Apokalypsen für den Hausgebrauch

Der mexikanische Schriftsteller Juan José Arreola 1918-2001

von Georg Oswald

„Der Franzose“ haben ihn die Leute oft scherzhaft genannt, als sie ihn mit Anzug und Stock, mit seinem Hang zur Extravaganz, mitunter auch mit grell bunter marokkanischer Kappe auf seinem schlohweißen Haupt, auf der Straße erkannten. Juan José Arreola war in Guadalajara eine Institution, wenngleich ihn sein Geburtsort Ciudad Guzmán, den er stets mit seinem alten Namen Zapotlán el Grande ansprach, tief geprägt hatte. Im Süden des Bundesstaates Jalisco gelegen, am Fuß zweier Vulkane, von denen einer nach wie vor mit einer ständigen Rauchsäule auf sein aktives Innenleben verweist, teilt Arreola seinen Geburtswinkel mit dem Wandmaler José Clemente Orozco, der mit Diego Rivera, David Siqueiros und Anderen an der bedeutendsten Kunstbewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts teilnahm, und mit dem Musiker José Rolon, der sich mit Liedern und Orchesterstücken zwischen Chirimía und Mariachi in die Musikgeschichte Mexikos einschrieb. Und es liegen keine dreißig Kilometer zwischen Zapotlán und Sayula, dem Geburtsort von Juan Rulfo, mit dem Juan José Arreola mehr verbindet als lediglich dieselbe Region. Den Mythisierungen Rulfos, der seinen Geburtsort im Dorf San Gabriel angab, schenken wir hier keine Beachtung. Arreola selbst meint in seinem Memoirenband Memoria y olvido, Rulfo sei gar nicht in San Gabriel, sondern in Barranca de Apulco geboren. Wie dem auch sei, beide Autoren verbindet dieselbe Gegend. Rulfo ist um rund 16 Monate älter als Arreola, der am 21. September 1918 zur Welt kam.

 

Beide zählen zu den bedeutendsten mexikanischen Erzählern des 20. Jahrhunderts, wenn auch Rulfo der bekanntere ist. Jorge Luis Borges und Pablo Neruda waren Arreola über die literarische Wertschätzung hinaus auch freundschaftlich verbunden. Weiter zeichnet beide Autoren aus, dass sie mit einem relativ schmalen literarischen Werk ungeheuer große Wirkung erreicht haben.

 

Das Regionale geht bei Rulfo wie bei Arreola mit dem Welthaltigen Hand in Hand. Während für Rulfo vor allem skandinavische Autoren wichtig geworden sind, werden für Arreola französische und italienische Autoren richtungweisend. Neben Henri Micheaux und Jules Renard sind es immer wieder Paul Claudel und Giovanni Papini, die Arreola als einflussreich für sein eigenes Schreiben nennt. Für manche dieser Autoren geht seine Reverenz so weit, dass er Übersetzungen, Annäherungen, wie er selbst meint, seinen eigenen Texten beifügt.

 

Als ich 1997 mit dem Schriftsteller und Übersetzer Leopold Federmair Arreola in seinem Haus in Guadalajara besuchte, waren die französischen Autoren - aber auch der französische Wein - eine Welt, an die beide leicht anknüpfen konnten. Arreola verbrachte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg einige Wintermonate in Frankreichs Hauptstadt, die nicht nur für ihn, sondern für unzählige lateinamerikanische Intellektuelle den kulturellen Sehnsuchtsort par excellence verkörpert. In Paris scheint er sich mehr an die lateinamerikanischen Zirkel gehalten zu haben, so trifft er neben anderen auf Octavio Paz, Rodolfo Usigli und Gabriela Mistral. Während die chilenische Dichterin und Nobelpreisträgerin die französische Kultur wenig begeistert mit einem verfaulenden Camembert vergleicht, scheint Arreola während seines Aufenthaltes so viel wie nur möglich vor allem von der Literatur des Landes aufzusaugen.

