Mexiko jenseits der Einsamkeit

Perspektiven vor und nach Tlatelolco (II. Teil)

von Vittoria Borsò

In seinem schon 1943, also sieben Jahre vor Octavio Paz´ El laberinto de la soledad erschienenen Roman El luto humano ironisierte José Revueltas das mythische Modell der Geschichte Mexikos. Er zeigte, daß dieses Modell auf einem exotistischen Blick gründet und legte die Aporien der defizitären Identitätsbildung Mexikos sowie die Erstarrung der mexikanischen Gesellschaft offen. Es ist auffällig, daß Octavio Paz den Roman Revueltas schon in einem Kommentar von 1943 als „handwerklich schlecht“ abgetan hatte und erst nach dem Tod des Autors im Jahre 1973 dessen schriftstellerische Qualität eingestand. Dieses diskursive Ereignis prägte die Revueltas-Forschung. Erst nach seinem Tod wurde dem Autor internationale Aufmerksamkeit zuteil.

 

Schon zu Beginn des Jahrhunderts bestand mit dem Ateneo de la Juventud eine ‚kosmopolitische‘, humanistische Orientierung, hervorgegangen wohl nicht zuletzt aus der notwendigen Kritik an der Huldigung des Positivismus durch die Científicos in der Regierung von Porfirio Díaz. Die Mitglieder des Ateneo, jene Intellektuellen, die kurz vor der Revolution intensive kulturhistorische und wissenschaftliche Studien bereitstellten, betrachteten sich als die ‚Griechen‘ Mexikos. Ihre Identitätsentwürfe, etwa in La raza cósmica (1925) von Vasconcelos, gingen zweifelsohne in die nationalistische Formel der mexicanidad ein. Die poetischen Essays von Alfonso Reyes allerdings enthalten durchaus provokative Aspekte. So konzipiert Reyes mestizaje - insbesondere im letzten Abschnitt seiner Visión de Anáhuac von 1915 - als ein interkulturelles Phänomen im Sinne heutiger Kulturkontaktforschung. Dies wurde nicht zuletzt deswegen verkannt, weil Octavio Paz in seinem maßgeblichen Essay die tragische Einsamkeit des Mexikaners zum hermeneutischen Schlüssel für die internationale Rezeption der mexikanidad machte. Die Tragweite des Denkens von Alfonso Reyes wurde so erst durch diejenigen Begriffe kultureller Pluralität zugänglich gemacht, die von der Vorstellung der Otredad weg führen.

 

In Visión de Anáhuac (1915) ist die kulturelle Alterität nicht nur eine semantische Figur. Sie wird vielmehr zum Prinzip der Diskursstrategie und der Architektur des Essays. Eine der meist rezipierten Vorstellungen dieses Essays ist die einer Vereinigung der präkolumbisch-indianischen Seele mit der des modernen Mexikaners, woraus sich u.a. die Interpretation von Alfonso Reyes als einem der Urheber der Mestizierung ableitet:

 

”Nos une también”, so Reyes, ”la comunidad mucho más profunda, de la emoción cotidiana ante el mismo objeto natural. El choque de la sensibilidad con el mismo mundo labra, engendra un alma común.”

 

Gegen die These der ‚mestizierten Seele‘ des Mexikaners, die sich die Parteidemagogik zueigen gemacht hat, gilt es folgendes hervorzuheben:

 

