Wirtschaft im Dienste der Entwicklung

Soziale Verantwortung von Unternehmen in Brasilien

von Andreas Villar

Weltweit agieren immer mehr Unternehmen als Reaktion auf mannigfaltigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Druck sozial verantwortlich. Neue Schlagworte wie Corporate Social Responsibility (CSR) und Corporate Citizenship machen die Runde und avancieren zu neuen Oberbegriffen für die soziale Dimension des nachhaltigen Wirtschaftens. Aber wie sozial sind die Unternehmen in Wirklichkeit, und wie lässt sich die soziale und ökologische Performance eines Unternehmens dokumentieren? Eine institutionell weitgefächert angelegte Initiative in Brasilien versucht anhand von freiwillig zu veröffentlichenden Sozialbilanzen eine ethische, transparente, soziale und sozioökologisch verantwortliche Unternehmenspolitik zu schaffen.

 

Soziale Verantwortung zu übernehmen ist im wesentlichen eine freiwillige Verpflichtung der Unternehmen, auf eine bessere Gesellschaft und eine sauberere Umwelt hinzuwirken. Diese Verantwortung haben sie gegenüber den Arbeitnehmern und allen von ihrer Geschäftstätigkeit betroffenen stake-holder (Interessenvertreter), wie zum Beispiel Anteilseignern, Konsumenten, öffentlichen Behörden und Nichtregierungsorganisationen (NROs), die ihrerseits Einfluss auf den Unternehmenserfolg nehmen können. Nicht zuletzt sehen die Unternehmen ihr freiwilliges Engagement als Zukunftsinvestition, die letztlich auch dazu beitragen soll, ihre Ertragskraft zu steigern. Obwohl die primäre Aufgabe eines Unternehmens darin besteht, Gewinne zu erzielen, kann es gleichzeitig einen Beitrag zur Erreichung sozialer und ökologischer Ziele leisten, indem es die soziale Verantwortung in seine Unternehmensstrategie und seine Managementinstrumente einbezieht.

 

 

Wie die Unternehmen in Bezug auf ihre Verantwortung und ihre Beziehungen zu den stakeholder im Einzelnen agieren, ist sektoral und kulturell sehr unterschiedlich. In Brasilien wird das Thema der sozialen Verantwortung derzeit ausführlich in den politischen, wirtschaftlichen und akademischen Kreisen diskutiert.

 

Besonders hervorzuheben ist, dass immer mehr nationale Unternehmen ihre soziale Verantwortung anhand der Veröffentlichung von standardisierten Sozialbilanzen dokumentieren. Diese umfassen die Bereiche des betrieblichen Rechnungswesens, die sich mit sozialen Kosten und sozialem Nutzen eines Unternehmens beschäftigen. Als sozial negative Kosten werden die negativen gesellschaftlichen Auswirkungen des Wirtschaftens - etwa Umweltverschmutzung und Lärmbelästigung am Arbeitsplatz -, die das traditionelle Rechnungswesen nicht angemessen erfasst, bezeichnet. Positive Leistungen wie zum Beispiel Investitionen eines Unternehmens in kommunale Sozial-, Kultur- und Freizeitprojekte, werden als sozialer Nutzen bilanziert. Da die Sozialbilanz keine Bilanz im herkömmlichen Sinne ist, die Aktiva und Passiva gegenüberstellt, wird sie auch oftmals als gesellschaftsbezogene Berichterstattung eines Unternehmens bezeichnet. In Brasilien entwickelte 1997 das Instituto Brasileiro de Análisis Sociais e Econômicas (Ibase), eine renommierte NRO, die Vorlage für eine standardisierte Sozialbilanz. Bemerkenswert dabei ist, dass eine NRO den Weg für die Verbreitung und Anwendung von Sozialbilanzen geebnet hat.

 

In erster Linie soll die Veröffentlichung einer Sozialbilanz zu mehr öffentlicher Transparenz des privatunternehmerischen Handelns beitragen. Sie wird von Ibase aber auch als Instrument zur Verringerung von Armut, zur Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und sozialer Ungerechtigkeit gesehen. Wie in vielen anderen Staaten ist der brasilianische Wohlfahrtsstaat den aktuellen sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen nicht mehr gewachsen. Knapp 50 Prozent des brasilianischen Brutto-Inlandsprodukts (BIP) werden für die Schuldentilgung bei internationalen Kreditorganisationen und -instituten aufgewendet. Dieses Geld fehlt für notwendige Investitionen im Bildungs- und Gesundheitssektor. In dem Maße, wie die Unternehmen selbst sich den Herausforderungen eines sich wandelnden Umfelds im Kontext der Globalisierung stellen müssen, heißt sozial verantwortlich handeln nicht nur die gesetzlichen Bestimmungen einzuhalten, sondern darüber hinaus ‘mehr’ zu investieren in das Humankapital, den Umweltschutz und die Beziehungen zu anderen stakeholder.

