Neoliberalismus a la chilena

Liberaler Musterschüler oder autoritärer Sonderfall?

von Michael Rösch

Der capitalismo salvaje, der wilde Kapitalismus, wie man den Neoliberalismus in Lateinamerika häufig nennt, wurde in nur wenigen Ländern der Region ähnlich konsequent und rigide durchgesetzt wie in Chile. Er zeitigte einerseits die immer wieder kolportierten sozialen Folgen, anderseits könnte man aber auch angesichts der heutigen Situation Chiles argumentieren, dass die neoliberalen Reformen offenbar sehr erfolgreich waren, da das Land momentan mit den höchsten Entwicklungsstand Lateinamerikas aufweist.

 

Belegt werden kann dies an den makroökonomischen Rahmendaten, am Human Development Index, aber auch an der erstaunlichen Resistenz, die die chilenische Wirtschaft gegenüber den Krisen der 90er Jahre gezeigt hat. Kann Chile also als Vorbild für andere Staaten gelten, ist das Modell übertragbar und sind die heutigen Erfolge wirklich dem Neoliberalismus zuzuschreiben? Eine nicht zu vernachlässigende Frage ist außerdem, welche Rolle die Regimeform für die Umsetzung der Reformen spielte und welche strategischen Veränderungen sich ergaben.

 

Theoretische Grundlagen des Neoliberalismus in Chile

 

Nur wenige theoretische Konzepte wurden so kontrovers diskutiert und so häufig als politischer Kampfbegriff eingesetzt wie der Neoliberalismus . Im Folgenden soll kurz dargestellt werden, was unter dem „neoliberalismo criollo“ , der spezifisch chilenischen Version des Neoliberalismus zu verstehen ist. 1990 nannte John Williamson das gängige Maßnahmenpaket der Strukturanpassungsprogramme der 80er Jahre „Washington Consensus“ und prägte damit einen Begriff der nahezu synonym mit Neoliberalismus verwendet wurde bzw. dessen inhaltliche Komponenten betraf. Er bezog sich auf die Einigung verschiedener in Washington ansässiger, internationaler Finanzinstitutionen wie der Weltbank, dem IWF oder der Inter American Development Bank (IADB), aber auch der zuständigen US Regierungsbehörden. Die chilenischen Reformen jedoch begannen bereits deutlich früher und bedürfen daher einer anderen Betrachtung.

 

Der Neoliberalismus Chiles hat seine theoretischen Grundlagen in den Arbeiten von Hayeks und Friedmans an der Universität von Chicago. 1956 schloß die Universidad Católica in Santiago ein Austauschabkommen mit der School of Economics der Universität von Chicago, das die Teilnahme chilenischer Studenten an Postgraduiertenprogrammen und die Lehrtätigkeit von Professoren aus Chicago in Chile beinhaltete. Die Teilnehmer dieses Programms wurden später als „Chicago Boys“ bezeichnet, aus ihnen rekrutierten sich zahlreiche einflussreiche Protagonisten der neoliberalen Reformen Chiles. Das verbindende Element dieser Gruppe war ihre extrem liberale Ausbildung und die daraus resultierende „ideologische“ Homogenität. Da viele Teilnehmer des Austauschprogramms später als Professoren an chilenischen Universitäten tätig waren, verbreiteten sich zunehmend liberale Ideen unter chilenischen Ökonomen. Ihr Denken war im wesentlichen darauf konzentriert die Ineffizienzen staatlicher Verwaltung durch die Marktkräfte zu kompensieren. Deshalb spielten politische und soziale Überlegungen auch nur eine untergeordnete Rolle. Es handelte sich vielmehr um eine nahezu ausschließlich ökonomisch ausgerichtete Theorie, die den Marktkräften oberste Priorität einräumte und diese als primären gesellschaftlichen Regelungsmechanismus ansahen. Politische Faktoren spielten nur insofern eine Rolle, als man an der bestmöglichen Umsetzbarkeit der Reformen interessiert war, also an einem politischen best practice. Dem Staat sollte dabei nur die Rolle eines Nachtwächterstaates zukommen, der die Rahmenbedingungen für das Wirken der Marktkräfte zu sichern hatte.

 

Die Militärdiktatur Pinochets bot nahezu ideale Vorraussetzungen, um ein ökonomisches Experiment unter realen Bedingungen mit geringen politischen Hindernissen durchzuführen. Ein prominentes Mitglied der „Chicago Boys“ , Sergio de Castro war sogar der Ansicht „[...], dass die wirkliche Freiheit der Person nur mit einer autoritären Regierung garantiert wird, die die Macht mittels Normen ausübt, die für alle gleich sind“.

