Schweigen, bis daß der Tod uns scheidet

Der Roman "Die schöne Schrift" von Rafael Chirbes

von Daniela Panteleit

Die schöne Schrift ist der Lebensbericht einer einfachen Frau, das Porträt einer Familie während und nach dem spanischen Bürgerkrieg, die Geschichte einer schweigsamen Zerstörung von Liebe, Hoffnung und Lebensentwürfen. Ana führt ein Dasein als Ehefrau, Mutter, Schwägerin und Tochter. An ihrem Lebensabend verspürt sie das Bedürfnis, ihrem Sohn alles über sich und die Familie zu erzählen. Ihre Kindheit prägt der Großvater, der seine Freude daran hat, der kleinen Ana mittels Gruselgeschichten einen Schrecken einzujagen, um darauf das verängstigte Kind in seinen Armen zu trösten. Seitdem ist Liebe für Ana mit Abhängigkeit und Angst verbunden. Aus ihrer Erzählung geht der Zusammenhalt der Familie im Bürgerkrieg hervor, die Sorge umeinander. Den durch den Krieg bedingten ärmlichen Verhältnissen entkommt die Familie durch gemeinsamen Einsatz. Doch mit der Zeit erscheinen am Horizont Konflikte, die die Familie zu zerstören drohen. Auslöser für diese Konflikte ist Anas Schwager Antonio, der nach erlittener Kriegsgefangenschaft nur schwer in ein geregeltes Leben zurückfindet und dadurch das gerade erst wiederaufgebaute Leben der Familie erschwert. Außerdem besteht zwischen ihm und Ana eine nie ganz eingestandene Anziehung, die Ana immer wieder in Gewissenskonflikte stürzt, obwohl von einer Liebesbeziehung nicht im entferntesten gesprochen werden kann.

 

Weiterhin wird die Harmonie der Familie durch die Schwägerin Gloria gestört, die immer wieder versucht, zwischen den einzelnen Familienmitgliedern Zwietracht zu säen. Das Schicksal aller wird durch die Heirat Antonios mit Isabel besiegelt, denn mit Isabel trifft eine Frau in ihr Leben, die die mühsam aufgebauten Regeln durcheinanderbringt und die mit einem nach und nach krankhaft werdenden Selbstbewußtsein die verdrängten Emotionen der anderen an die Oberfläche bringt, wenn auch nicht zum Ausbruch kommen läßt. Isabel ist die Personifizierung eines anderen Lebenskonzeptes. Sie ist gebildet, von städtischer Herkunft und sie führt Tagebuch. Ihre schöne Schrift - die dem Buch seinen Titel gibt - fasziniert Ana, die fremd ist in der Welt des geschriebenen Wortes. Isabel und Ana nähern sich an, indem Isabel Ana Unterricht im Schreiben erteilt und Ana Isabel die verschiedenen Hausarbeiten beibringt. Doch letztlich werden sie zu Feindinnen, denn Isabel entfernt Antonio von der Familie, sie stiftet Unfrieden mit ihrem Egoismus, der sich vor allem um Reichtum und Unabhängigkeit dreht. Mit der sich zuspitzenden Situation zwischen den beiden Frauen zerfallen auch die Beziehungen der restlichen Familienmitglieder. Ana beginnt, ihren Ehemann zu verachten, da sie ihn als unfähig erachtet, etwas gegen den Zerfall zu unternehmen. Ana und Antonio entfernen sich mit eifersüchtigen und frustrierten Gefühlen. Die Großeltern und Eltern ziehen aus dem gemeinsamen Haus aus und ziehen es vor, in der Distanz zu ihren Kindern dem Tod entgegenzugehen. Einer nach dem anderen verstirbt, ohne daß jemals ein offenes Wort gesprochen wird.

 

Die schöne Schrift ist das gnadenlose Resümee eines Familienlebens, das durch die Konfliktunfähigkeit aller Beteiligten zu einem einzigen Alptraum wird. Das in Kriegszeiten bedingungslose Zusammengehörigkeitsgefühl verschwindet, je weniger sich die Personen um ihre materielle Existenz sorgen müssen. Es ist ein sehnsüchtiges Leben in der Vergangenheit. Ihrer Opferrolle macht Ana ein Ende, indem sie selbst beginnt, die Wahrheit aufzuschreiben - ein nachträgliches Tagebuch, eine Art der Realitätsbewältigung, wie sie sie einst bei Isabel kennengelernt hatte - nur, daß bei letzterer das Schreiben als eine Attitüde erscheint, ein oberflächliches Sich-selbst-Inszenieren und -Reflektieren. Ana hat es geschafft, aus ihrer passiven Haltung heraus alles aufzuschreiben, sie bricht das Schweigen, das die Familie hat untergehen lassen. Doch ist es am Lebensabend der Protagonistin zu spät, der Groll gegen das Leben ist Programm geworden.

 

Chirbes erzählt in einer schlichten Sprache, die sich an der Konstitution seiner Protagonistin orientiert. Doch die Geschichte wirkt dadurch stellenweise sehr gerafft und somit über große Strecken zu schematisch. Veränderungen bei den Charakteren sind manchmal überraschend und nur vage aus dem Handlungsverlauf zu rekonstruieren. Dies ist einerseits schade, da viel Potential in dem Stoff liegt. Andererseits hat dies aber auch seinen Reiz: Die Geschichten sind von einer Aura der Heimlichkeiten umgeben, was zu der Verdrängungstaktik der Figuren paßt.

 

Leider macht der Roman - der mit der Bezeichnung Erzählung wohl besser kategorisiert wäre - neugierig auf etwas, was er in letzter Konsequenz nicht zu leisten vermag. Das Brisante wird angedeutet, geht aber in der mit tabellarischer Manier ausgeführten Schilderung der Ereignisse unter. Am Ende der Lektüre hat man den Eindruck, daß der Autor nun damit beginnen könnte, die gut angelegten Charaktere weiter auszubauen und aus dem vielversprechenden Exposé endlich einen Roman zu machen.

 

Rafael Chirbes: Die schöne Schrift. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.

München, Antje Kunstmann Verlag, 1999. 143 Seiten. 29,80 DM.