Der Ball muß rollen - um jeden Preis

Gewalt und bankrotte Vereine ruinieren den argentinischen Fußball

von Udo Löffler

Seit Monaten verzögert sich in Argentinien der Start in die neue Fußballsaison, weil die Gewalt in und um die Stadien eskaliert - Tote und Verletzte scheinen mittlerweile zur Normalität zu gehören. Nachdem der Ball nun endlich rollt, konnte die Teilnahme des bankrotten Traditionsclubs Racing nur durch ein umstrittenes Eingreifen von Politikern gesichert werden.

 

Ausgerechnet in Palermo, einem noblen Wohnviertel von Buenos Aires, wollte die Auslandskorrespondentin der Süddeutschen Zeitung ihrem Haus einen freundlichen blauen Anstrich verpassen. Eigentlich ist das ja noch kein Verbrechen, doch nach Lesart der argentinischen Fußball-Landkarte sieht das anders aus: Palermo ist das Revier des ebenfalls noblen Fußballclubs River Plate und blau die Farbe des verhaßten Arbeiterclubs Boca Juniors. Daß der Postbote sich, mit Leib und Seele River Plate-Fan, durch die blaue Farbe provoziert fühlte, und sich weigerte, der deutschen Journalistin die Post zuzustellen, gehört zu den amüsanten Anekdoten, die der südamerikanische Fußball-Fanatismus schreibt. Doch diese Anekdoten werden selten. Die Gewalt in und um die Stadien eskaliert zunehmend - Tote, Verletzte und marodierende Jungendgangs gehören in Argentinien zu den ‚normalen' Begleiterscheinungen eines Spieltags. ‚Barrabravas' werden die militanten Fußballfans am Río de la Plata genannt. Ihre Streitseligkeiten tragen sie schon lange nicht mehr mit bloßen Fäusten aus, sondern mit Messern und Schußwaffen.

 

"Die Gewalt wird zur Gewohnheit" titelte die Sportzeitung Olé 1994, als nach dem Abpfiff des Spitzenspiels Boca Juniors gegen River Plate zwei River-Fans erschossen wurden. Am nächsten Tag - River hatte das Spiel 2:0 gewonnen - prangte in Buenos Aires an einer Hauswand:

 

"Empatamos", was soviel heißt wie "wir haben ausgeglichen". Die Mörder wurden gefaßt und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. In diesem Urteil stuften die Richter die 'barrabravas' erstmalig als eine kriminelle Organisation ein, die sich nicht nur mit Vorliebe mit anderen Fans prügeln, sondern ihr Betätigungsfeld längst auf Waffenschieberei und Drogengeschäfte ausgeweitet haben. Im Dezember vergangenen Jahres zog Richter Víctor Perrota die Notbremse, nachdem sich bei einem Zweitligaspiel Fans mit Spielern und Betreuern auf dem Spielfeld geprügelt hatten. Er pfiff die Meisterschaft der unteren Ligen ab und schloß sich der Meinung der Organisation Fair Play an, die ihre Klage damit begründet hatte, daß die Sicherheit der Zuschauer nicht mehr gewährleistet werden könne. Fair Play forderte bessere Sicherheitsvorkehrungen in den Stadien wie Eingangskontrollen, Videoüberwachungen und Stadionverbot für gewalttätige Fans.

 

"Bleibt auf dem Rasen..."

 

Doch der Ball muß rollen - um jeden Preis. Ein Berufungsgericht hob Anfang März das Urteil des Richters Perrota wieder auf und nun kann der Spielbetrieb wieder aufgenommen werden. Zuvor hatten sich die Spieler der ersten Liga Mitte Februar geweigert, aus Solidarität mit den arbeitslosen Kollegen aus der zweiten Liga, ihrer Arbeit auf dem Spielfeld nachzukommen und waren in einen unbefristeten Streik getreten.

 

Vor dem Berufungsurteil kam es bei einem Freundschaftsspiel zwischen Boca-Juniors und dem Zweitligisten Chacarita allerdings wieder zu wüsten Jagdszenen auf den Rängen. José Basualdo, Spieler bei Boca, nahm den Ball nach 40 Minuten in die Hand - ihm war die Lust aufs Spielen vergangen. Die Versuche der Spieler zu schlichten, quittierten die ‚Fans' von der Tribüne mit den Worten: "Bleibt auf dem Rasen, sonst seid ihr auch gleich mit dran !" Das Spielverbot sollte ein Warnsignal an die Vereine sein, endlich selbst etwas gegen diese militanten Fangruppen zu unternehmen, die den argentinischen Fußball kaputtmachen. Die Verantwortlichen der Clubs jedoch waschen ihre Hände in Unschuld, denn schließlich, so Mauricio Macri, Präsident von Boca Juniors, "kennen wir die Täter nicht". Dabei ist es in Argentinien ein offenes Geheimnis, daß die ‚barrabravas' bei Heimspielen freien Eintritt haben und die Vereine ihnen die Anreise zu den Auswärtsspielen finanzieren.

 

Nach den jüngsten Ausschreitungen wurde Staatsanwalt Gabriel Nordiello in der Geschäftszentrale von Boca vorstellig. Mehrere Stunden verbrachte er mit dem Vergleich der Videoaufnahmen aus dem Stadion und der Mitgliederkartei. Dabei suchte er nicht nur die Adressen der flüchtigen Hooligans, sondern versuchte auch das Beziehungsgeflecht zwischen Verein und Fangruppen zu entwirren.