Reyes entwickelt mit Hilfe einer der Gattung eigenen Dialektik eine Vielperspektivik, die sich ihm aufdrängt, wenn er auf das Tal von Anáhuac schaut. Sein Blick wird von einer Reihe von „cultural negotiations“ (Greenblatt) geleitet, die sich aus den Kontaktphänomenen zwischen Azteken, verschiedenen anderen prähispanischen Völkern und Spaniern sowie aus den Intertexten, ‚Über-Setzungen‘ und Vermittlungen zwischen verschiedenen Kulturen und historischen Epochen ergeben. Der Blick des Historikers begegnet bei der geschichtlichen Betrachtung all diesen Vermittlungen. Entsprechend gestaltet Reyes auch die Architektur des Essays: Durch die Fiktion personaler Erzähler inszeniert er in den drei Teilen des Essays drei verschiedene historische Zeiten. Im einführenden Teil wird die Perspektive von Konquistadoren, Kolonisatoren und Reisenden gewählt. Der Ausgangspunkt ist nicht die direkte, sinnliche Wahrnehmung der Natur um die Stadt Mexiko, sondern es sind die Berichte, insbesondere die barocken Drucke, in denen die ‚wunderbare‘ Vegetation von Anáhuac erstmalig für europäische Augen dargestellt wird: „Deténganse aquí nuestros ojos: he aquí un nuevo arte de naturaleza“. Naturbeschreibung als Grundlage einer neuen Kunst bedeutet somit für Reyes nicht die exotische Savanne eines Chateaubriands - oder später eines real maravilloso -, sondern die Überlagerung der eigenen Sicht durch die Visionen der fremden Reisenden, die das Tal jeweils von der Höhe der umliegenden Berge zum ersten Mal sahen: so etwa Alexander von Humbolds Betrachtung der Lichtspiele in der Hochebene, die deswegen den Namen „la región más transparente“ erhielt.

 

Reyes versucht, sich den Augenblick der ‚Geburt‘, d.h. des Zusammentreffens der Konquistadoren mit dem phantastisch anmutenden Glanz von México-Technotitlán im Tal von Anáhuac vorzustellen. In dem Maße, in dem der Text die Kultur der Stadt, d.h. den Prunk des Herrschers, aber auch die Pluralität, Ordnung und Pracht der Märkte (Teil II) sowie die ästhetische Tradition der Azteken (Teil III) vivide zu schildern vermag, distanziert sich der Autor von einer mimetischen Darstellung des Mestizen:

 

”El poeta ve, al reverberar de la luna en la nieve de los volcanes, recortarse sobre el cielo el espectro de Doña Marina, acosada por la sombra del Flechador de Estrellas [...] o piensa que escucha, en el descampado, el llanto funesto de los mellizos que la diosa vestida de blanco lleva a las espaldas: no le neguemos la evocación, no desperdiciemos la leyenda.”

 

Am Schluß des Essays läßt Reyes die beiden Sichten zusammenkommen: die alte Welt mit der Legende der Doña Marina und die neue Welt mit dem Mythos der Artemis treffen aufeinander in der Imagination desjenigen, der seinen Blick auf die Hochebene richtet. Dieser Blick tritt nicht unmittelbar in Kontakt mit der Welt. Vielmehr ist er abhängig von den Traditionen und von den Intertexten, die ihn steuern und die Wahrnehmung mitbestimmen. Im ganzen Essay bleiben der Indio und die aztekische Welt als Erkenntnisobjekt unerreichbar. Ihre ‚Essenz‘ und ihre historische Wahrheit sind nur noch als visión rekonstruierbar, weil jener Augenblick der Conquista in die vielen Formen der Annäherung an eben diese Welt einging. Die Metapher des Mestizen meint für Reyes nicht eine inhaltliche Charakterisierung der Menschen oder der Kultur, sondern vielmehr eine durch die Erinnerung und die Kulturbegegnungen durchsetzte multiperspektivische Sichtweise. In seinem ‚poetischen‘ Essay verwirklicht Reyes dieses Prinzip, z.B. durch Einschiebung der Perspektiven der cronistas; diese kommen teilweise durch direkte Zitate zur Sprache, so z.B. wenn der Enthusiasmus für die indianische Kultur an der emotionellen Begegnung mit dem Fremden illustriert werden soll.

 

