Von der Chronologie des Zufalls

Tan de repente und andere lateinamerikanische Beiträge auf dem 55. Filmfestival von Locarno

von Ute Mader

Das Erstlingswerk des begabten argentinischen Regisseurs Diego Lerman Tan de repente wurde beim 55. Festival von Locarno mit dem Silbernen Leoparden sowie einer lobenden Erwähnung für die Schauspieler ausgezeichnet. Weitere Filme aus Argentinien und Brasilien zeigten der Videowettbewerb und die Semaine de la Critique.

Inspiriert von einer Erzählung von César Aira, beruht Tan de repente auf dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit des Zufalls: Marcia ist eine etwas mollige junge Frau, die in einem Geschäft für Damenwäsche arbeitet und ein geregeltes, jedoch etwas einsames Leben in Buenos Aires führt. Ihr Liebhaber hat sie offensichtlich verlassen. Auch zwei Punk-Girls namens Mao und Lenin haben ein gebrochenes Verhältnis zu Beziehungen und Familie. Die beiden aufmüpfigen jungen Frauen bereiten ihren Mitmenschen jede Menge Ungemach. Überraschend und unvermittelt erklärt Mao eines Tages Marcia ihre Liebe, die mit diesem Geständnis zunächst jedoch ziemlich überfordert ist. Ein Liebesbeweis muss her: „Porque el amor que no tiene explicaciones tiene pruebas, y las pruebas valen tanto como el amor,“ meint Mao. Die beiden Punk-Girls klauen alsbald ein Taxi und die Reise geht ans Meer, das Marcia noch nie gesehen hat. Hier beginnt ein erstaunliches Road-Movie, eine unerwartete Suche nach der Kindheit und dem menschlichen Glück. Auf der Rückfahrt vom spontanen Besuch des Meeres geht dem Trio plötzlich der Sprit aus, doch die Reise wird per pedes und mit dem Daumen fortgesetzt. Man erinnert sich einer alten Tante, die mit einer Malerin und einem Studenten in der Nähe wohnt und beschließt, sie zu besuchen...

 

Der ungemein frische, im kontrastreichen Super 16- Format gedrehte Film ist ein Augen- und Ohrenschmaus in formal streng gehaltenen schwarz-weiß Bildern. Genauso minimalistisch wie die ausgeklügelten Dialoge war auch das Budget. Diego Lerman hierzu in Locarno: „Wir hatten keine umfangreichen Finanzmittel, eher im Gegenteil, denn es gab eigentlich kein Budget. Die Schauspieler kenne ich seit langem, es sind teilweise Freunde aus Off-Theatern. Alle Mitwirkenden haben ohne Bezahlung gearbeitet. Wir hatten eben die Hoffnung, dass der Film sich später bezahlt machen wird. In ästhetischer Hinsicht war bereits bei Erstellung des Drehbuchs klar, dass ich in schwarz-weiß drehen wollte. Für mich war wichtig, dass der Film so ist, wie ich ihn machen wollte, deshalb sind auch Geschichten von Freunden in ihm verarbeitet, die diese wirklich erlebt haben.“ Der Film wurde beim Filmfestival von Buenos Aires gezeigt und bekam mehrere Preise: den Spezialpreis der Jury, einen Sonderpreis und den Publikumspreis.

 

Videowettbewerb

 

Auch im Videowettbewerb von Locarno erzählt ein argentinischer Beitrag mit geringem Budget von sozialer Einsamkeit: In Cabeza de Palo von Ernesto Baca geht es um einen Busfahrer, dessen soziale Beziehungen zerstört sind. Das triste Umfeld tut ein Übriges, ihn noch mehr zu frustrieren. Die Kamera verharrt auf den Gesichtern, um möglicherweise noch Geheimnisse zu ergründen, doch da ist nicht mehr viel. Der Film kommt ohne Dialoge aus, die Montage ist hektisch, bricht ab und widmet sich dem gesellschaftlichen Fatalismus. Vier Jahre Arbeit haben der Regisseur und seine Crew in das Projekt investiert: „Wir haben in Argentinien gelernt, wie man Kino vor allem ohne Geld macht. Wir hatten jedoch von der Fundación Antorcha ein Stipendium, das dann das Projekt auf den Weg gebracht hat. Wir sehen das immer wieder folgendermaßen: Wir müssen mit der Armut der Mittel arbeiten und das gilt nicht nur für uns, sondern auch für andere Kollegen. Meine Herausforderung war vor allem, ohne Dialoge zu drehen, was wiederum eine besondere ästhetische Spielart zur Folge hat. Die Reduktion der Mittel erlaubt mir, meine Kreativität zu erhöhen und dem ganzen Film eine andere Richtung zu geben. Die Erzählung funktioniert über die Montage, die Fotografie und meine Art, die Bilder zu komponieren. Meine Vorbilder dafür sind Bresson und Hitchcock, die nach meiner Meinung die Dinge auf den Punkt gebracht haben.“

 

Auf andere Weise experimentell gibt sich ein Videobeitrag aus Brasilien: In 33 begibt sich Regisseur Kiko Goifman auf die Suche nach der eigenen Identität. Er hat 30 Tage Zeit, die Geschichte seiner biologischen Mutter herauszufinden. Eine eigene Spurensuche, die mit krassen und experimentellen schwarz-weiß Bildern arbeitet. Goifman mischt die persönliche Recherche mit Polizeiberichten oder dem Online-Tagebuch für Internetsurfer und schafft einen geheimnisvollen, spannenden und vielschichtigen persönlichen Essay.

 

Semaine de la Critique

 

Eryk Rocha, Sohn von Glauber Rocha, 1978 in Brasilien geboren, inszenierte mit Rocha que voa seinen ersten langen Dokumentarfilm, der in der Semaine de la Critique vorgestellt wurde. Der Sohn begibt sich darin auf die Spuren seines Vaters, hat selbst in Cuba Schnitt studiert und in vielen lateinamerikanischen Ländern gelebt. In seinem Film hält er auch das Aufeinandertreffen des brasilianischen Cinema Novo und des cubanischen Cine revolucionario 1971/72 fest. Glauber Rocha, Regisseur von Terra em Transe oder Barravento, der mit seiner „Estetica do Fome“ ein aufsehenerregendes Manifest schuf, verließ zu Beginn der 70er Jahre sein Land. Zeitzeugen wie Tomás Gutiérrez Alea, Alfredo Guevara und Fernando Birri berichten nun von dem umtriebigen Regisseur und seiner Zeit in Havanna. Vergangenheit und Gegenwart lässt der junge Meister des Schnitts geschickt ineinander laufen. Die Montage ist dabei durchaus assoziativ und lässt sich von der Filmsprache wie afrikanischen Trommeln oder anderen Tempi leiten.

 

1971 schrieb Glauber Rocha: „In einigen Jahren wird das lateinamerikanische Kino als wichtigstes künstlerisches Instrument zur kulturellen und politischen Vereinigung Lateinamerikas beitragen.“ Doch Glaubers Geliebte in Havanna bezeugte, dass ihr Regisseur nur in Brasilien glücklich war und sonst nirgendwo seinen Frieden finden konnte. Ein beeindruckendes Dokument, das wieder auf die Filme von Glauber Rocha wie Der Leone have sept Cabeças oder Deus e o Diabo na Terra do Sol, aufmerksam macht, die wieder einmal eine Aufführung auch in Deutschland vertragen könnten.