Chile: Zwischen Tradition und comida rápida

Ein Streifzug durch die heutige (Ess-)Kultur des Andenstaates

von Michael Melter

Chile – auf dem langen Weg zurück zu einer fast verlorenen Kultur, die etnisch, politisch, gesellschaftlich einen neuen Konsens sucht – auch architektonisch und kulinarisch. 

Carlos Cabezas in hoy (politisches Wochenmagazin).

 

Auch die Politik kann die Esskultur – zumindest zeitweise – beeinflussen oder gar nachhaltig verändern. Der chilenische Speiseplan wurde in den vergangenen 25 Jahren durch drei Faktoren deutlich geprägt: (1) Versorgungsengpässe bei allen wichtigen Gütern durch innenpolitische Auseinandersetzungen ein paar Jahre vor und vor allem während der Allende-Zeit. (2) Die Zeit der Pinochet-Diktatur von 1973-1990 war auch nicht unbedingt eine kulinarische Offenbarung: viele höherwertige Lebensmittel wie Fleisch (zumeist Huhn), Fisch und Mariscos (vor allem Shrimps, Forellen, Lachs), (exotische) Früchte und Ölsaaten (Mandeln, Haselnüsse) wurden zur Devisenbeschaffung in die USA und nach Europa exportiert – der Binnenmarkt blieb unterversorgt. Restaurants mit ausländischer Küche waren unter Pinochet nicht erwünscht und bekamen zumeist keine Genehmigung, mit Ausnahme von ein paar wenigen Chinesen und dem obligatorischen Hauptstadt-Franzosen mit den berühmten Preisen. Gewürze, die größtenteils importiert wurden, verschwanden lange vom Markt, oder waren unbezahlbar – folglich wurde die Küche fade und blaß. (3) Pünktlich zur Phase der Redemokratisierung ab 1990 wurde die erste McDonalds-Filiale in Chile eröffnet. Die Globalisierung des Essens fand seine kulinarischen Höhepunkte in Form von Hamburguesas (Hamburgern), Bisték a la Americana (meint: USA) und natürlich den Vienesas (Hot Dogs), für die ich – zumindestens in Chile, eine gewisse Schwäche entwickelt habe – aber nur wegen ihrer köstlichen Salsas. Zu keinem chilenischen Essen dürfen diese beiden Zutaten fehlen, egal wo, wann und wie man isst: ein Korb mit frischem Brot, meistens francesa (Baguette) oder hayuyas (runde, feste Hefe-Mürbebrötchen) und ein Schälchen mit Salsa de ají, eine pikante Salsa auf Tomatenbasis mit Kreuzkümmel, Korianderblättern und Chilis. Einige Regionen des rund 4500km langen Andenstaates trotzten jedoch all diesen Einflüssen und hielten es wie einige Gallier zu Asterix' und Obelix' Zeiten: sie blieben (auch) ihren Speisegewohnheiten treu und retteten die ursprüngliche Küche ihrer Region.

 

Der Süden

 

Im tiefen Süden, wo sich die Mapuche-Stämme vor 220 Jahren mit den eingewanderten bäuerlichen Alemanes arrangierten und gemeinsam gegen die Spanier kämpften, liebt man Parrilladas, also Grillfeste. Alles saisonale an Fleisch, Fisch und Gemüse, mit einer Öl-Kräuter-Mischung bepinselt, kommt auf den Rost oder den Schwenker, besonders beliebt sind Rind, Lachs und Schaf. Dazu werden papas (Kartoffeln), alcachofa (Artischockenblätter mit Dip) und repollo (Krautsalat) gereicht. Excellent sind die lokalen Fischgerichte wie Congrio frito (gebratener Seeal), Caldillo de Congrio (Fischsuppe mit Seeaal), Lisa (Süsswasserbarsch) mit Weinsosse oder Camarones al piri piri (Shrimps), in Knoblauchöl gebackene Krabben mit ají (Chili) und cilantro (frische Korianderblätter).

 

Die Región metropolitana

 

In der Región Metropolitana (Zentralregion mit der Hauptstadt Santiago) ist die Küche stark an die spanisch-mediterrane Kochkunst angelehnt, man verzehrt zahlreiche Tapas, die irgendwann in die platos fuertes (Hauptgerichte) übergehen. Man erkennt den Unterschied zwischen Vor- und Hauptspeise lediglich an der Grösse der Fleischstücke. Beliebt sind auch die zahlreichen Menus de ejecutivo (Angestellten-Menüs), die hauptsächlich aus einen riesigem Stück Fleisch (Schweinebauch gebraten, Beefsteak, Roastbeef etc.) mit Bratensosse und Kartoffelpüree bestehen, keine kulinarischen Offenbarungen, aber Sattmacher. Das Ambiente der kleinen Bodegas und die Präsentation der Gerichte auf dem Teller versprühen dabei einen Charme, der durchaus mit dem der alten Intershop-Restaurants an der Autobahn nach Berlin vor der Wende und den polnischen Wurstbratküchen konkurrieren kann.