 

Persönliche und politische Freiheit, so die unter den Chicago Boys vorherrschende Interpretation, sei nur in Abhängigkeit von wirtschaftlicher Freiheit möglich. Da diese speziell unter Allende nicht vorhanden war, konnten sie die Diktatur als notwendige Vorraussetzung und somit als freiheitsschaffend ansehen. In diesem Sinne ist Neoliberalismus also als extremer Liberalismus zu bezeichnen, dessen politische und ethische Komponenten in den Hintergrund getreten sind. Soziale Aufgaben sollten der Verantwortung der Individuen überlassen werden. Die sozialen Folgen und die große Zahl von Unternehmensbankrotten wurden als natürliche, evolutionäre Folgen der vorherigen „Misswirtschaft“ und „Fehlentwicklungen“ interpretiert: „[...] die, die zugrunde gehen müssen, werden zugrunde gehen. [...] So ist der Urwald der Ökonomie. Ein Urwald voller wilder Tiere, in dem jeder seinen Nächsten tötet, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Das ist die Wirklichkeit.“ (Admiral Merino).

 

Autoritärer Neoliberalismus unter Pinochet

 

Bis 1973 herrschte in Chile, wie in den meisten anderen lateinamerikanischen Staaten, das Paradigma der importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) vor. Politik und Wirtschaft waren korporatistisch eng miteinander verknüpft, der Staat übernahm eine aktive Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft, was weitgehend den Erwartungen der Bevölkerung entsprach.

 

Bereits unter der Regierung Frei (1964-1970) erlangten zwar einige in Chicago ausgebildete Ökonomen gewissen Einfluß, sie versuchten aber nicht Veränderungen an der prinzipiellen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik vorzunehmen, sondern eher graduelle Anpassungen innerhalb eines staatszentrierten Paradigmas. Durch das sozialistische Experiment Allendes (1970-1973) verloren diese liberalen Ökonomen allerdings wieder an Einfluss, bis zum Militärputsch vom 11. September 1973. Gleichwohl hatten bereits 1972 einige Ökonomen der Universidad Católica in Zusammenarbeit mit Hernán Cubillos, dem Beiratspräsidenten der einflussreichen Tageszeitung El Mercurio in Antizipation eines Militärputschs gegen Salvador Allende begonnen, ein alternatives, neoliberales Wirtschaftsprogramm, den sogenannten „ladrillo“ auszuarbeiten.

 

Da jedoch zu Beginn wenig Einigkeit innerhalb des Militärs über die weitere Vorgehensweise herrschte und die für die Wirtschaft zuständige Marine um internationales Renommee bemüht war, wurden zunächst unter anderem einige ehemalige Mitglieder der Regierung Frei beauftragt, die Wirtschaft umzugestalten und die Reformen Allendes rückgängig zu machen. Die Hauptaufgabe war das Eindämmen der Inflation und der schweren Wirtschaftskrise vor dem Hintergrund nahezu aufgebrauchter Auslandsreserven. Erst mit einer Grundsatzerklärung (Declaración de Principios) am 11. März 1974 machte die Militärjunta endgültig klar, dass sie sich nicht als zeitlich begrenzte Übergangsregierung sah, sondern ein sehr viel ambitionierteres Projekt verfolgte: Die Gründung eines „neuen“ Staates, die Schaffung eines neuen institutionellen Rahmens und die grundlegenden Umgestaltung der chilenischen Mentalität. Das Ziel war eine Neuordnung der Beziehungen zwischen Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und zwischen den Individuen. Da zu Beginn die Herrschaftssicherung und Konsolidierung im Mittelpunkt stand, verzichtete man auf ein wirtschaftliches Schockprogramm, um keine Proteste zu provozieren, bei gleichzeitiger massiver Repression mobilisierter Gruppen der Gesellschaft. Das Ergebnis war eine wenig kohärente liberale wirtschaftspolitische Strategie und ein Konflikt zwischen dem gemäßigt liberalen Minister für wirtschaftlichen Wiederaufbau Raúl Sáez und der Planungsbehörde ODEPLAN, die größtenteils mit in Chicago ausgebildeten Ökonomen besetzt war. Es wurden beispielsweise Preiskontrollen aufgehoben, Deregulierungen und Privatisierungen eingeleitet, aber gleichzeitig auch der Arbeitsmarkt einer massiven Kontrolle unterzogen.