Die Eigenheit des Mestizen kann nur noch als „mirada que mira la mirada“ verstanden werden, d.h. als Konstruktion der Blicke. Reyes entdeckt hier bereits die rhetorische Natur von Geschichtsschreibung, so wie er in weiteren Essays auf das Hybride als Kulturmodell vorgreift. In "Lo méxicano y lo universal" aus dem Jahre 1932 ironisiert er die nationalistische Auslegung der mexicanidad, die er mit dem jibarismo, der nationalistischen Form des Kostumbrismus, vergleicht und womit er die schwerwiegenden Folgen eines sich auf Nationalkunst berufenden Identitätsdiskurses offenlegt. Mit der kulinarischen Metapher erzielt Reyes eine Öffnung auf die Gesamtkultur und eine Überwindung ausgrenzender Identitätsdefinitionen. So zeigt er, daß das mögliche ‚Neue‘ der Weltkultur nicht durch Negation vergangener, aus Europa stammender Traditionen erreicht wird. Vielmehr entsteht die Kultur als Aneignung, eine Aneignung, die wie die ”mexikanischen Gewürze“, aus dem Angeeigneten etwas Neues hervorbringt. Die ‚mexikanische‘ Verknüpfung der assimilierten Kulturelemente ist derart heterogen, daß die ‚ursprünglichen’ Elemente als solche ihre Identität verlieren. Als kulturelles (nicht ‚politisches’) Phänomen ist die Conquista nicht durch die Polarität zwischen ‚vencidos’ und ‚vencedores’ zu begreifen, sondern sie stellt ein kreatives Moment der wechselseitigen Produktion des Neuen dar. Reyes sucht nicht eine Bejahung des Mestizen. Er kritisiert vielmehr die Vorstellung, es gebe einen authentischen Ursprung der mexikanischen Kultur. Während also Paz 1950 - mit der Figur der Malinche - indirekt eine puristische und elitäre Interpretation von Kultur vermitteln wird, in der die Übersetzung unter dem Verdacht des Verrats steht und in der eine Hierarchie zwischen Original und Kopie festgelegt wird, konzipiert Reyes bereits Jahre zuvor eine multiperspektivische (kosmopolitische) Vision der Kultur. Paz muß diese Vision unterschlagen, um seine eigene Konzeption einer Öffnung gegenüber der universalen Kultur und einer Internalisierung der Deutung Mexikos als Neuerung auszugeben.

 

Bereits vor diesem Hintergrund wird die puristische und elitäre Kulturinterpretation selbst den Texten vor Tlatelolco nicht gerecht. Dies läßt sich in exzellenter Weise auch am Beispiel von Juan José Arreola skizzieren, dem Klassiker der zeitgenössischen mexikanischen Erzählung.

 

Auch Arreola behandelt die diskursive und perspektivische Komplexität der (mexikanischen und universalen) Kulturpluralität, und zwar insbesondere, wenn er ‚typisch Mexikanisches‘ beschreiben möchte. Ein herausragendes Beispiel ist die Erzählung ”Ajolote”, bei der es dem Erzähler darum geht, zu bestimmen, was ein Axolotl ist. Das Axolotl ist zwar ein ‚rein mexikanisches‘ Tier, ein authochtones Geschöpf. Doch erst Alexander von Humboldt entdeckte es im Texcoco-See und brachte es nach Paris. Wir sehen das mexikanische Tier, doch ist das Wesen, dem wir begegnen, überlagert von den Texten und den kulturellen Transferprozessen, die seit Humboldts Entdeckung am Tier haften.

 

Konsequenterweise wird das Tier nicht unmittelbar, sondern aus dem Blickwinkel der anderen und durch die Montage von Zitaten anderer Texte beschrieben. Das Tier wird - als lateinamerikanisches Emblem - zum Ort des Austauschs der Blicke zwischen der alten und der neuen Welt, zwischen dem Angeschauten und dem Anschauenden, ein Prinzip, das auch in Julio Cortázars Erzählung ”Axolotl” prägnant analysiert ist.

 

Die Geschichte Lateinamerikas und ihrer Literatur ist das Resultat von wechselseitigen Blicken über den Ozean. Eine der sich daraus ergebenden Einsichten betrifft die Kritik des kulturellen Purismus ebenso wie den Mythos der reinen Muttersprache und ihres symbolischen Wertes und damit der Oppositionen, deren Gültigkeit in der atemporalen Gegenwart des Labyrinths der Einsamkeit beobachtet wurden. Erst wenn wir fähig sind, die anderen Stimmen und die Stimmen der anderen Autoren jenseits des Labyrinths zu hören, können wir die tragische Einsamkeit in unserer Sicht über die mexikanische Kultur überwinden.

