Mexiko jenseits der Einsamkeit

Perspektiven vor und nach Tlatelolco (I. Teil)

von Vittoria Borsò

Bekanntlich werden die Ereignisse von Tlatelolco als "fecha parteaguas" der mexikanischen Kultur angesehen. Die mexikanischen Studenten demonstrierten im Juli 1968 gegen die Verstaatlichung der Gesellschaft und die Militarisierung des Staatsapparates. Als Antwort auf die Petition ordnete Präsident Gustavo Díaz Ordaz (1964-1970) das Massaker an Hunderten von Studenten an, die sich am 2. Oktober 1968 auf dem Platz der Drei Kulturen, dem legendären Platz von Tlatelolco, zur Demonstration versammelten, wo Cuaotémoc, der letzte Herrscher der Azteken, gefoltert und ermordert worden war.

 

Diese blutige Niederschlagung bedeutete die Grablegung der mexikanischen Revolution: Mit der "fecha parteaguas" erklärten die mexikanischen Intellektuellen die Mythen der Revolution für hinfällig - Octavio Paz etwa legte sein Amt als Botschafter Mexikos in Japan nieder -; sie betrachteten die Utopien des Boom, v.a. die Mythen des Magischen Realismus', als überfällig. Diesem kulturellen Wandel ist u.a. der Band von Karl Kohut De Tlatelolco al ocaso de la revolución (1988) gewidmet. Die vielen Facetten dieses Wandels können mit folgender These zusammengefaßt werden: Die Kultur emanzipierte sich insoweit, als sie nicht mehr an den Mythos einer für die Lösung der sozialen Probleme verantwortlichen Regierung glaubte. Die Intellektuellen verloren den Glauben an den historischen Auftrag der PRI, der Institutionalisierten Revolutionspartei, definitiv und wollten selbst aktiv werden auf der historischen Bühne. Emblematisch war hierbei der Wandel der Symbolik, mit der sich die mexikanische Kultur identifizierte: El laberinto de la soledad, das seit seiner Publikation im Jahre 1950 das Emblem des Anschlusses Mexikos an die universelle Kultur dargestellt hatte, wich dem Begriff der "cultura popular" und dem Einfluß seines Schöpfers Carlos Monsiváis. Damit war der Weg bezeichnet vom Dichterfürsten zum mexikanischen Soziologen, Kinoexperten und Chronisten der Megalopolis Mexiko Stadt und ihrer "barrios". Als Konsequenz der politischen Krise verloren Institutionen die mythische Aura, die sie im Bewußtsein der Gesellschaft bisher eingenommen hatten. Monsiváis prägte von nun an die Zeitschrift Nexos in Konkurrenz zu Vuelta. Hatte Paz das internationale Elitebewußtsein der Mexikaner vertreten, so wurde nun Carlos Monsiváis zum Emblem des ab den 70er Jahren wachsenden Selbstverständnisses einer als "contracultura" verstandenen Volkskultur. Trotz der skizzierten Wende blieb der Staat dirigistisch. Zwischen ihm und der Gesellschaft etablierte sich ein bis heute andauernder Graben.

 

Das Konzept der "cultura popular" impliziert einen vielschichtigen Wertewandel: vom romantisierenden und archaisierenden Begriff der Volkskultur im Sinne authochtoner Tradition, wie sie im Rahmen des Boom zum Identitätszeichen geworden war, hin zum gegenwärtigen Potential der marginalisierten Schichten in den "barrios" der Hauptstadt, deren Energien im Sinne sogenannter karnevalesker Formen der Alltagskultur nun als subversive Kraft verstanden und deren subtiler Humor zum Stilmerkmal der Crónicas wird. Die Crónicas markieren den Perspektivwechsel von einer archaischen Vergangenheitsbetrachtung zum Interesse an der urbanen Gegenwart. Monsiváis' gesamtes Werk gilt dem Versuch, mit der "cultura popular" die Unterdrückten von ihrer passiven Rolle und die Masse von der politischen Ohnmacht zu befreien. Die politische Krise Mexikos wird nun als Krise der Eliten umgewertet. Sowohl in Días de guardar (1970) als auch in den späteren Chroniken, wie z.B. Entrada libre. Crónicas de la sociedad que se organiza (1987) fungiert Monsiváis als "Chronist" einer Krisenepoche. Als Medienexperte und Soziologe macht er sich die Lehre von Marshall McLuhan zueigen und analysiert die Möglichkeit einer konkreten Mitgestaltung an der sozialen Entwicklung des Landes durch die "sociedad civil". Besonders McLuhans These des globalen Dorfes ermöglicht eine Überwindung alter hierarchischer Dichotomien zwischen Zentrum und Peripherie und damit zwischen Elite und Masse. Im globalen Dorf steht vielmehr die Peripherie im Zentrum. Durch die (mediale) Vernetzung aller noch so abgelegenen Kulturelemente werden die sozialen Hierarchien (zwischen Stadt/Land oder zwischen Klassen) potentiell instabil - so der provokative Aspekt dieser These.

