Zur Rezeption des spanischen Gegenwartstheaters in Deutschland

von Wilfried Floeck

Um die Kenntnis des modernen spanischen Theaters in Deutschland ist es nicht gut bestellt. Das gilt freilich nicht nur für den deutschsprachigen Raum. Vielmehr kann die Situation des modernen spanischen Theaters international als desolat bezeichnet werden. Das hängt zweifellos damit zusammen, daß die Spanier infolge der politischen Verhältnisse des Landes in unserem Jahrhundert gerade die dramatischen Neuerer im eigenen Land ignoriert oder unterdrückt und um ihren Einfluß gebracht haben. Mit Ausnahme von Federico García Lorca (1898-1936) und mit einigen Einschränkungen Antonio Buero Vallejo (*1916) sind gerade die großen spanischen Dramatiker unseres Jahrhunderts, von Ramón del Valle-Inclán (1866-1936) und Miguel de Unamuno (1864-1936) über Rafael Alberti (*1902) und Max Aub (1908-1972) bis Alfonso Sastre (*1926) und Francisco Nieva (*1924) weder in Spanien noch im Ausland wirklich rezipiert und aufgeführt worden und sind damit ohne entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung des Theaters in der westlichen Welt geblieben. Selbst der große Erfolg García Lorcas ist unter dem Gesichtspunkt seines Einflusses auf die Entwicklung des Theaters mehr als problematisch, da gerade seine ästhetisch anspruchsvollsten Werke wie Das Publikum (El público) oder Sobald fünf Jahre vergehen (Así que pasen cinco años) bis in die achtziger Jahre kaum aufgeführt und rezipiert wurden, während seine Erfolgsstücke eine folkloristisch entstellte und verzerrte Rezeption erlebten, die in hohem Maße durch die volkstümelnden Übersetzungen Enrique Becks bedingt sind. Hier wird sich wohl erst in den nächsten Jahren eine Änderung ergeben, wenn der noch schwelende Rechtsstreit zwischen der Beck-Stiftung auf der einen sowie den Erben Lorcas und dem Suhrkamp Verlag auf der anderen Seite gelöst ist und schon gedruckte Neuübersetzungen wie diejenige von Bernarda Albas Haus (La casa de Bernarda Alba) durch Hans Magnus Enzensberger endlich ausgeliefert werden können.

 

Die jahrhundertealte Tendenz Spaniens zur politischen und kulturellen Selbstisolierung, die Wirren des Bürgerkriegs, die Dominanz diktatorischer Regime in den zwanziger Jahren unter Primo de Rivera sowie von den vierziger bis in die Mitte der siebziger Jahre unter Franco mit ihren restriktiven Zensurbestimmungen, die kommerzielle Ausrichtung des privat organisierten spanischen Theaterwesens und der konservative bürgerliche Publikumsgeschmack sind wohl die wichtigsten Faktoren, die dazu geführt haben, daß sich gerade die thematisch progressiven und ästhetisch avancierten Werke nicht durchsetzen konnten, und damit gleichfalls ohne eine adäquate Wirkung blieben. Im Ausland hat darüber hinaus das gängige Klischee von der Andersartigkeit Spaniens mit dazu beigetragen, eine breite Rezeption des spanischen Theaters zu verhindern. Francisco Ruiz Ramón hat diesen Sachverhalt am klarsten auf den Begriff gebracht, als er 1992 vom "Drama" und 1994 noch schärfer von der "Pathologie" des zeitgenössischen Theaters in Spanien sprach, für die er neben der politischen Situation Spaniens vor allem den "fracaso de las mediaciones" verantwortlich machte:

 

El teatro español no es superior ni inferior a los otros teatros europeos. No es en el nivel axiológico, sino en el nivel social y cultural de la relación dialéctica entre teatro/sociedad en el que habría que investigar la anormalidad como síntoma, causa o consecuencia -según los casos- de una situación crónica de descomunicación radical entre ambos y de deslectura mútua o recíproca, fenómeno éste que nada tiene que ver con la no comunicación o con la no lectura ni con la comunicación y la lectura deficientes, sino con el falseamiento absoluto o relativo -según los casos- de la mediación entre emisor y receptor. (Ruiz Ramón 1994.25.)