 

Die Wirtschaftskrise 1975 stellt einen Wendepunkt in der ökonomischen Strategie des autoritären Regimes dar: die Ölpreissteigerung des Jahres 1974 und der Verfall des Kupferpreises machten deutlich, dass die graduellen Anpassungen nur wenig Erfolg hatten und die chilenische Wirtschaft noch immer extrem von externen Faktoren abhing. Inflation und Arbeitslosigkeit waren wieder etwa auf demselben Niveau wie zum Zeitpunkt des Putschs 1973.

 

Die Repression war durch den Geheimdienst DINA (Dirección Nacional de Inteligencia) so weit systematisiert worden, dass nun selbst die Durchführung unpopulärer Schockmaßnahmen politisch möglich erschien. Die Zustimmung zu einem wirtschaftlichen Schockprogramm wuchs aber auch wegen der Krise und unterstützt durch die große Medienpräsenz von neoliberalen Wirtschaftspolitikern der Chicago Boys stark an. Ihr Einfluss hatte durch die Ernennung Sergio de Castros zum Wirtschaftsminister zugenommen. Gleichzeitig zogen sich Berater aus dem Spektrum gemäßigt rechter Parteien sukzessive zurück und wurden durch Mitglieder der Chicago Boys ersetzt. Das Schockprogramm bestand aus drastischen Ausgabenkürzungen bei staatlichen Investitionsprogrammen und Subventionen. Die Märkte wurden mit Ausnahme des Arbeitsmarktes dereguliert, Zollbarrieren abgebaut, und ausländische Direktinvestitionen erleichtert. Die staatliche Entwicklungsagentur CORFO wickelte die Privatisierung der großen Mehrzahl der vorhandenen Staatsunternehmen, vor allem der unter Allende enteigneten Betriebe und Ländereien ab: 1980 waren von vormals über 400 Staatsbetrieben noch 24 Firmen unter der Verwaltung von CORFO verblieben.

 

Die Privatisierungen erfolgten meist weit unter Preis und können deshalb als Zugeständnis oder indirekte Subvention für den Geschäftssektor verstanden werden. Mit Banken mit staatlicher Beteiligung verfuhr man auf ähnliche Weise: Die Staatsanteile wurden verkauft und die Beschränkungen für ausländische Investoren aufgehoben. Die Freigabe der Zinssätze ließ diese von 9,6% auf 20% steigen. Als Reaktion auf die Anpassungsmaßnahmen fiel die chilenische Wirtschaft 1975 in eine tiefe Rezession: der Peso verlor 40% seiner Kaufkraft und die industrielle Produktion ging um 28% zurück (Tabelle). Von diesen Entwicklungen waren alle Sektoren der Wirtschaft betroffen, besonders aber die kleinen und mittleren Unternehmen sowie die landwirtschaftlichen Kleinbetriebe, die unter Allende Land erhalten hatten. Viele von ihnen gingen bankrott oder mussten ihr Land verkaufen.

 

Ab 1979 waren die Militärs der Ansicht, dass die wirtschaftliche Umstrukturierung abgeschlossen sei und nun das eigentliche Modernisierungsprojekt beginnen konnte. Damit war vor allem der angestrebte Mentalitätswandel und die Neudefinition der Beziehungen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gemeint. Zur weiteren Inflationsbekämpfung und Stabilisierung wurde der Wechselkurs, nach seiner Abwertung fest an den Dollar gebunden. Die bisherigen Maßnahmen und deren Folgen wurden als notwendige Vorbedingungen für den Erfolg der geplanten Modernisierung betrachtet. Die Marktkräfte waren wie angekündigt immer mehr zum zentralen Ordnungs- und Steuerungsmechanismus geworden, was sich in der Verfassung des Jahres 1980 deutlich widerspiegelt. Die Verfassung verfestigte die institutionelle Neuordnung, sie schränkte die Möglichkeiten staatlicher Intervention in der Wirtschaft stark ein und konsolidierte so das neoliberale System. In den Übergangsartikeln der Verfassung war für 1988 ein Referendum Vorgesehen, das über die weitere Regierung Chiles entscheiden sollte.

