Mexiko nach Tlatelolco

Streifzüge durch die mexikanische Gegenwartsliteratur

von Friedhelm Schmidt

Der Titel trifft die Sache. Wer einen Überblick zur mexikanischen Gegenwartsliteratur erwartete, der wird sich - entgegen dem Anspruch der Autoren, den Kanon zu erweitern - mit Streifzügen begnügen müssen, die oft genug nur einer Fährte folgen: derjenigen sozial engagierter Literatur. Der Band behandelt Dokumentarliteratur, die Darstellung von Gegenkultur, Studentenbewegung, Stadtteilkultur sowie die Repräsentation staatlicher Willkür. Bei aller Sympathie für die Wiedergewinnung politischer und sozialer Aspekte bedeutet das eine Ausgrenzung all jener Literatur, die sich nicht unter diese Kategorien subsumieren läßt. Daß Lyrik nur am Rande erwähnt wird, ist deshalb folgerichtig. Daß allerdings der seit den 80er Jahren so bedeutende neue historische Roman völlig ausgeklammert wird, verwundert. Die Artikel kreisen, mit Ausnahme derjenigen zur zeitgenössischen Frauenliteratur, um das Massaker von Tlatelolco 1968 und die durch dieses Ereignis ausgelösten Brüche in der Literatur und Kultur der späten 60er und 70er Jahre.

 

Hat man diese Einschränkungen akzeptiert, liest man die Artikel mit Erkenntnisgewinn. Ich bezweifle zwar, daß es eines weiteren Grundrisses mexikanischer Geschichte bedurft hätte, mit dem Sebastian Thies den Band einleitet, und den man getrost auch anderswo hätte nachlesen können. Die übrigen Beiträge gehen aber direkt auf das Thema des Buches ein und sind zudem wohltuend unaufgeregt und sachlich. Sie widmen sich Autorinnen und Autoren, die in der deutschsprachigen Lateinamerikanistik in der Tat wenig Beachtung gefunden haben, zum Teil trotz (oder wegen?) ihres Publikumserfolges (z.B. Angeles Mastretta und Laura Esquivel).

 

Peter Betting behandelt mit José Agustín eine paradigmatische Figur der Rock- und Gegenkultur der 60er bis 70er Jahre und hinterfragt mit Recht den mißverständlichen Begriff „la onda“, unter den Agustín eingeordnet wurde. In einem kurzen Beitrag zur Theorie der Dokumentarliteratur liefert S. Thies eine kluge Kritik der Schreibstrategien und der Sakralisierung des Zeugenberichts im Testimonio. Vor diesem Hintergrund interpretieren Thies und Gesa Wilmanns Knop das Werk von Elena Poniatowska vor allem unter dem Aspekt der Fiktionalisierung des Dokumentarischen.

 

Weitere Beiträge von Thies und Víctor Grovas behandeln die Thematik staatlicher Willkür in der Prosa von Elena Garro, Vicente Leñero, José Revueltas, René Avilés Fabila, José Agustín und Jorge Ibargüengoitia sowie das mexikanische Theater nach 1968. Beide beschränken sich zu sehr auf vordergründig sozialpolitische Gesichtspunkte, ästhetische Aspekte sowie die Komplexität des mexikanischen Korporativismus kommen dabei zu kurz.

 

In Thies’ Analyse der Barrio-Literatur, die er vom Großstadtroman der klassischen Moderne abgrenzt, finden sich interessante Analysen zu Romanen von Armando Ramírez, Guillermo Samperio, José E. Pacheco, Luis Zapata und José Agustín. Fraglich erscheint mir nur, ob die Erzählungen von Samperio in die Kategorie Barrio-Literatur fallen, da sie zwar wie diese eine eng begrenzte Sicht auf die unmittelbare Umgebung der Figuren repräsentieren, der allerdings das Lokalkolorit der Stadtteil-Literatur fehlt.

 

Susanne Lieber und Michaela Peters schließlich untersuchen Laura Esquivels Como agua para chocolate bzw. Romane von Rosario Castellanos, Elena Garro, Silvia Molina, Angeles Mastretta und Carmen Boullosa. Im Mittelpunkt stehen dabei das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatem, von offizieller Geschichte und unterdrückter Geschichte der Frauen, von den Beziehungen zwischen den Geschlechtern (im Sinne der Gender Studies) und das Aufbegehren gegen patriarchale Strukturen, wie sie sich in der neueren Frauenliteratur darstellen. Gerade diese Beiträge öffnen den Band zeitlich in Richtung auf die unmittelbare Gegenwart und erschließen neue Perspektiven für die Interpretation mexikanischer Literatur.

 

Insgesamt ein spannendes Buch, das einen Teil zeitgenössischer mexikanischer Literatur jenseits der immer wieder zitierten und analysierten Autoren Rulfo, Fuentes und Paz beleuchtet. Streifzüge eben, die Streiflichter werfen, ohne die Vielfalt mexikanischer Gegenwartsliteratur aus dem Schattendasein befreien zu können, in das sie durch die hiesige Konzentration auf den „Boom“ gestellt wurde.

 

Arbeitskreis Mexiko-Studien, Münster (Hg.): Streifzüge durch die mexikanische Gegenwartsliteratur. Berlin, edition tranvía, Verlag Walter Frey, 1998. 177 Seiten. 32,00 DM.