Kleiner Stein mit grosser Wirkung

Neuerscheinungen über Azulejos in Portugal

von Henrike Schön

Seit mehr als zehn Jahren blüht in Portugal die Erforschung der ‘Azulejaria’, der kunstvollen Gestaltung von Wandfliesen. Die jahrhundertealte Tradition dieser zu den “artes minores” zählenden Gattung, die ihren ersten Höhepunkt im Barock hatte, ist bis ins 20. Jahrhundert lebendig und produktiv geblieben. Drei Neuerscheinungen aus Deutschland und Portugal bieten viel Wissenswertes und entführen den Leser in eine farbenprächtige Welt.

 

Vom ‘horror vacui’ zum dekorierten Raum

 

Am Anfang stand der ‘horror vacui’, die Angst vor der Leere, vor dem blanken undekorierten Raum. Arabische Töpfer und Architekten machten aus dem Unbehagen eine hohe Kunst, als sie begannen, Innenräume und Fassaden mit prachtvollen Mosaiken und glasierten Fliesen zu bekleiden. Was das Wort ‘azulejo’, bedeutet, darüber herrschte lange Zweifel. Der Brückenschlag zum azul, zum blau, lag nahe. Das hinreißend tiefe Blau des Halbedelsteins Lapislazuli stand sicherlich Pate für das Verständnis des Vierecks aus gebranntem Ton. Aber das arabische Wort ‘azzelij’ bezieht sich gar nicht auf die dominierende Farbe, sondern meint ganz schlicht den kleinen, flachen, glänzenden, polierten Stein. Hier liegt der Ursprung des kleinen Vierecks von großer Wirkung. Über den vorderen Orient und Nordafrika gelangt die Technik, Vierecke aus Ton farbig zu glasieren, zu brennen und damit Wände zu schmücken, im Zuge der islamischen Expansion nach Europa. Auf der iberischen Halbinsel entfaltet und entwickelt sich die Kunst des Azulejo zuerst in Spanien, in jenen Jahren, in denen die großen Zivilisationen, die islamisch - maurische und die christliche aufeinanderstoßen. Von hier aus gelangt der Azulejo nach Portugal.

 

Es ist das Jahr 1498, als König Dom Manuel I. Spanien bereist. Der König ist von der arabischen Architektur und Kunst der Azulejos, die er in den andalusischen Palästen gefunden hat, so fasziniert, daß er beschließt, den Königspalast von Sintra nach den spanischen Vorbildern ausschmücken zu lassen. Von nun an entwickelt sich die Azulejaria in Portugal zu einer eigenständigen Kunstrichtung zwischen Architektur und Malerei, die den tromp l’oeil bis zur perfekten Scheinarchitektur vorantreibt.

 

Zwar sind die Möglichkeiten der portugiesischen Künstler denen der Spanier und lange Zeit auch der Niederländer, deren “Delfter Fayencen” weltbekannt wurden, zunächst unterlegen. Doch entwickelt sich gerade in der Gegenbewegung zur technischen Unvollkommenheit die Offenheit gegenüber Einflüssen anderer Länder und auch anderer Kunstformen. 

 

Es ist einmal mehr die typisch portugiesische Akkulturation, die nicht allein Vorbilder der technischen Produktion, sondern in hohem Maße konkrete künstlerische Vorlagen, Zeichnungen, Stiche, Gemälde aus dem ganzen europäischen Ausland aufnimmt, um sie großflächig in Azulejos zu reproduzieren. Der Nachhall der arabischen Kultur und die Bilderwelt, die aus den eroberten Länder nach Portugal strömt, bereichern das Inventar. Chinesische Handwerker steuern wichtige Kenntnisse über Glasurtechniken bei. Die Portugiesen lassen nach eigenen Wünschen im Ausland produzieren oder holen sich die Künstler ins Land, bis dann, im 18. Jahrhundert, die eigene Produktion sowohl auf technischem als auch auf künstlerischem Niveau absolute Eigenständigkeit erreicht. So gilt zurecht das Barock als ein Höhepunkt der portugiesischen Azulejaria. Bis zum Erdbeben von 1755 produzieren jetzt in Lissabonner Werkstätten portugiesische Künstler im großen Stil.