 

Neben den Menschenrechtsverletzungen geriet die strikte Kontrolle der Arbeitsmärkte in den Fokus internationaler Kritik und wurde schließlich unter anderem durch den Druck eines Handelsembargos mit dem in Teilen schon vorher ausgearbeiteten Plan Laboral 1979 abgemildert. Dieser erlaubte in beschränktem Umfang Streiks und allerdings noch immer sehr begrenzte Kollektivverhandlungen. Da der Plan Laboral im wesentlichen die Rechte der Arbeitgeber stärkte, wurde er von Gewerkschaftsseite scharf kritisiert. Die zunehmende Dominanz Pinochets innerhalb der Militärjunta eröffnete den mit ihm eng verbundenen Ökonomen die Möglichkeit der Reform des Pensionssystems hin zu einem privat finanzierten Modell, das nahezu jeglicher redistributiven Funktion entbehrte – ausgenommen davon blieben sowohl Polizei als auch Streitkräfte. Deren Mitglieder hatten die Wahl zwischen der Beibehaltuing des alten Systems und dem Wechsel zum neuen. Man erhoffte sich von der Reform des Pensionssystems, das alte, als diskriminierend und rentistisch angesehene Sozialsystem grundlegend zu reformieren und die Sparquote drastisch zu erhöhen. Der politische Hintergrund war die Schaffung eines Konsenses über den Weg und die Ziele der weiteren chilenischen Entwicklung und durch zunehmende Individualisierung, die Zivilgesellschaft und potentielle Opposition zu zersplittern und zu schwächen.

 

Einen weiteren Einschnitt im Verlauf der neoliberalen Transformation Chiles markiert die Schuldenkrise des Jahres 1982. Sie zeigte die noch immer hohe Anfälligkeit der chilenischen Wirtschaft und wie wenig die Reformen daran geändert hatten. Chile wurde von der Krise getroffen ähnlich hart getroffen, wie Länder, die etatistischen Paradigmen anhingen. Infolge der Auswirkungen der Krise sah sich die Regierung gezwungen von den Chicago Ökonomen abzurücken und Strategieanpassungen vorzunehmen, um den Interessen konservativer Kräfte in der Unternehmerschaft gerecht zu werden. So wurden erneut Schutzzölle eingeführt, die der neoliberalen Logik freier Märkte diametral gegenüberstehen. Die Privatisierung verbliebener Staatsbetriebe und die Umstrukturierung des Landwirtschaftssektors wurden forciert, um einflussreichen Kräften entgegen zu kommen. Diese Privatisierungen betrafen in erster Linie Großunternehmen, die zum Teil seit den 40er Jahren der Verwaltung von CORFO unterstanden. Zusätzlich war nahezu alles von Allendes Landreform betroffene Land, in privaten Besitz übergeben worden, allerdings nicht in die Hände von Kleinbauern. Vielmehr versuchte man eine Landwirtschaftsindustrie in verschiedenen als lukrativ erachteten Sektoren aufzubauen, wie etwa dem Wein- und Obstanbau, der Lachszucht, Zelluloseproduktion und des Holzanbaus.

 

Bis zum Ende des Militärregimes war von da an eine pragmatischere Wirtschaftspolitik an der Tagesordnung. Pinochet war zwar gezwungen, von den extrem liberalen Ökonomen abzurücken, änderte jedoch an der prinzipiellen Ausrichtung wenig. Sozialausgaben wurden weiter gekürzt, Steuern gesenkt und der Haushalt konsolidiert. Die Zölle wurden nach einer Übergangsphase ebenfalls wieder nach unten korrigiert und es setzte ein aktives Wechselkursmangement ein, das den Erfordernissen der chilenischen Wirtschaft entgegen kam. Die Folgen waren hohes Wirtschaftswachstum, ein Exportboom, der Rückgang von Inflation und Arbeitslosigkeit, aber auch stagnierende Reallöhne. Dieser pragmatische Neoliberalismus muss sicherlich auch vor dem Hintergrund des Referendums von 1988 gesehen werden, bei dem sich die Mehrheit der Chilenen gegen eine Verbleib Pinochets an der Macht aussprach.

 

Die demokratische Phase ab 1990

 

Seit 1990 hat sich zwar die prinzipielle Ausrichtung der chilenischen Wirtschaftspolitik nicht grundlegend verändert, substantielle Anpassungen haben aber dennoch stattgefunden. Die Regierungen der Concertación de Partidos Por la Democracia (CPPD) legten sehr viel größeren Wert auf sozialen Ausgleich und erkannten eine aktive Rolle des Staates in der Wirtschaft an, um so ein liberales Modell nachhaltiger zu legitimieren.

