Waghalsige Exkurse

Cineastische Experimente aus Brasilien, Mexiko und Argentinien

von Ute Mader

Auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen bedienen sich der Regisseur Luiz Fernando Carvalho und Carlos Reygadas altbewährten Erzähltechniken wie dem Gleichnis und der Parabel. Die beiden Argentinier Adrián Caetano und Lisandro Alonso hingegen versuchten unter extrem schwierigen Produktionsbedingungen neue Techniken fürs sich nutzbar zu machen.

Einer der beeindruckendsten, sprachlos machenden Filme ist der brasilianische Film Lavoura Arcaica von Luiz Fernando Carvalho. Entstanden nach dem Roman von Raduan Nassar aus dem Jahre 1975, gelingt es dem Film, sich von der Vorlage zu entfernen und dennoch deren poetische Kraft zu transportieren, jedoch gleichzeitig eine eigene Ästhetik zu entwickeln. Glaubt man auf den ersten Blick, einen konventionellen Film vor sich zu haben, so entpuppt er sich beim näheren Hinschauen als waghalsig und nonkonformistisch. Der Regisseur ließ viel Raum für Improvisationen und Experimente. Dennoch wurde zwei Monate in ländlicher Umgebung geprobt und das Leben auf dem Lande einstudiert, um dem Ganzen eine bestimmte Festigkeit und Authentizität zu geben. Die Familiengeschichte der Einwanderer aus dem Libanon im Bewusstsein der Traditionen des Mittelmeerraums, ist ein Melodram mit einer außerordentlich dichten Atmosphäre, die dem Zuschauer einiges abverlangt (nicht nur wegen der Länge von drei Stunden).

 

Gleichnis vom verlorenen Sohn – Lavoura Arcaica

 

Das Emigrantenleben der libanesischen Einwanderer ist von der Arbeit auf dem Bauernhof geprägt, den die Familie gemeinsam betreibt. André, das fünfte von insgesamt sieben Kindern, ist das schwarze Schaf, das nicht arbeitet, andere Gedanken hat, ungeduldig und in Wahrheit der Rebell des Familienclans ist. Er ist ein durchaus komplementärer Charakter zu dem des Vaters, einem Patriarchen, der es mit der Auslegung der Bibel sehr genau nimmt und keinen Widerspruch duldet. André hingegen sagt ja zum Leben, zum sexuellen Empfinden, zur Freiheit. Eines Tages bricht er das Gesetz, indem er bewusst Inzest begeht und seine Schwester Ana verführt, die er ausschließlich als Objekt der Begierde ansieht.

 

Eine teuflische Angelegenheit, da bei dem Kampf zwischen den Regeln und dem Verlangen das letztere siegt. Ana selbst bleibt durch diese Tat völlig verwirrt zurück und eilt entrückt von der Realität in die Kapelle zum Beten. In einer ersten Anwandlung folgt er ihr und beginnt in der Kapelle zu fluchen. Ihm geht es hier wohl weniger um die religiösen Vorschriften als um die Vorschriften im Allgemeinen. Schließlich flieht André, weil er sich der Ordnung des Vaters nicht fügen kann. Die Familie glaubt, ihn frei nach dem Gleichnis des verlorenen Sohnes nach Hause zurückholen zu müssen.

 

Der Film beginnt mit einer Masturbationsszene, im opaken Licht gedreht. Pedro, Andrés Bruder, kommt, um ihn auf den Wunsch der Mutter nach Hause zurück zu holen. André ist inzwischen völlig vereinsamt, leidet unter Alkoholismus und Epilepsie. Er hat keine anderen sozialen Kontakte als die zur Familie, die als sozialer Mikrokosmos für ihn bestimmend ist und war. Die beiden Brüder unternehmen den Versuch, sich ihr Leben zu erzählen. Bildlich wird in Rückblenden die Kindheit heraufbeschworen, wo André als kleiner Junge seine nackten Füße mit sichtlichem Vergnügen im Laub vergräbt. Die Rückblenden haben eine sehr helle Farbgebung, die Gegenwart ist indessen in der dunklen und opaken Farbgebung gehalten. Eine unvergessliche Szene ist diejenige, als bei einer Feier Ana außerordentlich erotisierend und extatisch tanzt.