 

Das Ausharren im Labyrinth der Einsamkeit

 

Wie die Frankfurter Buchmesse von 1992 gezeigt hat, liegt die Kultur in Mexiko in „der Hand einer dem System ergebenen Bourgeoisie, die nur die Hohlformen ihrer Repräsentanz reproduziert, die Klischees von Mexiko verfestigt, gegen die ja seine Schrifsteller in Frankfurt der lebendige Gegenbeweis sein sollten“ - so lautete die Bilanz von Hans-Jürgen Schmitt in der Frankfurter Rundschau (5.10.92). Noch heute gibt es Anzeichen dafür, daß die offizielle Kultur ganz im Gegensatz zur cultura popular und zur contracultura als Handlanger der zentralistischen Organisation fungiert. Marta Robles, eine anerkannte Historikerin, publizierte 1993 eine Essaysammlung mit dem vielversprechenden Titel "Espiral de voces". Anders, als es dieser Titel erwarten läßt, geht ihr Ziel konform mit der Geschichtsphilosophie von Octavio Paz. Robles möchte die mexikanischen „Stimmen“ vom Ursprung bis zum heutigen Tag interpretieren und nimmt sich vor, die Vergangenheit gegen die Teleologie der Geschichte zu rekonstruieren. Ihre Studie ist ein Lobgesang auf die mestizaje. Die Autorin untersucht zwar weniger bekanntere ‚regionalistische‘ Schriftsteller und subversivere Autoren wie z.B. Ricardo Garibay, ihre Analysen sind jedoch von der Suche nach Authentizität geleitet, die aus einer mythischen Autorenstimme (betont durch den Majuskel in Voz) entstehen soll. Diese ist gedacht als Stimme der mexikanischen Kultursynthese, als Stimme des auch politisch erfolgreichen Mestizen, die sich von ‚unauthentischen‘ Stimmen unterscheidet (hervorgehoben durch die Kleinschreibung von voces). Während die mythische Stimme der Mestizierung der ursprünglichen Sprache Gottes entsprechend imaginiert ist, erscheinen die kleingeschriebenen voces als unvollkommenes Gestammel, „balbuceo“, behaftet mit dem Makel der babylonischen Verwirrung der zweiundfünfzig indianischen Sprachen. Die Eroberung, so die Argumentation Robles, führt zur Auflösung des babylonischen Sprachenchaos und zur Überwindung der „balbuceos naturales del habla“; die mestizierte Sprache gibt sich zu erkennen als „voz y pausa entre la magia y lo real“, als „idioma en pleno despertar [...] que permite reconocer y diferenciar“. Mit der Rückkehr zur ursprünglichen Voz, so die Vision der Autorin, kann die Sprache der Mestizen die Utopie des göttlichen Verbum (Verbo ist ebenfalls durch Großschreibung markiert) und den Schöpfungstraum des „Ser de América“ vollenden. Dergestalt reaktualisiert Marta Robles die mythologischen Grundlagen der nationalistischen Demagogie und einer touristischen Betrachtung Mexikos, die in der Boom-Literatur übernommen wurden.

 

Mündlichkeit hat hier den romantischen Status einer mythopoetischen Kraft, die fähig ist, das babylonische Schicksal der Sprache zu überwinden und zum paradiesischen Ursprung eines authentischen Seins zurückzuführen.

 

Diese Vorstellung der Mündlichkeit knüpft erneut an Positionen des Indigenismus und an die Idee des Magischen Realismus aus dem Kreise der Boom-Literaten an; sie mag damit die Zustimmung der kanonischen Literaturwissenschaft erhalten. Der konkreten Literatur, die ”indigenistisch“ oder „magisch-realistisch“ genannt worden ist, vermag sie sich jedoch kaum zu nähern. Auch vor Tlatelolco nämlich gibt es Dimensionen jenseits der Einsamkeit in der mexikanischen Kultur. Monsiváis hat diese Dimensionen im Hinblick auf das subversive Potential des Ludischen, das das Volk Mexikos auszeichnet, gedeutet und in einer Anthologie mit dem Titel "Lo fugitivo permanente" (1989) vorgestellt, die u.a. Erzählungen von Eraclio Zepedo, dem mit Rulfo verglichenen cuentista aus Chiapas, enthält. Dieses subversive Potential möchte ich am Beispiel einer im Band Montsiváis´ enthaltenen Erzählung selbst skizzieren; es handelt sich um „Anacleto Morones” (El llano en llamas) von Juan Rulfo.