 

Dies bedeutet keineswegs eine Rückkehr zu alten etatistischen Vorstellungen, sondern den Versuch die Schwächen des liberalen Modells zu korrigieren. Dieser Lernprozess beschränkt sich jedoch nicht auf die Regierung: es bildete sich ein gesellschaftlicher Konsens heraus über die einzuschlagende Entwicklungsrichtung, der jenseits alter korporatistischer Verflechtungen besteht. Zentrale Elemente dieses Konsenses sind das Bekenntnis zur Marktwirtschaft und zur aktiven Weltmarktintegration, aber auch die lange vernachlässigten Aufgaben des Staates etwa im Bereich der Sozial- und Bildungspolitik, ebenso bei der Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. Eine eingehendere Darstellung der Wirtschaftspolitik unter demokratischen Vorzeichen muss an dieser Stelle unterbleiben. Mit Blick auf die Tabelle wird jedoch deutlich, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren im Verlauf der 90er Jahre trotz schwerer internationaler Krisen konstant verbesserten. Auffällig ist vor allem die Halbierung der Armutsquote. Obwohl die Sozialausgaben deutlich anstiegen, konnte das makroökonomische Gleichgewicht aufrechterhalten werden.

 

Modellfall Chile oder Sonderweg?

 

Als Musterland kann Chile im lateinamerikanischen Kontext zumindest insofern gelten, als es in der Lage war, seine Exportstruktur soweit zu diversifizieren, dass selbst wirtschaftliche Krisen wie die Russland- oder die Asienkrise zwar nicht ohne Effekt blieben, aber doch sehr viel geringere Auswirkungen hatten als etwa in Argentinien oder Brasilien. Die Wachstumsraten der chilenischen Wirtschaft der 90er Jahre weisen außerdem darauf hin, dass es offenbar gelungen ist, eine bislang relativ stabile Entwicklung zu generieren. Chile hängt allerdings noch immer hauptsächlich vom Export von Primärgütern mit geringer Verarbeitungstiefe und damit von wenig dynamischen Sektoren des Weltmarkts ab. Sowohl die relative Krisenresistenz als auch die geringe technische Entwicklung lassen sich auf die „neoliberale Revolution“ der 70er und 80er Jahre zurückführen: einerseits wurde in dieser Zeit die radikale Integration in den Weltmarkt begonnen, die noch heute prägend ist, andererseits beruhte diese nur in geringem Umfang auf technologischem Fortschritt und der Herausbildung von Humankapital, wie in den ostasiatischen Tigerstaaten, sondern auf der Konzentration auf komparative Vorteile, also auf den ebenfalls noch heute prägenden Primärgüterexporten. Die Schockprogramme führten nicht nur zu gravierenden sozialen Folgen, sondern behinderten in diesem Zeitraum auch das entstehen systemisch wettbewerbsfähiger Strukturen und innovativer kleiner und mittlerer Unternehmen. Nicht vernachlässigt werden dürfen auch die ökologischen Folgen der Industrialisierung der Landwirtschaft: die Lachszucht, die Holzwirtschaft im Süden oder der Obst- und Weinanbau in der Region um Santiago weisen die typischen Probleme monokultureller Bewirtschaftung auf und stellen neben den ökologischen Problemen auch eine schwere Belastung für den Exportsektor dar, da sie mit internationalen Umweltstandards kollidieren.

 

Die Reformen konnten in ihrer Radikalität nur deshalb durchgesetzt werden, weil sie von Mitte der 70er Jahre bis Mitte der 80er Jahre die uneingeschränkte Rückendeckung des Militärregimes genossen und von einer ideologisch extrem homogenen Technokratengruppe implementiert wurden. Das Militärregime und seine Koalition mit den Chicago Ökonomen kann deshalb als entscheidende Erfolgsbedingung angesehen werden. Die zum Teil wenig kohärente und bisweilen sogar opportunistische Wirtschaftspolitik unter Pinochet zeigt aber auch die große politische Belastung, die aus den neoliberalen Reformen entstand. Inwiefern diese Reformen unter demokratischen Vorzeichen hätten durchgeführt werden können, ist fraglich, zumal sie von jahrelanger massiver Repression und gezielter Öffentlichkeitsarbeit durch regimetreue Medien unterstützt wurden. Somit ist also weniger der erfolgreiche Neoliberalismus für Chiles heutige Position verantwortlich als vielmehr der gesellschaftliche Konsens, der mit autoritären Mitteln geschaffen wurde und die darauf aufbauende Kohärenz der Wirtschaftspolitik auch nach der Redemokratisierung.