 

Oder auch immer wieder die kleinen Gesten, die den täglichen Ablauf begleiten: wenn die Mutter André zärtlich übers Haar streicht. Doch diese Gesten der Zärtlichkeit haben auch einen erstickenden Beigeschmack. Die Kinder werden zur Arbeit, zur Geduld, und zum Devoten im Lauf der Zeit angehalten. Der Zuschauer hingegen wird mit endlos lang scheinenden Essensszenen konfrontiert, während derer der Vater fromme Geschichten zur Erbauung der Familie vorträgt, die sich mit elend langen Momenten lastenden Schweigens ablösen. Und irgendwann muss das alles explodieren.

 

Am Ende, obwohl die Ordnung des Vaters nicht triumphieren kann, gewinnt der Film durchaus kathartische Dimensionen. Die Bildgestaltung lässt an Kompositionen von Malern wie Caravaggio, Tintoretto und seinen Schüler Delacroix erinnern. Die Farbgebung und die Licht- und Schattengestaltung sind stilbildend und vor allem letztere erinnert an die Bildsprache von Stummfilmen. Die Filmbilder von Walter Carvalho führen ein ähnliches ästhetisches Eigenleben wie die durchaus tongewaltige Musik von Marco Antonio Guimarães, für die der Komponist mehrfach ausgezeichnet wurde. Eine wichtige Komponente für das Geschehen im Film ist auch die Behandlung der zeitlichen Dimension.

 

Luiz Fernando Carvalho hat hier in seinem ersten Langfilm ein sehr beeindruckendes Werk geschaffen: der Film ist weit davon entfernt, konformistisch zu sein. Beim zweiten Sehen wird offenbar werden, ob der Film das hält, was er verspricht: meiner Meinung nach kann er vorbehaltlos drei Mal gesehen werden. Sicherlich eins der filmischen Meisterwerke des neuen Jahrtausends, da eine ungeheure Kraft und Stärke zu spüren ist. Lavoura arcaica wurde zu recht auf mehreren Festivals (Havanna, Brasilia u.a.) mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

 

Japón – Mutiger Exkurs über das Streben nach dem Tode und die Menschlichkeit

 

Ein am Stock gehender alter Mann kommt in eine ausgesucht schöne Landschaft in Mexiko, um seinen Tod vorzubereiten. Ausgerechnet hier will er seinem Leben ein Ende setzen. Der Städter dringt sozusagen in diese Idylle ein und stört sie in ihrem natürlichen Ablauf. Über das Woher und Wohin des Alten erfahren wir wenig, er hat eigentlich keinen Namen und keine rechte Geschichte. Mit minimalen Mitteln gelingt es dem Regisseur Carlos Reygadas in Japón, eine komplexe, würdevolle und offene Atmosphäre zu erzeugen, die das Interesse beim Zuschauer nicht erlahmen lässt. Der Film erinnert in seiner Sprache an den Kurzfilm El Abuelo Cheno y otras historias von Juan Carlos Rulfo, der sich ebenfalls mit dem Leben alter Menschen auseinandersetzt.

 

Eine Jagdgesellschaft ballert auf der Meseta herum und weist dem alten Desperado den gewünschten Weg. Der Mann möchte zum Canyon und später dort hinunter. Mit Hilfe der Jäger und eines Metzgers, der eine Sau schlachtet, gelangt er bald nach San Bartolo, einem Dorf, das in der Mitte des Canyons liegt, wo er sich eine Unterkunft mit weitem Ausblick wünscht. Und in der Tat bietet der Film immer wieder großartige Landschaftspanoramen als Kulisse, die für die Atmosphäre des Films ausschlaggebend sind. Asce (abgeleitet von Ascención) ist eine würdevolle, gelassene alte India, deren Mann verstorben ist. Unser Wanderer ins Jenseits bekommt in ihrem Schuppen Unterkunft. Sie lehnt es ab, ihn zu verköstigen, da sie an Arthritis leidet und meint, dies körperlich nicht mehr zu schaffen. Die beiden Alten pflegen zunächst einen distanzierten, höflichen und wortkargen Umgang miteinander, sind dabei allerdings außerordentlich offen. Auf die Frage hin, warum er die Stadt verlassen hat, deutet der Alte, der sich als Maler entpuppt, an, dass er dort Ärger hatte und dass viel Heiterkeit und Frohsinn vonnöten wären, um das Leben zu meistern. Die fast philosophisch-existenzialistischen Äußerungen der beiden Alten bieten immer wieder Überraschendes und Unerwartetes. Sie rauchen sogar gemeinsam einen Joint und erstaunen uns mit einer anrührenden Liebesszene.