 

Der Gesprächstermin in Guadalajara, den uns der körperlich schon merklich ermüdete, geistig aber funkelnde Arreola einräumte, kam sofort zustande, als der Name Otto Weininger fiel. Homenage a Otto Weininger (O. W. gewidmet) nennt Arreola eine Geschichte, in der ein räudiger Hund in der Ich-Form erzählt, Bilanz zieht, über das Scheitern einer amourösen Annäherung an eine Hündin. Natürlich wissen die Kenner seiner Texte, dass der Autor mit dem krätzigen Hund sich selbst im Visier hatte, und selbstverständlich wird auch die läufige Hündin mit einer über die Grenzen Mexikos hinaus bekannten Schriftstellerin in Verbindung gebracht. Doch die Bedeutung dieser Erzählung geht wohl weiter als bis zum Dechiffrieren der zwischenmenschlichen Nähe- und Distanzverhältnisse des Autors.

 

Arreola zeigt sich auch während unseres Gesprächs tief von der Gedankenwelt Otto Weinigers, von seinem „wunderbaren Werk aus Weisheit und Verrücktheit“, wie er meint, beeindruckt, dessen Geschlecht und Charakter er durch eine argentinische Übersetzung aus den 50er Jahren kennen gelernt hat. Arreolas Wiedergabe dessen, was Weininger über die Frauen herausgefunden zu haben vermeint, ruft während unseres Besuchs den heftigen Widerspruch seiner Tochter Claudia hervor, die uns aus der Küche ihren Protest ins Wohnzimmer schickt. In vielen Texten Arreolas, die das Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen thematisieren, sind die Frauen Antipathieträger. Dient hier die Verbeugung vor dem Wiener Philosophen als Schutzschild eines fassungslos enttäuschten Liebhabers?

 

In dem bereits erwähnten Band Memoria y olvido, in dem Arreola dem mexikanischen Schriftsteller Fernando del Paso die Frühphase seines Lebens erzählt, ist es vor allem die Idee der ursprünglichen, umfassenden, bisexuellen Einheit des menschlichen Seins. Die Trennung als Mann und Frau ist, laut Arreola, der Grund für die Vergiftung zwischen den Geschlechtern. Die Wiederherstellung dieser ursprünglichen Einheit ist eine Suche, der das Scheitern eingeschrieben ist. Und es klingt wie aus einem Manifest, wenn er erklärt: „Ich bin ein Mann, der das Ausgestoßenwerden aus dem Bauch der Mutter niemals vergeben hat und wahrscheinlich auch niemals vergibt.“ An wen sich diese unversöhnliche Haltung richtet, ist nicht immer eindeutig. Ob sich aber vor dem Hintergrund der hochgehobenen Ideenwelt Weiningers so etwas wie „eine Anbetung der Frau“ ablesen lässt, wie das Fernando del Paso nahelegt, da vermag ich doch meine Zweifel nicht abzuschütteln.

 

Arreola veröffentlicht ab 1949 in kurzen Abständen mehrere Bücher mit Kurzgeschichten, denen 1963 der Roman La feria (Der Jahrmarkt) folgte. An diesem Roman hat Arreola rund zehn Jahre gearbeitet. So manche Details aus den Erzählungen fließen in der einen oder anderen Form auch in seinen umfangreichsten Text ein. La feria ist aus vielschichtigen Fragmenten zusammengesetzt, die um verschiedene Themenkomplexe kreisen und in erster Linie mit Geschichten und Legenden seiner Geburtsstadt Zapotlán el Grande verwoben sind. Es geht vielfach um Land, das den einen, den Indianern, weggenommen wurde, und über das andere zu Unrecht verfügen - ein Thema, das auch bei Juan Rulfo von größter Bedeutung ist. Es sind Geschichten vom Erdbeben, das die Menschen in Angst und Schrecken versetzt, Liebesgeschichten, vom Pfarrer, den Prostituierten, von individuellen und kollektiven Erfahrungen, und um dies alles spannt sich die offizielle, geduldete oder sanktionierte Religiosität der Bewohner. Die Geschichten bewahren dabei ihren offenen Charakter, setzen abrupt ein, sind für sich genommen Fragment und zeichnen sich vor allem durch ihren dialogischen Charakter aus. Nimmt man alle ausgestreuten 288 Geschichtensplitter als Einheit, so setzen sie sich zu einer schillernden Gesamtschau einer mexikanischen Kleinstadt mit ihrer historischen und sozialen Dimension, mit ihrer überbordenden Oralität, zusammen. Arreola ist es mit La feria gelungen, ein ganz lokales Thema zu behandeln und es gleichzeitig über seine Form auf ein kosmopolitisches Niveau zu heben. Immerhin erscheint sein Roman im selben Jahr wie Julio Cortázars Rayuela. Es ist bedauernswert, dass bis heute Arreolas einziger Roman nicht in deutscher Übersetzung vorliegt. Der Band Confabularium enthält in der deutschen Ausgabe lediglich zwei Fragmente, die nicht einmal eine Idee des Vorliegenden vermitteln können.