 

Unterm Strich hat der Abpfiff der Meisterschaft nichts gebracht, außer einer kleinen Verschnaufpause, denn auch künftig wird es kein Zutrittsverbot für gewalttätige ‚barrabravas' geben und eine Videoüberwachung ist erst ab 25.000 Zuschauern vorgeschrieben. Allerdings wurde der Seitenwechsel abgeschafft, nachdem Paraguays Nationaltorwart Luis Chilavert nach einem Seitenwechsel durch Knallkörper verletzt wurde, die gegnerische Fans aus dem Block hinter seinem Tor geworfen hatten. Die eskalierende Gewalt in und um die argentinischen Fußballstadien kratzt schwer am Image der ‚schönsten Nebensache der Welt'.

 

Evita verehrte Racing

 

Aber auch die katastrophale Finanzsituation der Vereine stellt eine Bedrohung für den argentinischen Fußball dar. Richter Perrota hatte mit seinem Spielverbot die argentinische Fußballwelt an ihrer empfindlichsten Stelle attackiert: dem Geld. Es gibt kaum einen Club in Argentinien, der nicht auf einem riesigen Schuldenberg sitzt und die Verbindlichkeiten der argentinischen Pleiteliga belaufen sich auf hunderte von Millionen Dollar. Mehr als die Hälfte der Erstligavereine haben sich die Übertragungsrechte für das Fernsehen schon drei Jahre im Voraus gutschreiben lassen, um die laufenden Kosten zu decken. Da sich in Argentinien die Vereine selbst vermarkten, geraten vor allem kleine Vereine schnell in eine finanzielle Abhängigkeit von den Fernsehsendern. Diese müssen einigen Vereinen sogar das Geld leihen, damit diese ihre kickenden Angestellten bezahlen können. Dabei verdienen die Vereine gar nicht schlecht mit dem Export von Spielern, was neben dem Verkauf von Fernsehrechten die Haupteinnahmequelle darstellt: 35 Spieler wechselten 1998 allein nach Europa.

 

So war die Freude über die endlich beginnende Meisterschaft auch nur von kurzer Dauer: "Racing existiert nicht mehr", erklärte die Konkursverwalterin Liliana Ripoll und der traditionsreiche Club, der in der argentinischen Schuldenpyramide an der Spitze steht, stand plötzlich nicht nur vor dem finanziellen Aus, sondern auch ohne Lizenz da. Daniel Lalín, Präsident von Racing und vor einem Jahr mit dem Vorsatz angetreten, den im unteren Tabellendrittel herumdümpelnden Verein wieder an die Spitze zu führen, mußte sein Scheitern und die Auflösung des Vereins vor 3.000 aufgebrachten Fans eingestehen. Die Versammlung wurde abgebrochen, weil ein wütender Fan dem Präsidenten eine Trommel an den Kopf geworfen hatte. Dabei kann der Fußballverein Racing auf eine ruhmvolle Vergangenheit zurückblicken: fünfmaliger Meister zwischen 1913-1917, ein Meisterschaftshattrick zwischen 1949-1951 und Racing war die erste argentinische Mannschaft, die 1967 den Weltpokal gewann. Auch Evita Perón war eine glühende Verehrerin dieses Vereins und ließ Racing das modernste Stadion in Lateinamerika bauen, obwohl es im ganzen Land keinen Zement gab. "Heute verliert Racing sogar noch vor Gericht" spottete eine Tageszeitung nach dem Aus. Tausende Anhänger demonstrierten tagelang in den Straßen von Buenos Aires und 30.000 Fans fanden sich am ersten Spieltag, der ohne ihre Mannschaft ausgetragen wurde, im Racing-Stadion ein.

 

Rettung aus Kalkül

 

Am 15. März diesen Jahres nahm sich dann die Politik der sportlichen Tragödie an. Racing kann sich nun als "ein nationales Kulturerbe" bezeichnen und die Schulden wurden für ein Jahr zurückgestellt. Die Rettungsaktion war die Idee des argentinischen Vizepräsidenten und Racing-Fans Carlos Ruckauf, der für seinen Gesetzentwurf auch mit der Unterstützung von Staatspräsident Menem rechnen konnte. Bei soviel Solidarität und Sympathie mit dem am Boden liegenden Verein meinte plötzlich auch das zuständige Gericht, der Lizenzentzug sei "falsch interpretiert worden" und die Konkursverwalterin Ripoll räumte ein, die Situation falsch verstanden zu haben. Ruckauf konnte bei der Rettung des Fußballvereins auch mit Unterstützung aus den Reihen der Opposition rechnen: Graciela Fernández Mejide, prominente Politikerin des Parteienbündnisses Alianza, die politisch wenig gemein hat mit dem Vizepräsidenten, ist ebenfalls begeisterte Racing-Anhängerin. Unisono betonen alle Politiker, die Rückstellung der Schulden bedeute auf keinen Fall, daß der Staat sie übernehmen werde.

 

Hinter der parteiübergreifenden Rettungsaktion dürfte aber mehr politisches Kalkül als wahre Fußballbegeisterung stecken: Beide Politiker treten im Oktober als Konkurrenten bei den Gouverneurswahlen in der Provinz Buenos Aires an. Racing zählt hier mehr als eine Million Sympathisanten und das Engagement für den Verein könnten viele der potentiellen Wähler mit einem Kreuzchen an der richtigen Stelle danken. Miguel Bein, Wirtschaftsexperte der Alianza, ist als Racing-Fan zwar auch glücklich, daß sein Verein weiter um fußballerische Ehren kämpfen darf, "...andererseits werden damit die Klubverantwortlichen ermuntert, sich weiterhin an ihren Vereinen zu bereichern, statt sie ordentlich zu führen", bemerkte er jedoch kritisch.