 

Das starke Filmdebüt des mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas ist eine beeindruckende Independentproduktion, die vom Hubert Bals Fund in Rotterdam gefördert wurde. Ein ungewöhnlicher Film, der auf der einen Seite die Verbundenheit mit der Erde zeigt und andererseits die Entwurzelung der Städter, die sich auf Wanderschaft begeben. In Supercinesmascope gedreht, zeigt Reygadas uns ein ironisierendes Lehrstück über Alter, Tod, Sex, Liebe und Religion. Das angenehme daran ist, dass es ohne erhobenen Zeigefinger auskommt. Der Filmemacher legt vielmehr Wert auf die Authentizität der Bilder, auf künstliches Licht und Effekthascherei wird nach den geistigen Vätern vom dänischen DOGMA 95 verzichtet. Mit Überraschungsmomenten setzt er hingegen gekonnt Zäsuren innerhalb des Handlungsgefüges, wodurch der Film einige komische Aspekte erhält. Das Material diene der Wahrheit und die Form der Fiktion, meint der Filmemacher.

 

Bolivia – Argentinischer Exkurs über Migration und Rassismus

 

Bolivia, der erste und mehrfach preigekrönte Film (London Film Festival, Cannes und San Sebastián) von Adrián Caetano ist ein Low-Budget-Projekt und wurde mit der freiwilligen Leistung von vielen Freunden ermöglicht. Er schlägt emotional um sich und prangert schonungslos den Rassismus in Argentinien an. Zuvor hat der Regisseur einige Kurzfilme sowie eine Dokumentation fürs Fernsehen gedreht und mit Bruno Stagnaro den sozialkritischen Film über Jugendliche Pizza, birra y faso inszeniert. Er selbst ist Immigrant aus Uruguay und lebt seit 20 Jahren in Argentinien.

 

Die Geschichte, die mit Laiendarstellern inszeniert wurde, ist einfach gehalten: Freddy stammt aus Bolivien. Er geht nach Argentinien, um Arbeit zu finden und seine Familie ernähren zu können. Da er keine Aufenthaltserlaubnis hat, kann er nur schlecht bezahlte Arbeit, wie die in einer Bar mit freier Kost und 15 Pesos Lohn täglich, finden. Der Besitzer ist ein egoistischer und nur ans Geschäft denkender Mensch. Doch da gibt es auch noch Rosa, die Kellnerin und Kollegin, die ebenfalls ihr Heimatland Paraguay verlassen hat und in der Freddy seine einzige Verbündete findet. In der Bar verkehren vor allem Taxifahrer und kleine Leute. Man kennt sich hier. Doch ab einem gewissen Moment spitzt sich die Situation zu und entgleitet allen Beteiligten völlig. Über den gezeigten Mikrokosmos in der Bar tun sich nur allzu deutlich Abgründe auf...

 

Der Spielfilm ist in Close-ups in einer dokumentaristischen Weise in grobkörnigen Schwarz-Weiß- Bildern gedreht. (Man denke hier an Mundo Grúa von Pablo Trapero.) Sprachlich wird im Film „Lunfardo“ gesprochen, die Sprache der Strasse. Das Minimalistische an der Gestaltungsweise des Film ist herausfordernd: äußerst reduzierte Dialoge, immer wieder die Konzentration auf das Wesentliche und die Entschleierung der Vorurteile dem Fremden gegenüber. Die Kamera schafft es jedoch, Momente der Wärme einzubringen, um die Trostlosigkeit aufzuhellen. In der ganzen Stadt lauern für Freddy überall unterschiedliche Gefahren: Polizeikontrollen, unzufriedene Gäste, die Händel suchen und nicht zuletzt der Barbesitzer, der ihn ausbeutet. Nur Rosa teilt unaufgefordert ihr Trinkgeld mit ihm. Die Geschichte ist weit davon entfernt, touristische Themen aufzugreifen: „Freddy leidet, er betrinkt sich, er reagiert. Ich zeige keine Postkarten des täglichen Lebens eines Bolivianers. Das was mich an dem Film am meisten interessiert, sind die Beziehungen in der Bar, die Persönlichkeiten, das was sie tun, was ihnen widerfährt, wie sie leben, über was sie reden, was sie denken.“, so kommentiert Filmemacher Adriano Gaetano seinen Film. Ein erschütterndes Dokument aktueller Zeitgeschichte.