 

Richtig lecker sind dagegen die vienesas (Hot Dogs) mit ihren zahlreichen Salsa-Varianten, am leckersten mit palta (Avocadocreme), Limonenmayonäse und frischen Tomaten, aber auch mit salsa de ají (Tomaten-Chili-Sosse), Käse und Zwiebeln. Wunderbar schmeckt eine Cazuela de ave (Geflügelsuppe) mit Gemüseeinlage in einem der kleinen, einfachen und gemütlichen Vorstadtrestaurants oder direkt in den Gemeinden rund um Santiago. Auch die Crema de choclos (Maiscremesuppe) ist eine einfache, aber sehr schmackhafte traditionelle Suppe, wenn sie nicht gerade von 'Nestlé Chile' aus der Tüte kommt. Der Ensalada chilena ist aus fruchtig-würzigen, geschälten Fleischtomaten mit Pfeffer, Salz, Limonensaft, Zwiebelringen, Olivenöl und - wenn man will - mit etwas getrocknetem Oregano. Sehr zu empfehlen sind auch die gut gewürzten und schmackhaften handgemachten Empanadas de pino (Hackfleisch-Rosinen-Ei-Oliven-Füllung) oder mit pato (Empanadas mit Entenfleischfüllung). Köstlich vor dem Essen als Aperitif: eine Vaina (Portwein oder Sherry, Ei, Zimt, warm serviert) oder ein Pisco sour (chilenischer Traubenbrand mit Limonensaft, Zucker und Ei).

 

Der Norden

 

Im Norden prägen wieder wieder indigene Einflüsse (Quechua-Inka) die Küche, deutlich erkennbar der peruanische Einschlag (Lama, Meerschweinchen, Ceviche) und die Anzahl der verwendeten Gewürze, die deutlich über Pfeffer, Salz, ají und Korianderblätter hinausgeht. In der Atacama-Wüste kann man auch schon einmal ein lecker gegrilltes cuyi (Meerschweinchen) essen, geschmacklich nicht weit von unserem Zuchtkaninchen entfernt. Oder einen Pastel de choclos, einen Mais-Hackfleisch-Auflauf mit Zucker, Milch, Kreuzkümmel und Korianderblättern, der zwar in ganz Chile zubereitet wird, im Norden aber noch durch köstliche Maishühnchenstücke ergänzt wird. Ein fruchtig-pikanter Trago (Longdrink) ist der Serena libre, mit Pisco aus dem naheliegendem Valle del Elqui und frischem Papayasaft – immer sehr erfrischend!

 

Auch die gegrillten Hühnchen im Norden Chiles sind die besten, werden sie doch, wie in Frankreich, mit leckerem heimischen Mais gefüttert und noch nicht mit international standardisierten Fischmehl. Sie werden mit ají, Knoblauch und Paprikapulver eingerieben und mit gutem Öl beträufelt. Seehecht mit Mandeln ist eine weitere Spezialität der nördlichen Regionen. Die zahlreichen, teils noch intakten Fischerdörfer versorgen die Bewohner täglich mit frischem Fisch und Meeresfrüchten wie locos, Seeigel, Seeschnecken, Muscheln und Algen. Die Japaner beteiligen sich fleissig am Leerfischen der Region mit etwas grösseren Schiffen als die Chilenen. Der Graben des kalten Humboldt-Stromes gilt als eines der fischreichsten Kaltgewässer der Erde.

 

Irgendwoher muss ja der Edel-Sushi kommen! Als 'Ausgleich' für die durch Pinochet erteilte billige Fanggenehmigung schenkte die Stadtverwaltung von Tokio der Stadt La Serena und ihren Bürgern einen japanischen Ziergarten, in dem sich dann die arbeitslos werdenden Kleinfischer mit ihren Familien kostenlos ausruhen dürfen.

 

Das Menü

 

Doch zurück zur Küche. Mein Vorschlag für ein fulminantes Menü, welches nicht zuviel Arbeit macht und dessen Zutaten bei uns erhältlich sind: Ensalada chilena, Cazuela de ave, Camarones al piri piri, Pastel de choclos und zum Aperitiv: Pisco sour / Viña Maipo - Chardonnay 1997 (frisch, leichtes Mandelaroma). Ich empfehle zum Pastel einen Concha y Toro - Merlot 1998. Digestif: Vaina.