 

Die Zeit der “Grande Produção” ist gekommen. Zu verstehen ist dies nur auf dem Hintergrund der Kolonialgeschichte. Die Schätze, die aus den brasilianischen Gold- und Diamantminen stammen, bringen Portugals Klerus und Adel zu Wohlstand und Reichtum. Sie sind die Auftraggeber in der Regierungszeit von Dom João V. In dieser Epoche entstehen die gewaltig großen blauweißen Tableaus, die Paläste schmücken und Kirchen über und über auskleiden. Jetzt exportiert Portugal auch selbst - vor allem in die Kolonialländer. Wohl kaum eine Zeit hat das Bild, das wir heute von der portugiesischen Azulejaria haben, so nachhaltig geprägt.

 

Und doch haben auch die späteren Epochen ihr eigenes Gesicht. Das Rokoko bringt mit seinen verspielt verliebten Formen eine graziöse Gartenarchitektur hervor, deren Brunnen und Bänkchen ein arkadisches Leben versprechen. Unverwechselbar sind die muschelförmigen Roncaille-Ornamente, die nach französischen Vorbildern gestalteten Schäferspiele, krypto-magische Architekturen. Polychrome Majolikatechnik mit charakteristischem Manganviolett geben den Szenen den naturalistischen Anschein. Mit dem Rokoko scheinen die technischen Möglichkeiten der Azulejaria erschöpft, nicht aber die Verwendungsformen.

 

Sie entwickeln sich über das 18. und 19. Jahrhundert, bis die industrielle Revolution neue Produktionsformen hervorbringt. Die maschinelle Herstellung in Serie macht die Verkleidung der Bürgerhäuser zu günstigen Preisen möglich. Noch heute beherrscht dieser Anblick viele Straßenzüge in Lissabon und Porto. Mit dem bürgerlichen Zeitalter treten auch neue Auftraggeber auf den Plan. Immer häufiger gibt der öffentliche Raum mit seine Straßen, Bahnhöfen und Flughäfen der Azulejaria ihren Platz.

 

Azulejos in Portugal

 

Dies und vieles andere Wissenswerte über portugiesische Fliesenkunst ist in dem Prachtband nachzulesen und anzuschauen, den Rioletta Sabo und Jorge Nuno Falcato im Hirmer-Verlag unter dem Titel Azulejos in Portugal. Fliesendekor in Palästen, Gärten und Kirchen vorgelegt haben. Die Kunst der dekorativen Fliese, zumal der portugiesischen, war von deutschen Kunsthistorikern als “artes minores” lange Zeit wenig beachtet und hatte bestenfalls in gutsortierten Bibliotheken der Kunstgewerbemuseen einen Platz. Nachdem in Portugal selbst das Interesse erwacht war und die Forschung in den letzten zehn Jahren enorme Fortschritte machte, liegen in portugiesischer Sprache bereits etliche Publikationen vor. Nun hat der Hirmer-Verlag dem deutschsprachigen Publikum einen Band auf den Tisch gelegt, der jedem Freund dieser wahrlich nicht zu unterschätzenden Kunst empfohlen sei. Bereits der Titel Azulejos in Portugal bekennt sich zur Eigenständigkeit gegenüber den deutschen Begriffen wie Fliese und Kachel, die beide weder der Prachtentfaltung noch der Verwendungssart in Portugal gerecht werden. Sinnvoll gegliedert, bieten einführende Textteile zur Terminologie und Technik sowie ein Überblick über die Kunstgeschichte des Azulejo viel Wissenswertes. Wer Details über die Herstellung der kleinen Quadrate erfahren möchte, die Technik der ‘corda-seca’ von Majolika-Malerei unterscheiden will, ist hier ebenso gut beraten wie derjenige, der sich über Entwicklungsformen, Vorbilder, Einflüsse und Ikono-graphien informieren möchte. Nach Epochen gegliedert wird die Entwicklungslinie von den Anfängen bis in die jüngste Gegenwart gezogen, der Schwerpunkt aber auf die Werke bis ins ausgehende 18. Jahrhundert gelegt. Abbildungen veranschaulichen den historisch-systhematischen Zugang, dessen Bewertung nie die Distanz verliert und künstlerisch Hochwertiges und Einzigartiges wie die berühmten “Figuras de Convite” von mißglücktem Dilettantismus oder überholtem Historismus des 20. Jahrhunderts unterscheidet.