 

Wenn auch eine solche Ansicht aus heutiger Sicht problematisiert werden muß, war sie doch in den 70er Jahren als Gegenposition zu den Mythen des Boom, zum Beispiel des Indigenismus, von eminenter Bedeutung. Eine neue Bewertung erfuhr als Folge des kulturellen Wandels auch der Begriff der "Oralität". War die Oralität während des Boom zum Kennzeichen authochtoner Kultur stilisiert worden, die sich durch die Mimesis mündlicher Traditionen zu authentifizieren glaubte, so bedeutet "Oralität" in den Crónicas von Monsívais nicht eine Phänomenologie der Schrift, wie dies z.B. auch im Begriff der Literalisierung "fingierter Mündlichkeit" deutlich wird, sondern eine Phänomenologie, die dem Medium der Stimme entspricht: Ephemerität, Alltäglichkeit, aber auch die zufällige Koexistenz der Dinge, wie sie im mündlichen Gespräch vorliegt. Bereits in den Romanen der sogenannten "Onda" diente Literatur als verbales Tonbandprotokoll und als Kanal für den direkten Niederschlag des `Chaos´ in der alltäglichen Kommunikation. Dieses Phänomen durchzieht nun allmählich verschiedene Ebenen der Gesellschaft und wird zum Modell einer kulturellen Heterogenität, die die Mestizierung und damit die von Octavio Paz gedeutete existentialistische Tragik des einsamen Mexikaners ersetzt. Kulturelle Heterogenität mündet in die Kulturtheorie der Hybridität, die in den 80er Jahren mit dem Namen von Nestor García Canclini international bekannt werden würde.

 

Die literarische Landschaft nach Tlatelolco

 

Die literarische Landschaft nach Tlatelolco kann aus den vorangehenden Überlegungen abgeleitet werden. Die sich mit der Literatura de la Onda unmittelbar vor Tlatelolco behauptende Jugendkultur hatte unter dem Einfluß der Medien zu einem literarischen Umbruch geführt - weg von exotistischen Visionen hin zur konkreten, persönlichen, individuellen Realität junger Mexikaner. Ironisch wurden die Mythen der Elite demontiert.

 

Nach dem Schock von Tlatelolco ist die Kultur insgesamt ikonoklastisch und mythenstürzlerisch. Der Mythos der Jugend und der im Ephemeren entdeckten neuen Identität wird nun als Zitat stilisiert und parodiert. Intertextualität - etwa zu Rayuela von Julio Cortázar und Tres tristes tigres von Cabrera Infante, die zu dieser Zeit Vorbilder für ganz Lateinamerika sind - und Parodie sind beliebte Stilmittel, und zwar häufiger als dies uns die deutschsprachige Forschung bisher glauben ließ. Nach Tlatelolco werden Mythen zum Material für das Spiel mit den Diskursen, ein Spiel, das freilich die kritische Reflexion nicht außer Kraft setzt. Die Texte von José Agustín sind bis zu den Bänden der Tragicomedia mexicana (1990, 1992) Beispiele hierfür.

 