 

Ensalada Chilena

 

Die Tomaten vorsichtig schälen, in Scheiben schneiden und dekorativ auf zwei Teller verteilen. Die Zwiebel in dünne Scheiben schneiden, über dem Tomatensalat verteilen. Mit Salz und Pfeffer bestreuen. Eine Limone auspressen, über dem Salat verteilen, Olivenöl hinzufügen, den Oregano zwischen den Fingern zerreiben und servieren!

 

Camarones al piri piri

 

In einer gußeisernen Pfanne (oder einer anderen, schweren Pfanne) das Öl erhitzen, die Knoblauchscheiben hinzufügen und sofort die Camarones hinzufügen. In der Pfanne verteilen. Bei mittlerer Hitze ständig beobachten, die kleingeschnittenen Chilis nach Geschmack hinzufügen und maximal 4-5 Minuten bei mittlerer bis schwacher Hitze schmoren lassen. Sobald die Camarones anfangen, zu schrumpeln, von der Flamme nehmen und sofort heiss servieren. Korianderblätter auf die Camarones geben. Das riecht und schmeckt lecker!

 

Cazuela de Ave

 

Zwiebel in etwas Fett in der Pfanne mit Salz, Pfeffer und Oregano anbraten. Die Hühnerkeulen und die Brust in der selben Pfanne kurz mitbraten. Das Fleisch darf nicht braun werden. 1,5l Wasser hinzufügen. Auf kleiner Flamme kochen lassen. Die geschälten Kartoffeln, Erbsen, den in Scheiben geschnittenen Maiskolben, die Bohnen und die in Streifen geschnittene Paprikaschote hinzufügen, den Reis zufügen, auf kleiner Flamme bissfest kochen lassen. Gegebenfalls nochmals Wasser und Gewürze hinzufügen, mit geschnittener Petersilie und grünen Chiliringen auf Tellern garnieren.

 

Pastel de choclos

 

Das Fleisch mit der Zwiebel anbraten, mit Pfeffer, Salz, Kreuzkümmel abschmecken, in eine Auflaufform geben. Eier fest kochen lassen, erkalten lassen, in Scheiben schneiden und über das Fleisch verteilen. Gehackte Oliven ebenfalls mit den Rosinen darüber gleichmässig verteilen. Den Mais mit der Milch und dem Zucker nach Geschmack (eher wenig) 15 Minuten einkochen, dabei umrühren. Von der Kochstelle nehmen, mit dem Pürierer zu einer Breimasse verarbeiten, über das Fleisch geben. Im Backofen bei 175 Grad ca. 20 Minuten backen. Die Oberfläche sollte golgelb bis leicht braun sein. Mit Korianderblättern bestreuen, dazu Salsa de Ají reichen. Buen provecho.

 

Zutaten für zwei Personen:

 

Ensalada Chilena

  • Zwei dicke Fleischtomaten, frisch, fest und nicht mehlig! 
  • 1 Limone
  • ½ grosse Gemüsezwiebel
  • Pfeffer, Salz, Oregano
  • Camarones al piri piri
  • 250gr frische chilenische Camarones (erhältlich in Feinkostabteilungen oder Fischfachgeschäften)
  • Maiskeimöl
  • Rote scharfe Chilischote
  • 10 Knoblauchzehen, geschält, in Scheiben geschnitten
  • Frische Korianderblätter.

Cazuela de Ave

  • Zwei Hühnerkeulen, eine halbe Hühnerbrust, möglichst am Knochen
  • 4 kleine Kartoffeln
  • 1 Maiskolben
  • 125g grüne Bohnen oder Kenia-Böhnchen, frisch (nicht aus der Dose!!!)
  • 125g Erbsen
  • ½ Paprikaschote, entkernt
  • ½ Zwiebel
  • 2 Suppenlöffel Reis
  • Salz, Pfeffer, Paprikapulver, grüne Chilischote, Petersilie

Pastel de choclos

  • 4 Maiskolben (oder 500g TK-Mais oder Dosen Goldmais)
  • ca. 200g Huhn (z.B. Brustfilet)
  • 250 g Hackfleisch (Rind)
  • 1 grosse Gemüsezwiebel, gehackt
  • 1 Tasse Milch
  • 2 Eier
  • Rosinen nach Geschmack
  • Zwei Knoblauchzehen
  • Kreuzkümmel, Pfeffer, Salz, Zucker
  • 125gr. Oliven, Korianderblätter