 

Der eigentliche Bildteil entführt den Leser dann auf 150 Seiten in die farbenprächtige Welt der Kirchen, Paläste und Gärten in Lissabon und Umgebung: Sintra, Setubal, Azeitão. Bekanntes wird wiederent-deckt und weniger Bekanntes vorgestellt. Den zum großen Teil ganzseitigen Fotos, für deren Qualität Nicolas Lemonnier zeichnet, sind Bildbeschreibungen beigegeben, die kunsthistorisch exakte Detailinfor-mationen geben, sich aber an keiner Stelle aufdrängen. Die Dokumentation zu den abgebildeten Denkmälern erscheint am Schluß des Bandes. Wer nun weiter lesen und studieren will, wird in der Bibliographie Hinweise auf wesentliche Publikationen nicht nur aus dem portugiesischen Sprachraum finden. Den Reiz des Bandes macht das Gleichgewicht von oppulenter Bilderlust und wissenschaftlicher Information aus, die fern jedweder staubiger Gelehrsamkeit zum zuverlässigen Begleiter auf einer schönen Reise wird.

 

Entdeckungen: Azulejos in Portugal und Brasilien

 

Wer über Azulejaria spricht, wird in Zukunft nicht mehr ohne die Nummer 36/37 der Zeitschrift Oceanos auskommen. Auch mit diesem Band, dessen 27 x 37 cm- Format kaum als Zeitschrift im herkömmlichen Sinn bezeichnet werden kann, vereinen die Herausgeber hohes wissenschaftliches Niveau und exquisiten ästhetischen Anspruch. Für die dreizehn Beiträge konnten portugiesische und brasilianische Wissenschaftler gewonnen werden, die als Kunsthistoriker und Museumsfachleute den Weg der Azulejos von Portugal nach Brasilien erforscht haben und die Präsenz dieser Kunst in Brasilien dokumentieren. 

 

Es war vor allem der Wunsch der Kolonialherren, in Brasilien einen Lebensstil zu führen, der dem des portugiesischen Mutterlandes möglichst nahe war. Der Import der portugiesischen Azulejos nach Brasilien beginnt in der Blütezeit, im Barock. Aber bis ins 20. Jahrhundert werden portugiesische Künstler in Brasilien Kirchen und Paläste, Fassaden und Innenräume mit portugiesischen ‘Azulejos’ bekleiden. Der Rückfluß nach Portugal setzt wiederum im 19. Jahrhundert ein, als die ersten Remigranten nach Portugal zurückkehren und die in Brasilien kultivierte Art, ganze Häuserfassaden mit industriell hergestellten Fliesen zu verkleiden, nun in Portugal etablieren. 

 

Der Zeitschrift Oceanos, die von der ‘Comissão Nacional para as Comemorações dos Descobrimentos Portugueses’ herausgegeben wird, bietet auch mit dieser Nummer viel Spannendes zu entdecken: Zwar werden Marksteine der portugiesischen Azulejaria von den Anfängen bis zur Gegenwart noch einmal aufgeführt: so das berühmte Blumenstück, das heute im ‘Museu Nacional de Azulejo’ aufbewahrt wird oder eines der innovativsten Werke der letzten Jahre: Das von dem Amerikaner Chermayeff mitgestaltete und anläßlich der Expo ‘98 eröffnete 'Oceanário' , das den Weiten des Ozeans gewidmete neue Aquarium von Lissabon.

 

Planung und Entwurf fanden am Computer statt, die Umsetzung erfolgte dann in Handarbeit, jeder der 54.000 Azulejos wurde manuell hergestellt. Dennoch richtet sich das wissenschaftliche Interesse des Bandes nicht auf spektakuläre Sensationen, sondern auf den Weg, den die Azulejaria im Lauf der Jahrhunderte genommen hat. Neben allgemein einführenden Artikeln werden ausgewählte Epochen, wie der sonst eher vernachlässigte Neoklassizismus vorgestellt, einzelne Bauwerke im sakralen und profanen Raum analysiert und der Weg der Typologien nachgezeichnet. Gerade in Anbetracht der problematischen konservatorischen Situation vieler Denkmäler bleibt so zu hoffen, daß der Band, dessen wissenschaftlicher Ertrag von hohem Gewinn ist, auch zur Sensibilisierung gegenüber diesen einzigartigen Zeugnissen der brasilianisch-portugiesischen Beziehungen beiträgt. Einzig bedauerlich ist die Tatsache, daß die Ergebnisse - vorerst - der portugiesischsprachigen Welt vorbehalten bleiben. Zumindest eine englischsprachige Zusammenfassung der Artikel wäre zu wünschen gewesen.