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der die Literatur nach Tlatelolco kennzeichnet, ist der Status der mexikanischen Geschichte im Bewußtsein der Intellektuellen. Die Chroniken, die nach '68 eine regelrechte Blüte erfahren, sind eine Absage an die heilsgeschichtliche Vision der mexikanischen Geschichte, die die Revolutionspartei zur Legitimationsrhetorik gemacht hatte. Die apokalyptische Hauptstadt, bereits durch Carlos Fuentes mit La región más transparente (1958) eingeführt, gilt für Monsiváis nicht länger als Metapher für die Endzeit der Geschichte, sondern als Freilegung der "evolución natural de las masas". "Apokalypse" kennzeichnet nun einen hybriden, der Ordnung entzogenen Zustand der mexikanischen Massen. Diese Umdeutung begründet den Optimismus Monsiváis' im Hinblick auf den möglichen Demokratisierungspro-zeß. Hierzu gibt er, statt der Elitenkultur, der letzten und einzig gangbaren "sociedad civil al alcance", nämlich der populären Alltagskultur, das Wort. Die Zeit nach Tlatelolco ist zwar aus dem elitären Mythos der "Historie" ausge-stiegen, die Krise wird jedoch als Augen-blick des möglichen Neubeginns verstanden, welcher alte (historische und kollektivpsychologische) Barrieren durchbrechen soll. Das spielerische und krea-tive Potential der gelebten Kultur, die im ironi-schen Aussageakt der Chroniken Monsiváis' erklingt, hat große Resonanz in der mexikanischen Kultur gefunden.

 

Chronist zu sein bedeutet erstmals die historische Vogelperspektive zu verlassen, die Carlos Fuentes´ riesige "murales" von Mexiko Stadt ermöglicht hatten. Wie auch schon in den Chroniken des Mittelalter und der Renaissance, ist die Perspektive des Chronisten personal und subjektiv. Die Provokation durch die Marginalisierten wird zu einem Hauptaspekt der Romane von Elena Poniatowska, heute moderne Klassiker der Literatur nach Tlatelolco. Die "testimonios" marginaler Gestalten, die Poniatowska in Interviews sammelt, werden als Mitschrift von Tonbandprotokollen in die Erzählprosa integriert. Diese poetologische Entscheidung gestaltet den Roman Hasta no verte Jesús mío (1969), den ersten Text ihres engagierten Schaffens zwischen politischer Kritik, Teilhabe am Leid und Ironie. Die alte Jesusa Palancares, die Protagonistin, gilt als sozialer Outsider und als "basura" - wie sie sich selbst bezeichnet (1988:175). Sie ist eine reale Gestalt, die der Interviewerin Poniatowska die eigene Geschichte und mit dieser die Geschichte der Revolution - geführt von der Erzählerin - neu erzählt. Abgesehen von der Entmythisierung der Revolution durch den Blick von Jesusa ist auch die Darstellung der Überlebensenergie der Protagonistin beeindruckend. Dieser Roman begründet den periodismo als eine in den 80er und 90er Jahren beliebte, besondere Form der Erzählliteratur.

 

Mit Poniatowska kommen wir auf einen weiteren Aspekt des kulturellen Wandels, nämlich im Bereich der "escritura femenina". Eine Reihe von Romanautorinnen und Dichterinnen treten auf. Die Crónicas und ihre Variation, die "novelas de las barriagas" sowie Romane von Frauen prägen die literarische Landschaft, gestützt von einer Vielfalt neuer Verlage (insgesamt 50 waren 1992 bei der Frankfurter Buchmesse mit dem Schwerpunktthema "Mexiko" gemeldet). Schließlich ist auch eine Blüte des Essays und des historischen Romans festzustellen, der - wie auch in anderen Ländern Lateinamerikas - sich die Kritik der Historiographie Amerikas zum Thema macht. Als herausragendes Beispiel dieser "nueva novela histórica" muß Noticias del Imperio von Fernando del Paso (1987) genannt werden.

 

Diese Manifestationen einer deutlichen Demokratisierung durch die "contracultura" haben mit einem schwierigen Problem in Mexiko zu kämpfen, nämlich mit der schier `vampirischen´ Fähigkeit der offiziellen Kulturbürokratie, Dissidenten zu integrieren und damit zu `immunisieren´. Die repressiv paternalistische Kulturpolitik der Regierung hat dabei eine starke politische und - bis zum Öl-Crash von 1982 - ökonomische Macht. Auch in Mexiko wird die Kultur zu einer Industrie, die zwar den Mythos der Modernität den unteren Klassen in der Form der "telenovela" nahebringt, dies aber letztlich nur mit dem Ziel tut, den nationalen Chauvinismus durch das Bild von der modernen Gesellschaft zu konsolidieren. Die offizielle Kultur eignet sich so die rhetorischen Formen der Kulturpluralität an und praktiziert bis zur jüngsten Vergangenheit mehr oder weniger unterschwellig stalinistische Formen der Regierungsdemagogie, von denen wir anläßlich des Schwerpunktthemas "Mexiko" auf der Buchmesse in Frankfurt 1992 direkte Kostproben erhalten durften. Dies erfolgte, obwohl nach dem Erdbeben von 1985 erneut jenes Phänomen konkrete Wirklichkeit geworden war, das Monsiváis "cultura civil al alcance" nannte: Die Maßnahmen unmittelbar nach dem Erdbeben, auf das die Regierung überfordert und ratlos reagierte, kamen aus der Privatinitiative der Bürger. Die Gründe für die Schwierigkeit einer politischen Durchschlagskraft der "contracultura" sind komplex. Carlos Monsiváis ist ein Beispiel dieser Komplexität. Hatte er zuerst ein Gegengewicht gegen die institutionelle Macht von Vuelta und von Octavio Paz als Dichterfürsten dargestellt, so wird auch er bald in das Phänomen integriert, das Mario Benedetti schon 1977 die "mexikanische Mafia" genannt hatte.