 

Nach der Veröffentlichung von La feria zog sich Arreola vom Schreiben mehr und mehr zurück. Er entwickelte sich nun zum um so beredteren Kommentator seiner und anderer Literatur. Der Schriftsteller mutierte zum Sprecher und es wäre ganz falsch, diese Transformation als Verstummen zu sehen. Arreola bediente sich in den 70ern des Mediums Fernsehen, um über Literatur zu sprechen, was ihm von Schriftstellerkollegen nicht nur Beifall eintragen soll. Arreolas Textproduktion ist seit dem Beginn der 70er Jahre abgeschlossen und überschaubar. Sie ist gekennzeichnet durch den Versuch an der perfekten Form, ein Unterfangen, das sich nur noch zur Schreibabstinenz steigern lässt.

 

Noch vor seiner einschneidenden Parisreise trat Arreola in den 30er Jahren in Mexiko-Stadt in die Theaterschule Fernando Wagners ein, einem Sohn deutscher Einwanderer, der dem Theater in Mexiko wichtige Impulse geben sollte. Jahre später spielte Arreola ebenfalls in Mexiko-Stadt in Szenen des Anatol von Arthur Schnitzler.

 

In den 50er Jahren leitete Arreola in der Hauptstadt Mexikos eine Schreibwerkstätte, aus der später viele bekannte mexikanische Schriftsteller heraustreten sollten. Er wurde zu einer maßgebenden Person im Literaturbetrieb. Kaum ein mexikanischer Schriftsteller dieser Zeit stand mit Arreola in irgend einer Form nicht in Kontakt. Dieses Zusammenarbeiten spannte auch einen Bogen über Generationen hinweg, von José Emilio Pacheco, der Arreolas Erzählungen für seinen Band Bestiario aufzeichnete, die ihm dieser diktierte, über Elena Poniatowska, die später mit ihren Chroniken hervortreten sollte, bis zum Vertreter einer rebellischen Schriftstellergeneration, José Augustín, dessen ersten Roman La tumba Arreola korrigierte.

 

Von Kindheit an hat sich Arreola in die verschiedensten Berufe eingearbeitet, er war Verkäufer für Haushaltswaren, für Textilien, hat die Fertigkeiten des Buchbinders erlernt, war Korrektor, Schauspieler, Journalist. Mehr als dreißig Berufe sollen es nach eigenen Angaben gewesen sein. Von allen Berufen, die Arreola in seinem Leben ausgeübt hatte, verfing sich etwas in seinen Texten und kristallisierte sich zu einer ganz persönlichen Weltsicht des Autors. Seine bescheidene Anmerkung, in seinem Leben nicht genügend Zeit für die Literatur gehabt zu haben, ist ein Pendelausschlag Arreola´scher Selbstdarstellung, der als Gegensatz zu seinem Versuch an der perfekten Form zu sehen ist.