 

Derzeit veröffentlichen 43 brasilianische Unternehmen, die zusammen rund neun Prozent des brasilianischen BIP erwirtschaften, die Ibase-Sozialbilanz. Ziel von Ibase ist es, die Unternehmen im ersten Schritt zu einer freiwilligen Anfertigung einer Sozialbilanz zu bewegen. Diese wird dann betriebsintern veröffentlicht. Danach wird die jeweilige Firma mit einer Art ‘Sozialbilanz-Gütesiegel’ ausgezeichnet. Das Logo darf dann von dem Unternehmen in allen seinen Veröffentlichungen, auf seinen Produkten und auf seiner Korrespondenz verwendet werden. Inzwischen stellen viele Firmen bereits eigens ausgebildete Personen für die Erstellung ihrer Sozialbilanzen und Sozial- und Umweltberichte ein. Die große Frage, die sich stellt, ist, wer die Sozialbilanzen auf ihre Richtigkeit prüft. Brasilien verfügt nicht über ein ausgeprägtes

Wirtschaftsprüfungssystem wie Deutschland, und Ibase fehlen die finanziellen Mittel, um die Bilanzen zu überprüfen.

 

Zum jetzigen Zeitpunkt wird davon ausgegangen, dass ein Unternehmen sich keine Falschangaben leisten kann, da deren Entdeckung während der stichprobenartigen Überprüfungen für das Unternehmen einen wirtschaftlichen und einen Image-Schaden bedeuten könnte. Bei genauer Betrachtung der bisher veröffentlichten Bilanzen fällt auf, dass die sozialen Investitionen im Vergleich zu den Unternehmensgewinnen in der Vielzahl der Fälle relativ gering sind. Die Vermutung liegt nahe, dass die Sozialbilanzen den Unternehmen in erster Linie als Marketinginstrument dienen.

 

Joao Sucupira, Wirtschaftsprofessor und Leiter des Sozialbilanzprojekts bei Ibase, betont, dass das Konzept der sozialen Verantwortung von Unternehmen als ein langfristiger, evolutiver Prozess verstanden werden muss. Die soziale und umweltbewusste Ausrichtung eines Unternehmens kann seiner Auffassung nach zu einer Leistungssteigerung sowie zu höheren Gewinnen und stärkerem Wachstum führen. Das Beispiel der Textilfirma Azaleia zeigt, dass durch die Einführung von ergonomisch verbesserten Arbeitsplätzen und einem vielfältigerem Angebot an Kantinenmahlzeiten die Motivation und die Produktivität der Arbeitnehmer gesteigert werden konnten. Die Banco do Brasil, die bereits seit zwei Jahren eine Sozialbilanz veröffentlicht, investiert gezielt in Schul- und Berufsausbildungsprogramme für Jugendliche aus einkommensschwachen Familien und ermöglicht diesen bessere Berufsperspektiven.

 

Inzwischen hat die Diskussion um das Konzept der sozialen Verantwortung von Unternehmen in Brasilien eine starke Eigendynamik bekommen. Viele Unternehmen, Forschungsinstitute, Verbände, Gewerkschaften und Universitäten haben die Thematik aufgegriffen und beteiligen sich an seiner Weiterentwicklung. Anfang 2001 wurde in São Paulo die Unternehmensberatung Access Consulting gegründet, die sich ausschließlich auf die strategische Beratung im Bereich der sozialen Aspekte eines Unternehmens konzentriert. Ihr Gründer, Roberto Souza, kann über Aufträge nicht klagen und verzeichnet in seinem Geschäft Wachstumsraten von über dreihundert Prozent. Seiner Aussage nach möchten sich viele Unternehmen stärker im sozialen Bereich engagieren, wissen aber nicht wie. Souza, der zuvor als Marktbeobachter an der brasilianischen Börse arbeitete, baut momentan mit Kollegen eine Arbeitsgruppe auf, die an der Börse indexierte Unternehmen ausschließlich nach ihrer sozialen Performance bewertet. Dabei stieß er auf die Ibase-Sozialbilanzen, die für die Analysten ein hervorragendes Instrument zur Bewertung der Unternehmen darstellen, da konkrete Daten über verantwortliches Handeln unter sozialen und ökologischen Aspekten Investoren zuverlässige Anhaltspunkte über die Qualität des internen und externen Managements liefern können.

 

Gemeinsam mit dem Institut zur Förderung der Wirtschaftsethik - Ethos - aus São Paulo, öffentlichen Einrichtungen, Gewerkschaften, Unternehmen und dem Verband brasilianischer Wirtschaftsjournalisten, will Ibase in den nächsten Jahren eine große Kampagne zur Verbreitung der Sozialbilanzen und des Konzepts der CSR durchführen. Für Unternehmen soll die Sozialbilanz zu einem selbstverständlichen Teil ihres Handelns werden. In einem gemeinsamen Dialog soll darüber hinaus erörtert werden, wie die - bisher geringen - Investitionen erhöht werden können. Joao Sucupira ist überzeugt davon, dass sozial verantwortlich und umweltbewusst handelnde Unternehmen auf lange Sicht Wettbewerbsvorteile verzeichnen werden, die zu höheren Gewinnen und stärkerem Wachstum führen können. Aber nicht allein höhere Gewinnerwartungen sollen die Unternehmen zu sozialen Leistungen veranlassen. Insgesamt sollen die Unternehmen eine ethische und verantwortungsvolle Haltung gegenüber ihren Angestellten, ihrer Kommune und der Umwelt übernehmen. Den Unternehmern und der Öffentlichkeit muss bewusst werden, in welchem Maß Firmen ein Faktor gesellschaftlicher Veränderung zum Guten oder zum Schlechten sein können.