 

Die kulturelle Szene Mexikos: "un diálogo entre sordos"

 

Carlos Monsiváis hatte im Jahre 1977 El laberinto de la soledad als "hermoso tratado de mitificación" bezeichnet. Nun ist er selbst zum "sakralen Autor" der offiziellen mexikanischen Kultur geworden. Zu den rhetorischen Strategien des Establishments gehört eine sprichwörtliche Mythomanie, die fähig ist, sich auch Schriftsteller der sogenannten "contracultura" einzuverleiben und selbst subversive Formen des Schreibens zum Mythos zu machen. Argumente für die Mythisierung der nationalen Geschichte hatte das politische und kulturelle Establishment (nur scheinbar paradoxer Weise) von El laberinto de la soledad erhalten. Das Ziel Paz´ war es, mit dieser Essaysammlung die nationalistischen Formen der "mexicanidad" durch die existentialistische und universelle Formel der Einsamkeit des Individuums zu ersetzen. Dabei brachte er die gesellschaftliche Entfremdung mit der Eroberung und der Zerstörung autochthoner Kulturen in Verbindung. Er versprach zwar - unter Rückgriff auf den späten Heidegger -, die Einsamkeit durch das ursprüngliche, poetische Wort und mittels der (erotischen) Vereinigung mit dem Anderen zu überwinden, doch blieb in seiner Vorstellung die gesellschaftliche Situation Mexikos durch die Einsamkeit und die Tragik einer entwurzelten Kultur bestimmt, ein Sündenfall, der schließlich nur durch die Utopie der mexikanischen Revolution als "vuelta al origen" überwunden werden konnte.

 

Die mexikanische Formel der "Otredad" erlangte internationales Prestige, so daß sie noch heute im kulturellen Establishment Mexikos ein zentrales Referenzmoment darstellt. Mit der Mythisierung der Revolution als "devolución", d.h. als "vuelta al origen", machte sich Paz - trotz seiner späteren Kritik an der Regierung - indirekt zum Handlanger des Parteidiskurses, besonders infolge seiner elitären Auffassung des Volkes als "lo otro", als Masse von "campesinos", die ihrer Identität beraubt und der "Frau" ähnlich sind. Paz spricht für "den" Mexikaner und verfestigt mit dem Symbol des Verrats durch die Malinche die Vorstellung eines Mangels und eines Makels am Ursprung der Geschichte Mexikos. Er, der Dichterfürst, definiert die Identität der Mexikaner von oben herab als "vencidos". Dies hat gravierende Folgen: Denn, solange man die Geschichte Mexikos als Ergebnis der Konflikte zwischen "vencedores" und "vencidos" beurteilt, kann die Vergangenheit nur als defizitär beurteilt werden. So ist auch nur kohärent, wenn Paz die Geschichte Mexikos als die Geschichte eines entfremdeten kollektiven Subjekts charakterisiert, ein Subjekt, dessen Wesen das "nada", das "vacío" selbst ist.