 

Arreolas Kurztexte spiegeln Erfahrungswelten wider, die sich wiederum stark auf literarische Welten konzentrieren. Sie sind Wegmarken des Autodidakten, dessen Lebens- und Leseerfahrung parallel liefen. Es sind mythologische, religiöse, klassische und biologische Themen, die sich mit Namen verbinden lassen, sich aber vor allem durch den Hang zum Apokryphen auszeichnen. Sie vereinen im Grunde das, was im Text Sinesius von Rhodos über den Namensträger und dessen manichäische Irrlehre mitgeteilt wird, nämlich dass dieser nicht einmal die Ehre zukam, offiziell auf einem Konzil verdammt zu werden. Genau dort setzt Arreolas Interesse ein.

 

Es sind geistreich-witzige Geschichten, die mit einem Hang zu verschrobener Gelehrsamkeit daherkommen und das Paradoxe ansteuern. Die Geschichte Der Weichensteller erscheint in mehreren deutschsprachigen Anthologien mexikanischer Erzähler und gilt als Arreolas gelungenster Text. Ein Weichensteller gibt einem Reisenden, den man besser als Reisewilligen bezeichnen muss, Ratschläge, wie er am besten mit dem Verkehrsmittel Zug zurechtkommen könne. Von Pünktlichkeit ist dabei nur in ihrer übertriebenen Verneinung die Rede, und auch Zielbahnhöfe und Reisedauer werden in den phantastischen Ausschweifungen des Bahnbediensteten in Ruhe aufgelöst. Erst als der Zug nach so vielen ausführlich dargelegten Widrigkeiten tatsächlich daherkommt, trollt sich der Weichensteller, der schlussendlich eingesteht, niemals selbst mit einem Zug gefahren zu sein, davon.

 

Wenn diese Geschichte abgesehen von den Abkürzungen für die Ortsbezeichnungen an Kafka erinnert, so täuscht das nicht. Arreola selbst hat ja seine literarische Bandbreite von Jesaja bis Franz Kafka gespannt. Bestimmt kann man in diesem Text auch andere literarische Anlehnungen finden, doch das Besondere an Arreolas Geschichten ist ja nicht das Aufspüren von verarbeiteten Leseerfahrungen, sondern wie diese Elemente in einem ganz anderen Ambiente zusammengesetzt werden. Und so manchen Lesern ist diese gerade in Der Weichensteller entworfene Welt die reale Lebenswelt Mexikos schlechthin.

 

Für Gegenwartsliteratur bringt Arreola nur bedingt Interesse auf und neigt eher dazu, sie als sein großes Feindbild abzuurteilen und alles, was in den letzten zwanzig, dreißig Jahren geschrieben wurde, in Bausch und Bogen zu verdammen. Sein Hauptvorwurf besteht darin, der Gegenwartsliteratur mangelnden Willen zur Form zu attestieren.

 

Neben der Wiederveröffentlichung eines Essays über den mexikanischen Dichter Ramón Lopez Velarde gibt der Band Memoria y olvido so etwas wie ein Vermächtnis weiter. Auch wenn die hier gesammelten Erinnerungen nur bis zum Jahr 1947 reichen, bis kurz nach seiner einschneidenden Parisreise, so ist der sprudelnde Erzählton über Kunst und Menschen gut nachfühlbar. Der Erzähler opulenter Romane wie Nachrichten aus dem Imperium oder Palinurus von Mexiko, der seit einigen Jahren ebenfalls in Guadalajara ansässige Fernando del Paso hat in zahlreichen Stunden die ausschweifenden Lebens- und Gedankenwege Arreolas begleitet und aufgezeichnet. Für einen zweiten Teil hatte der um 17 Jahre jüngere del Paso nicht mehr die nötige Ausdauer. Juan José Arreola starb Anfang Dezember in Guadalajara. Seine Asche wurde nach Zapotlán el Grande überstellt.

 

Auf Deutsch liegt bei Suhrkamp der Band Confabularium vor, der einen guten Einblick in die literarische Welt Arreolas bietet. Die Lebenserinnerungen Memoria y olvido, von Fernando del Paso redigiert, sind nur auf Spanisch bei Consejo Nacional para la Cultura y las Artes 1994 in Mexiko Stadt erschienen.