 

Die weitgehende Unbekanntheit des modernen spanischen Theaters außerhalb Spaniens sowie vor allem seine Abwesenheit auf den internationalen Bühnen haben natürlich darüber hinaus auch praktische Gründe. In Europa und Nordamerika ist es vor allem die Sprachbarriere, die eine Rezeption spanischer Texte durch Verleger, Intendanten, Dramaturgen, Regisseure und Kritiker erschwert. Es fehlt an Übersetzungen sowie an kritischen und vermittelnden Darstellungen in den jeweiligen Landessprachen - eine zentrale Aufgabe der jeweiligen nationalen hispanistischen Theaterwissenschaft. In diesem Bereich ist auch in Deutschland noch viel zu tun.

 

Von spanischen Dramatikern des 20. Jahrhunderts ist - wie stets mit Ausnahme García Lorcas - auch auf deutschsprachigen Bühnen in der Tat nur wenig zu sehen. Das gilt natürlich besonders für die jungen Autoren, die nach 1975 ihre ersten dramatischen Texte verfaßt haben. Immerhin sind in den vergangenen sechs bis sieben Jahren dank der Initiative einiger Hispanisten sowie aufgrund des Engagements einiger Bühnenverlage wie Stefani Hunziger in Bad Homburg, Theaterstückverlag und Ahn & Simrock in München sowie henschel Schauspiel in Berlin vereinzelte Werke von zeitgenössischen spanischen Dramatikern übersetzt worden und liegen als Bühnenmanuskripte in deutscher Sprache vor. Darüber hinaus veröffentlichte der Merlin Verlag 1997 unter dem Titel Wolfsbräute vier Kurzdramen in der Übersetzung von Angelika Theile-Becker: das Triptychon Das ist nicht wahr (No es verdad), Rotkäppchen und der andere (Caperucita y el otro) und Äußerst tierlieb (Te quiero, zorra) sowie das "kleine Orchesterpräludium" Der Schimpf- und Schandkrieg von Opalos und Tasia (El combate de Ópalos y Tasia). Ich selbst habe im gleichen Jahr im Francke Verlag eine Anthologie von acht spanischen Dramen von Antonio Buero Vallejo, José Luis Alonso de Santos (*1942), Fermín Cabal (*1948), José Sanchis Sinisterra (*1940), Paloma Pedrero(*1957), Concha Romero (*1945), Sergi Belbel (*1963) und Ernesto Caballero (*1957) in deutscher Übersetzung herausgegeben (vgl. die Besprechung der Anthologie im Rezensionsteil des vorliegenden Heftes). Den Weg auf eine deutschsprachige Bühne haben dagegen meines Wissens bislang zehn Werke gefunden, davon allein sechs von Belbel, der sich unter den jungen spanischen Dramatikern international am besten durchzusetzen scheint: Sanchis Sinisterras Hay, Carmela! 1991 in Berlin und El cerco de Leningrado (Vor dem Abriß) 1995 in Schwerin; Belbels Caricias (Liebkosungen) im gleichen Jahr in München, Después de la lluvia (Nach dem Regen) ebenfalls 1995 in Hamburg, Talem (lecho conyugal) (Spielwiese, zwei im Quadrat), 1996 in Esslingen, Morir (Ein Augenblick vor dem Sterben) 1998 in Dresden und En compañía de abismo (In Gesellschaft von Abgrund) im gleichen Jahr in Bielefeld; Alfonso Sastres Guillermo Tell tiene los ojos tristes (Die traurigen Augen des Wilhelm Tell) 1996 in Zürich; María Manuela Reinas (*1958) Stück Un hombre de cinco estrellas (Ein Fünf-Sterne-Mann) 1997 in München sowie Josep Maria Benet i Jornets Deseo (Begehren) ebenfalls 1997 in Bonn. Dabei fällt auf, daß die Rechte der aufgeführten Stücke fast alle beim Berliner henschel Schauspiel liegen, dessen Leiter Wolfgang Schuch einer der wenigen guten Kenner des spanischen Gegenwartstheaters unter den deutschsprachigen Theateragenten ist, der zudem über die erforderlichen spanischen Sprachkenntnisse verfügt. Die hier erstellte Bilanz ist noch keineswegs zufriedenstellend, doch mag die Tatsache, daß zwischen 1995 und 1998 gleich neun Stücke in deutschsprachiger Uraufführung herausgekommen sind, Anlaß zur Hoffnung auf eine positive Veränderung in der Zukunft geben.