 

Reproduktion: “Muster” im 20. Jahrhundert

 

Teresa Saporiti ist bereits 1992 mit einer Publikation über Azulejos in Lissabon bekannt geworden. Nun legt sie, in einer zweisprachigen Fassung, die parallel neben den portugiesischen den englischen Text setzt, einen neuen Bildband vor, der den Focus wiederum auf das 20.

 

Jahrhundert legt, diesmal aber das ganze Land in den Blick nimmt. Bei ihrer Arbeit hat sie sich von einer Frage inspirieren lassen, die aus den Produktionsbedingungen unseres Jahrhunderts herrührt: Welche Wirkungen erzielen die zu Mustern zusammengesetzten Fliesen, die, bis zur Unzählbarkeit reproduziert, an den Häuserfassaden angebracht sind und diese rhythmisch gliedern. Der Band stellt diesen Typus der Azulejaria in mehreren Kapiteln vor, deren Systematik zwar nicht ganz nachvollziehbar ist, die sich aber gegenseitig zu einem Panorama ergänzen. Texte zur Entwicklungsgeschichte der Azulejaria vom Jugendstil über das 20. Jahrhundert bieten den historischen Zugriff zum Thema. Deutlich tritt der Wunsch der Autorin zutage, Erscheinungsformen der ‘padrões’ zu dokumentieren, denn nur so rechtfertigt sich, daß auch zum Teil ästhetisch fragwürdige Privathäuser, die sie als Typologie der ‘casa do emigrante’ klassifiziert, hier aufgeführt werden. Überzeugender wirkt die Absicht, zumindest fotografisch Wände und Fassaden dem Gedächtnis aufzubewahren, die bereits dem Abriß zum Opfer gefallen sind. Zentral für den gesamten Band sind, neben der Aufnahme der Arbeiten von Ivan Chermayeff und Ana Salazar, die weit eher als Textildesignerin bekannt geworden ist, zweifellos die vier abgeschlossenen Kapitel, in denen die Autorin das Werk einzelner Künstler des 20. Jahrhunderts vorstellt:

 

Manuel Car-galeiro, Querubim Lapa, Eduardo Nery. Auch Maria Keil, die große alte Dame der Azulejaria, hat Gedanken zur Idee des ’padrão’ beigesteuert. Teresa Saporitis Bildband ist im Selbstverlag erschienen, und dem gebührt wahrlich Anerkennung. Es ist zu bedauern, daß sich die portugiesischen Verlage mit der Kunst des 20. Jahrhunderts so schwer tun. Die beschränkten Möglichkeiten sind vor allem der technischen Qualität der Außenaufnahmen anzumerken. Entschieden besser gelungen sind die Detailaufnahmen, die dem Buch auch seinen Wert im traditionellen Sinne geben: als Musterbuch, das dankenswerterweise auch die biographischen Angaben zu mehr als dreißig Künstlern und die Adressen der derzeit noch aktiven Keramikwerkstätten und Fabriken wie der “Viúva Lamego” und “Santa ‘Anna” verzeichnet.

  • Rioletta Sabo / Jorge Nuno Falcato: Azulejos in Portugal. Fliesendekor in Palästen, Gärten und Kirchen. Aufnahmen von Nicolas Lemonnier. München, Hirmer Verlag, 1998. 98,00 DM.
  • Azulejos. Portugal e Brasil. OCEANOS. 36/37 - Oktober 1998/März 1999. Hrsg. Comissão Nacional para as Comemorações dos Descobrimentos Portugueses. 4.500 Escudos
  • Teresa Saporiti: Azulejos Portugueses. Padrões do Século XX. / Portuguese Ceramic Tiles. XX Century Patterns. Lisboa, 1998. ISBN: 972-97653-1-6. 179,00 DM. (erhältlich im gutsortierten Kunstbuchhandel)