 

Eine Handlung ist in „Anacleto Morones“ praktisch nicht vorhanden bzw. sie läßt sich in der folgenden Kürze resümieren: ‚Indianische‘ Frauen besuchen Lucas Lucatero, den Erzähler, einen zum Einsiedler gewordenen, ehemaligen ‚Macho‘, um ihn dazu zu bewegen, als Zeuge beim Verfahren der Seligsprechung des früh verstorbenen Niño Anacleto aufzutreten. Weitere Ereignisse finden nicht statt. Den zentralen Gegenstand der Erzählung bilden die Gespräche zwischen den Frauen und Lucas. Das Sprechen der ersteren stellt sich als inkohärentes Alltagsgerede dar, welches die Handlung verlangsamt, ja verhindert: die Versuche von Lucas, den Frauen zu entgehen, scheitern. Die ständigen Digressionen der Frauen, die die Handlung arretieren, verunsichern den Macho. Während des scheinbar unsinnigen Konfabulierens rechnen die Frauen mit dem ehemaligen Don Juan ab (und Rulfo mit dem mexikanischen Machismo). Die letzten, die Erzählung abschließenden Sätze der Frauen sind ein Wortspiel, bei dem die scheinbare Mimesis eines mündlichen Gesprächs eine für die christliche Moral subversive Botschaft enthält:

 

“Eres una calamidad, Lucas Lucatero. No eres nada cariñoso. Sabes quién sí era amoroso con una ? - Quien? - El Niño Anacleto. El sí que sabía hacer el amor.”

 

Mit einer geradezu feministischen Rhetorik arbeitet Rulfo in subversiver Weise an der Ambivalenz der Sprache. Die mittels einer hoch elaborierten Sprache erzeugte mündliche Diskursstruktur erleichtert dies, indem die Resonanzen offizieller Diskurse eingefangen und durch das scheinbar belanglose Gerede gezielt transgrediert werden. Darin verbirgt sich ein wichtiges Prinzip auch des Pedro Páramo (1955), dem Roman, der als Ausdruck der Tragik des Mexikaners nach dem Scheitern der Revolution interpretiert worden ist. Eine andere Seite dieses Romans jedoch zeugt von der Kraft des Begehrens in der Stimme der Susana San Juan sowie von der des Populären in der Stimme der Dorotea: letztere, eine Lumpensammlerin, parodiert, während sie mit Juan im Grab liegt, die eschatologische Grundlage der barocken Lyrik mit syllogistischen Prinzipien in scheinbar einfacher Sprache. Diese Seite des Romans konnte von der Literaturwissenschaft solange nicht wahrgenommen werden, wie die hermeneutischen Vorgaben der Einsamkeit des Mexikaners das Ludisch-Subversive ausgrenzten. Dabei vermag die Kraft dieser Stimmen und die der wiedererlangten Erinnerung gar den historischen Mythos des Kaziken zum Einsturz zu bringen, dessen Statue, so die letzten Worte des Romans, „se desmoronó como un montón de piedras“.

 

Solchen Stimmen gegenüber ist der Nationalismus Mexikos taub geblieben. Noch 1993 bezeichnete Martha Robles die Geschichte der mexikanischen Literatur als ein „desarrollo gradual de un ánimo defensivo del mundo vencido frente al implacable poder de los dominadores.“ Und es lassen sich weitere Beispiele für einen solch indirekt nationalistischen Diskurs finden - so etwa in der monographischen Nummer der Cuadernos Hispanoamericanos über Mexiko (März-April 1996). Gewiß sind dort unterschiedliche Positionen vertreten; hervorzuheben ist etwa die von José Alcina Franch, dem bekannten Anthropologen und Kritiker der zentralistischen Politik Mexikos und ihrer Praxis, Integration als ‚Des-Indianisierung‘ zu betreiben und damit Konflikte zu schüren, wie sie schließlich mit Chiapas explodiert sind. Eine kritische Anthropologie, so der Autor, sei in Mexiko letztlich wegen der zentralistischen und vampiristischen Regierung zum Scheitern verurteilt:

 

“Esa situación de contradicción permanente conduce a situaciones dramáticas en el orden individual del personal - antropólogos - que habiendo sido ocasionalmente muy crítico con el Estado, ha sido involucrado en la organización burócrata del mismo, lo que obliga de hecho a la ‘traición´ del viejo crítico y contradictor que, de hecho, ha sido digerido por el sistema.”

