Nobelpreis für Saramago

Porträt eines eigensinnigen Erzählkünstlers

von Ricarda Bruder

Stockholm, 8. Oktober 1998. Um Schlag ein Uhr mittags ist man in der schwedischen Akademie bereit, den diesjährigen Nobelpreisträger in Literatur zu verkünden. Die Entscheidung haben 14 von den ursprünglich 18 Mitgliedern der Jury zu verantworten, denn vier von ihnen haben sich in den letzten neun Jahren mit Rücktrittsgesuchen von diesen Verpflichtungen befreit. Unter ihnen der schwedische Schriftsteller Knutt Ahnlund, der aus Protest gegen die ‘Kurzsichtigkeit´ der Wahlentscheidungen aus dem Gremium ausschied. Was also hat man von dieser Jury, die mehrheitlich aus Schriftstellern und Professoren besteht, zu erwarten? Immerhin geht es hier um einen Geldpreis von ca. 1,6 Millionen Mark und um die keineswegs unerhebliche Reputation des ausgezeichneten Autors auf dem Literaturweltmarkt. Der glückliche Gewinner von 1998 heißt José Saramago, gebürtiger Portugiese, gelernter Maschinentechniker und militanter Kommunist. Anders als bei Dario Fo 1997 war die Wahl Saramagos nicht eine so komplette Überraschung. Er stand bereits einige Jahre auf der ‘Warteliste´, wie auch sein Landsmann António Lobo Antunes, der Brite Salman Rushdie, der Belgier Hugo Claus, der Mexikaner Carlos Fuentes, der Peruaner Vargas Llosa, der Brasilianer Jorge Amado und der chinesische Dichter Bei Dao.

 

Zur Zeit der Verkündung befand sich José Saramago auf dem Frankfurter Flughafen, auf dem Weg von der Frankfurter Buchmesse wieder in seine Wahlheimat Lanzarote. Dank moderner Telefontechnik erreichte ihn auch dort die Nachricht und er konnte schnurstracks wieder die Buchmesse aufsuchen, um sich dem Journalistensturm zu ergeben. „Die Kameras, die ganze Aufregung, sie richten sich auf den Nobelpreis und nicht auf all das, was ich geschrieben habe“. Großherzig und ehrenhaft widmet er den Preis allen portugiesischsprachigen Völkern. „Wenn wir schon einmal dabei sind ... auch wenn der Preis für Euch alle sei, erlauben Sie mir: Ich behalte das Geld.“ Für Portugal hat die Preisverleihung an Saramago besondere Bedeutung. Es ist nicht nur ein kleines, sondern auch ein randständiges Land, welches sich nun auf dem Gebiet der Literatur in der ganzen Welt bekannt machen kann.

 

Der Blick in die Ferne aus zwei halbgeschlossenen Augen ist vieldeutig. Die Augenlider liegen tief und schwer über dem Augapfel. Müdigkeit, Traurigkeit vielleicht Resignation schauen uns aus dem Augenpaar hinter der großen Brille, die die Augen noch ein bißchen kleiner und unscheinbarer wirken lassen, an. Die äußerst hochgezogenen Augenbrauen erwecken jedoch einen anderen Eindruck: Anwesenheit, Aufgewecktheit, Beteiligung. Die Lippen schmal und zusammengepreßt zeugen von einem, der sich durchbeißt. Die ausgeprägten Falten rahmen sein Gesicht ein. Tiefe Linien laufen von der hohen Stirn über die Seiten bis an die Schläfen. Die große Hand, das Werkzeug, der Übersetzer seiner Gedankenwelt, legt er nachdenklich auf die kahle Stirn.

 

José Saramago stammt aus einer Bauernfamilie aus einem kleinen Dorf nördlich von Lissabon gelegen. Wegen Geldmangel konnte er die Schule nicht beenden und mußte sich fortan in den verschiedensten Berufen versuchen, wie z.B. als Maschinentechniker, in der öffentlichen Verwaltung, in Verlagen und Zeitungen. Seine anfänglichen literarischen Versuche wurden kaum registriert. 1982 jedoch gelang ihm mit dem blasphemischen und humoristischen Liebesroman Memorial do Convento sogar international der Durchbruch. Es ist ein facettenreicher und vieldeutiger Text, der gleichzeitig eine historische, soziale und individuelle Perspektive enthält. Auch in den darauf folgenden Romanen O Ano da Morte de Ricardo Reis (1984), A Jangada da Pedra (1986), História do Cerco de Lisboa (1989), O Evangelho segundo Jesus Cristo (1991), Ensaio sobre a Cegueira (1995), Todos os Nomes (1997) beweist Saramago jedes mal von Neuem mit was für einer überaus lebhaften schöpferischen Phantasie er ausgestattet ist. Bei der Gestaltung seiner Romane geht er von einem historisch genau festgelegten realistischen Kern oder einer wahrscheinlich wirkenden Erzählweise aus. Das Reale dient jedoch nur als Ausgangspunkt, um schließlich das Phantastische zu erreichen. Vom Bekannten wechselt er zum Übernatürlichen, vom Prosaischen zum Ungewöhnlichen. Der Diskurs wird von Vermutungen und Abschweifungen eines seine persönliche Meinung äußernden Erzählers durchbrochen. Der ironische Ton relativiert alles, macht Fakten unsicher, selbst die historischen Ereignisse, die in einer postmodernen Haltung neu bewertet werden.

 

Der 1991 erschienene Roman Evangelho segundo Jesus Cristo, in dem Gott und der Teufel über das Böse verhandeln, Jesus seine Rolle in Frage stellt und Gott herausfordert, löst in Portugal einen unangenehmen Konflikt aus. José Saramago wird vom Kulturministerium als Bewerber für den europäischen Literaturpreis zurückgezogen. Diese Quasi-Zensur, die Portugal mit der Überwindung der Diktatur 1974 eigentlich hinter sich gelassen haben sollte, hat den Erfolg, daß das Buch im Ausland erst recht gekauft wird. Für José Saramago ein sicherlich nicht unerheblicher Grund, seinen Wohnort von nun an nach Lanzarote zu verlegen. Der darauf folgende Roman Ensaio sobre a Cegueira klingt wie die Abrechnung mit einer Gesellschaft, an die er nicht mehr glauben kann: Alle Menschen erblinden auf unerklärliche Art und Weise. Dieses allgemeine Nichtsehen bringt eine völlige soziale Unordnung mit sich. Die Welt gerät aus den Fugen und reduziert sich auf einen düsteren Ort. Trotz des klanglosen Untergangs politischer Träume eines Paradieses auf Erden hält Saramago jedoch am utopischen Diskurs einer gerechten und solidarischen Gesellschaft fest.

 

José Saramago ist ein erklärter Atheist und Kommunist. In seinem Werk werden Dogmen hinterfragt und es findet eine Auseinandersetzung mit der christlichen Passionsgeschichte und dem apokalyptischen Diskurs statt. Wen wundert es da noch, daß auch der Vatikan wieder einmal seine Kompetenz in Sachen Literaturfragen unter Beweis stellen mußte. Die Schwedische Akademie hätte eine politische Wahl getroffen, verlautete das offizielle Organ des Vatikan L‘Osservatore Romano. Für den Vatikan bedeuten die mehrfach ‘roten´ Nobelpreise ein permanentes Leiden. Und die Kritik Knutt Ahnlunds an der ‘Kurzsichtigkeit´ des schwedischen Gremiums ist erklärlich geworden. Trotz alledem waren in den portugiesischen Buchhandlungen einen Tag nach der Preisverleihung sämtliche Saramago Titel binnen weniger Stunden ausverkauft.