Spiel selbst gibt es keine festgeschriebenen Regeln, die bestimmte Techniken verbieten, jedoch sind Stöße in die Augen und Tritte in die Genitalien verpönt. Das jeweilige Spiel kann sich in Sekunden von Null- über Semi- bis hin zu Vollkontakt verwandeln (oder umgekehrt), was - anders als bei asiatischen Kampfsportarten - nicht vorher festgelegt wird, sondern aus Aktion und Reaktion erwächst.

 

Regelnden Einfluss auf das Spiel nehmen die Musik und der Gesang. Die Art der Techniken orientiert sich stets am aktuellen toque (Rhythmus). Bei dem langsamen Rhythmus angola werden vornehmlich Techniken am Boden ausgeführt werden, während beim schnellen são bento grande auch gesprungene Tritte, Flickflacks und sogar Salti zu sehen sind. Der toque iúna ist allein den graduierten Schülern und Meistern vorbehalten.

 

Die Art des Zweikampfes, seine Ästhetik, Offensive oder auch Aggression hängt einerseits vom Gemütszustand der beiden Kontrahenten ab. Andererseits nimmt der Gesang erheblichen Einfluss auf das Geschehen. Zwar gibt es eine Vielzahl „neutraler“ Lieder, die von der Sklaverei, einer verlorenen Liebe oder der Capoeira- Klasse des eigenen Meisters handeln, doch fordern andere mehr oder weniger direkt zu situations- oder rhythmuskonformem Spiel auf. So gibt es Lieder, die den Spielern ein jogo bonito (schönes Spiel) abverlangen, einen frechen Anfänger warnen, sich „nicht die Zähne auszubeißen“, oder gar einen auf Anfänger einprügelnden Fortgeschrittenen auffordern, er solle „die Frucht reifen lassen, bevor er sie pflückt“. Andere Lieder weisen die Kontrahenten darauf hin, nur Capoeiratechniken zu verwenden (in der aktuellen Entwicklung der Capoeira gibt es Vermischungstendenzen mit dem bodenkampforientierten JiuJitsu) oder rufen geradezu nach einem jogo duro (hartes Spiel), in welchem sich einer der beiden als der Stärkere erweist.

 

In der „Regel“ verändert sich das Geschehen in der roda in Richtung des geforderten Verhaltens, sofern die Aufforderung von Höhergraduierten oder gar dem Meister stammen. Schwierig ist dies natürlich für die vielen Capoeirista, die (noch) kein Portugiesisch beherrschen und gerade bei improvisierten Liedern kaum verstehen können, ob sie ihr momentanes Spiel langsamer, schneller, schöner oder auch härter machen sollen. In solchen Situationen ertönt dann häufig ein beherztes „iieeeh“...