 

Die Problematik dieses Identitätsmodells ist vielseitig untersucht worden. Besonders in der deutschsprachigen Lateinamerikanistik ist jedoch die Kritik am Oppositionspaar Geschichte - Mythos, jener "divina pareja", die die Überlegenheit des Dichters gegenüber der Historiographie Amerikas begründet hat, nicht hinlänglich erfolgt. Eine kritische Analyse von Diskurstypen, die eine solche Überlegenheit der mythischen Geschichte begründen, ist jedoch notwendig, weil eine solche Opposition koloniale Formen der Epistemologie fortsetzt. Mit dem Begriff "divina pareja" beziehe ich mich auf das Buch von Jorge Aguilar Mora (1978), das in Mexiko großen Erfolg verbuchen konnte, in Deutschland jedoch weniger rezipiert wurde. Aguilar Mora kritisiert den Ersatz historischen Denkens durch den Mythos, wie dies Paz in seinen sog. kulturhistorischen Essays getan hat. Der Mythos schien die Alternative zu einer eurozentrischen, teleologischen Geschichtsschreibung zu sein.

 

Damit schien auch das Problem der Kolonialisierung des Wissens gelöst worden zu sein. Im Rahmen des Boom der lateinamerikanischen Literatur glaubte man das Ziel der Unabhängigkeit von Europa kulturell erreicht zu haben. Mythische Konzeptionen der Geschichte Mexikos eröffnen jedoch lediglich einen statischen Zugang zu gesellschaftlichen Phänomenen. In El arco y la lira (1956) hatte Paz mythisches Denken als Alternative zum historischen Denken angeboten, das teleologisch und damit von der europäischen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts beeinflußt war. Dichtung, und - im Rahmen der Literatur des Boom - auch die üppige Phantasie der sog. magisch realistischen Romane sollten die Leere füllen, die die vermeintliche Zerstörung der präkolumbianischen Kultur am Ursprung der lateinamerikanischen Geschichte und auch die nachfolgenden Phasen der kolonialen Abhängigkeit hinterlassen hatten. Diese Alternative, die schon seit Artistoteles' Würdigung des Mythos als Entwurf des Möglichen gilt und damit der faktischen Geschichtsschreibung höhergestellt ist, gehört zu den Kardinalmomenten der klassischen Kultur, die auf dem Weg der romantischen Sakralisierung der Einbildungskraft in die Moderne einging und die Huldigung der Imagination bei Paz begründet. Die Einbildungskraft - so auch die Hauptthese von El arco y la lira - habe die Fähigkeit, die Geschichte Lateinamerikas (mythisch) neu zu schreiben. Als Bestandteil autochthoner Kulturen galt die "mythische" Geschichte ohnehin als "wahrer" als die Historiographie, denn letztere war im Zuge der Übernahme von Geschichtsmodellen des 19. Jahrhunderts und damit auf der Basis einer eurozentrischen Perspektive entstanden.

 

Das mythische Modell von Geschichte und die Allianz von literarisch gestifteter, ontologischer Kompensation der Geschichte und nationalistischem Chauvinismus haben die Bildung eines historischen und historisierenden Bewußtseins beeinträchtigt. Entgegen dem sehnsüchtigen Festhalten Europas am mythischen Bewußtsein Lateinamerikas wurden diese Probleme in Mexiko und in Lateinamerika allgemein recht früh in aller Deutlichkeit analysiert. So etwa durch Aguilar Mora: Die Alternative des Mythos als kreatives Moment gegen die europäische Geschichte basiere auf einer dogmatischen Reduzierung des Begriffs der Teleologie. Paz setze die Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, nämlich die heilsgeschichtliche Vorstellung der historischen Entwicklung mit der "Geschichte" gleich. Dabei annulliere er die Historizität im doppelten Sinne (die Entwicklungsgeschichte in der Vergangenheit und die Geschichtlichkeit des Betrachters) und behalte das Privileg der historischen Beurteilung dem (poetischen) Interpreten vor, dessen zeitlicher Bezugspunkt bei ihm und nicht bei den Mexikanern liegt (Aguilar Mora, 1978:44). Die Zeit, die Paz postuliert, wird zu Recht als eine ewige und universelle Gegenwart bezeichnet. Es ist die ewige Gegenwart des (seines) Buchs. Die in den Essays von Paz entwickelten diachronischen und synchronischen Bilder basieren auf einem Oppositionssystem, das Ähnlichkeiten und Korrespondenzen konstruiert, welche der ewigen Gegenwart seiner eigenen, alternativ entworfenen Geschichte entsprechen. In diesem Sinne spricht Paz im Labyrinth der Einsamkeit nicht nur von Mythen, sondern mythisiert auch die Vergangenheit. Sein Diskurs gibt bestimmte Symbole als "naturhaft" aus, obwohl sie das Resultat einer historischen Wahl und einer historischen Perspektive sind, die der Dichter eingenommen hat, ohne dies preiszugeben oder kritisch zu reflektieren. Die Identitätssuche, so Aguilar Mora, sei der axiomatische Punkt der Logik von Paz. Deswegen schließe er aus seiner "Geschichte" all das aus, was sich nicht an seine Identitätskonzeption anpassen läßt. Mit der atemporalen, ahistorischen Sicht von El laberinto de la soledad negiere Paz auch die Möglichkeiten des Mexikaners, sich historisch zu entwickeln. Vielmehr schreibe er die Gegenwart des Mexikaners auf ewig fest, jene defizitäre Gegenwart des angeblich arbeitsunfähigen, weil verschlossenen, melancholischen "campesino". Die Universalgeschichte, die Paz entwirft, sei eine Dispersion von diskontinuen Formen der Gegenwart innerhalb einer geraden Linie, weswegen auch Argumentationswechsel keine substantielle Änderung implizieren. Die Kritik am PRI bleibe anekdotischer Natur. Weil Paz die Opposition zwischen Mythos und Geschichte stets zugunsten des Mythos' konzipiere und diesen als ontologische Essenz der Identität verstehe, negiere er die Historizität. Die Geschichte stehe weiterhin zu Diensten einer universellen, mit der Formel der "Otredad" konzipierten Identität.