 

Aus dem einführenden Artikel von Jorge Hernández Campos mit dem Titel „México 1995: La cultura en crisis“ spricht hingegen eine offizielle Stimme. Hernández Campos hat die heikle Aufgabe, die am 1. Januar 1994 ausgebrochene soziale (und ökonomische) Krise Mexikos vor der Welt zu erklären. Er entscheidet sich dafür, auf die im 19. Jahrhundert etablierten Grundsätze der nationalen Identität zurückzugreifen und diese als zukünftigen Weg der Rettung aus der aktuellen Chiapas-Krise vorzuschlagen. Hernández Campos verweist in diesem Sinne auf zwei historische Paradigmen einer Interpretation der Independencia: das Bustamantes und das Alamáns. Ersterer, so der Autor, “deformó la historia de México”, indem er als Programm der Unabhängigkeit die Wiederauferstehung von Anáhuac vorschlug. Alamán dagegen sah den Weg zur Emanzipation in der Geburt des Mestizen. Die erste Position verbindet Hernández Campos mit dem Indigenismo auch im Sinne Mariáteguis; in der zweiten sieht er eine Entsprechung zum Modell der Mestizierung. Weiterhin erhebt er den Anspruch, die Independencia als Erbe der europäischen Aufklärung und als Anschluß an die universale Kultur zu betrachten, wobei, so seine Deutung weiter, der aufklärerische Auftrag kultureller Vernunft dem Mestizen obliege. Durch logische Schritte leitet er dann das Urteil gegen die zapatistische Bewegung Chiapas von den folgenden Grundsätzen ab:

 

“La aparición del EZLN en Chiapas significa, en términos de la realidad mexicana, la declaración de una guerra emprendida no contra el gobierno para sustituirlo por otro, sino contra la república misma, contra el ideario universal de la libertad.”

 

Auf dieser Basis schließlich kann Hernández Campos die Aufstände als Resultat des „cuidado de un obispo militante y ambicioso“ deuten und die Linken und ihre heroische Symbolfigur, den Subcomandante Marcos, als unheilbare Romantiker und Träumer vom 'guten Wilden' bezeichnen, deren Argumente von Thesen wie der des „México profundo” von Bonfil Batallas gespeist seien. Auch in diesem Artikel ist der Versuch erkennbar, die sich selbst organisierende Gesellschaft elitär abzuwerten und das Volk Mexikos als unmündig zu erklären. So benutzt der Autor jene alten, negativen Alteritätsbilder, die enstanden, als die Europäer die Anderen, die ‚entdeckten‘ und unbekannten Völker, zu definieren suchten und dem ‚Wilden‘ eine monströse Wesenheit zuschrieben:

 

“En pocas palabras, si nos atenemos a lo que fatalmente resultaría de un tal gobierno, se trataría de un monstruo que se acercaría a los altares flanqueado por dos indígenas con rifles AK-47 en las manos“.

 

Gegen eine derartige 'Barbarei' schlägt Hernández Campos erneut den Rückgriff auf die im 19. Jahrhundert mit der Independencia gefeierte Vernunft vor, ohne auch nur zu bedenken, daß manche Emanzipationsbestrebungen des 19. Jahrhunderts Vernunft mit rassenpositivistischen Ansätzen verwechselt haben.

 

Der mexikanische Nationalismus, jener Nationalismus, der sich hinter den Symbolen des Labyrinths der Einsamkeit verschleiert, ist immer noch taub gegenüber der Sprache der Populärkultur. Weil die mexikanische Elite den kritischen Stimmen in der Literatur vor und nach Tlatelolco kein Gehör schenkte, muß sie erschaudert sein, als sie am 1. Januar 1994, dem Tag, den man für den Eintritt Mexikos in die erste Welt vorgesehen hatte, von den Stimmen Chiapas geweckt wurde.