 

Der Regisseur selbst ist Autodidakt. Seine besten Lehrer seien Filme und Bücher gewesen, sagt Caetano, der bis zum Alter von 24 Jahren Metallarbeiter war. Das Kino an sich nimmt nach seiner Meinung eine soziale Position ein und hat einen politischen Anspruch. Die Arbeiten zu seinem neuen Film El Oso rojo wurden bereits begonnen. Es geht um einen Mann, der sieben Jahre im Gefängnis einsitzen musste, weil er Lebensmittel für seine Frau und Tochter stahl. Das Projekt wird auch wieder die Geschichte einer Figur am Rande der Gesellschaft sein.

La Libertad –Exkurs über die Freiheit des Menschen und die Koordination der Bilder

 

Der erste Film des argentinischen Filmemachers Lisandro Alonso wurde mit etwas mehr als 30.000 Dollar umgesetzt. Gedreht wurde er in zehn Tagen und der Rohschnitt wurde auf Video vollzogen. Der Film entstand in der Pampa, circa 800 Kilometer von Buenos Aires entfernt. Hier wohnt der Vater des Filmemachers. Da Lisandro Alonso nichts Bestimmtes zu tun hatte, fuhr er dort hin. Die Gegend befindet sich im Mittelpunkt des Nichts, da wo man beginnt loszulaufen, wo man niemanden trifft und auf einen Baum klettern muss, um ein Ziel ausmachen zu können. Genau dort hat Lisandro den Hauptdarsteller getroffen, der sein Alter Ego sein könnte und so entstand auch die Idee, den Film auf den Weg zu bringen. Normalerweise gibt es in Filmen eine Geschichte, an der man sich festhalten kann. Alonso jedoch will keine konventionelle Geschichte erzählen: er möchte lediglich beobachten. Der Zuschauer soll sich seine Geschichte im Kopf erfinden. Der Film wurde für den Zuschauer gemacht, der darunter leidet, mit jemand anderem zusammenzutreffen, der sich im Nirgendwo befindet, und auf eine unzugängliche Person stößt. Der Streifen umfasst den Tagesablauf des Holzfällers Misael Saavedra während 24 Stunden, das Leben eines Mannes in der Pampa also, der mit einem Minimum an allem Lebensnotwendigen auskommen muss. Er hat kaum Kontakt zu anderen Personen und tut ungefähr jeden Tag das Gleiche. Er steht auf, fällt Bäume, isst, hält Siesta, kauft im Dorf ein, telefoniert, usw. Er trifft auf ein Muli und entschließt sich, es zu jagen. Man bekommt den Eindruck von Routine, man meint, alle seine Tage würden nach dem gleichen Schema ablaufen. Da der Schauspieler vom Bild begrenzt wird, hat der Regisseur diese Begrenzung in der Hand. Wenn der Film ein Dokument wäre, dann stünde die Kamera Misael zur Verfügung. Hier ist die Situation genau umgekehrt, denn Misael steht der Kamera zur Verfügung. Für Alonso ist der Hauptdarsteller mehr ein Gelehrter und ein Alter Ego.

 

Ein Vorbild von Alonso ist der Regisseur Abbas Kiarostami. Seine Filmsprache ist langsam, die Schnitttechnik eigenwillig, äußerst minimalistisch die Inszenierung, sodass dem Zuschauer alles als eine Bereicherung erscheint.

 

Es ist äußerst schwierig einzuschätzen, welchen Stellenwert das Experiment La Libertad im argentinischen Kino erhalten wird. Der Film wird auf jeden Fall eine Grenzposition einnehmen, da er sich in kein filmisches Schema einordnen lässt.