 

Das synthetische Konzept der "raza cósmica" will Paz dadurch verbessert haben, daß er mit der "Otredad" die Differenz, die Präsenz des Fremden im Eigenen betont. Die Betonung der Differenz erleichtert den Schritt zur kulturellen Pluralität, die von Carlos Fuentes entwickelt wird. Ist die Vision von Paz im Hinblick auf die Geschichte asozial und unbeweglich, so übernimmt Carlos Fuentes das gleiche Fundament, konzipiert darauf aufbauend pluralistische Kulturbegriffe, die jedoch der historischen Unbeweglichkeit nur eine postmoderne Maske verleihen. Dies trifft auch für seine multimediale Serie von Buch, Videos und Film über die "verborgene" Geschichte Mexikos zu. In El espejo enterrado, einem Medienspektakel, das pünktlich zum Jubiläumsjahr 1992 erscheint, bezieht sich Fuentes auf den vom Anthropologen Bonfil Batailla begründeten Begriff "México profundo". Der Autor beruft sich damit zwar auf eine verborgene "andere Geschichte" und schöpft dabei ein gigantisches Gemälde desselben, das den schon von Paz behaupteten kulturellen Nihilismus kompensieren soll. Fuentes verlegt die Verantwortung für die Überwindung der Barbarei in die Imagination des Schriftstellers und lenkt davon ab, daß die Barbarei trotz Zivilisation nicht nur in der realen, sondern auch in der imaginierten, virtuellen Welt weiterbesteht. Auch diese Kritik wurde durch den kolumbianischen Schriftsteller Moreno-Durán in Lateinamerika sehr früh hervorgebracht (1976).

 

Die Kritik am Ersatz der Historiographie durch eine in seiner eigenen Logik unveränderliche und ahistorische Phantasie scheint auch für die Literaturgeschichte relevant. Die Durchsetzung der im Vorangehenden skizzierten Positionen hat die Rezeption einer ganzen Reihe von Aspekten mexikanischen Denkens verhindert. Die Beschäftigung mit der Historizität der eigenen Kultur und die kritischen Stimmen gegen die historischen Mythen der "mexicanidad" blieben weitgehend verkannt. Um den Ersatz von Identitätsmythen durch die kulturellen Heterotopien, die das Wesen auch der Literatur vor Tlatelolco ausmachten, habe ich mich in meiner Monographie Mexico jenseits der Einsamkeit. Versuch einer interkulturellen Analyse (1994) bemüht. Doch veranlaßt mich die Diskrepanz zwischen dem Bestehen (auch vor Tlatelolco) einer Distanzierung vom mythomanen Bild Mexikos und der geringen Resonanz dieser kritischen Züge in der internationalen Rezeption zu folgender Diagnose: Das, was manchen Literaturwissenschaftlern als eine kulturelle Wende der 80er Jahre im Zuge der Postmoderne erscheint, ist vielmehr ein Wechsel in der epistemologischen Sicht und nicht notwendig in der diskontinuen Geschichte literarischer und kultureller Manifestationen.