Mit Tango und Asado ins 21. Jahrhundert

Das Wachstumspotential Argentiniens

von Federico Foders

Argentiniens Wachstumsmotor brummt. Die Stagnation der vergangenen Dekaden und der schmerzhafte Einkommensrückgang der 80er Jahre scheinen überwunden zu sein. Es wird wieder investiert. Viele Argentinier legen ihr Geld heute im eigenen Land an; die Kapitalflucht wurde gestoppt. Ausländische Investoren sind nicht nur wieder da. Sie verzichten auch auf überzogene Risikoprämien. Ihr Vertrauensvorschuß nach der Politikwende hat sich gelohnt; sie setzten jetzt auf die Stabilität der argentinischen Wirtschaft. Was ist passiert? Aus welchem Stoff ist das argentinische Wirtschaftswunder? Es ist - der deutschen Nachkriegsentwicklung nicht unähnlich - das Ergebnis einschneidender und überaus mutiger wirtschaftspolitischer Reformen. Nach einem fast fünfzig Jahre währenden makroökonomischen Irrweg präsentiert sich das moderne Argentinien 1998 als ein Land ohne Inflation, mit einem weitgehend konsolidierten Staatshaushalt, weniger Protektion, deregulierten Märkten und einem erheblich verringerten Einfluß des Staates auf die Wirtschaft.

 

Die Wiederbelebung und Öffnung der argentinischen Wirtschaft trifft auf grundlegende Veränderungen der Weltwirtschaft: Mehrere Welthandelsrunden (GATT/WTO) haben ebenso wie der technische Fortschritt, dem niedrigere Transport- und Kommunikationskosten zu verdanken sind, den internationalen Güteraustausch wesentlich erleichtert. Kapital und Technologie sind weltweit mobil geworden; die Direktinvestitionen nehmen weltweit schneller zu als der Welthandel. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion hat die Weltwirtschaft neue Märkte hinzugewonnen; die Grundidee der marktwirtschaftlichen Ordnung ist weltweit gestärkt worden. Im Zuge der Globalisierung werden wettbewerbsfähige Standorte schnell zu wichtigen Teilen von weltumspannenden Produktions- und Dienstleistungsnetzwerken. Die Zeichen der Zeit sind in Argentinien offenbar erkannt worden, und der Einsicht sind Taten gefolgt. Man hat sich der Notwendigkeit nicht verschlossen, Reformen auch dann konsequent durchzuführen, wenn sie unpopulär sind, wozu viel Mut gehört. Auf dem Weg zu einer Integration in die Weltwirtschaft hat man sich am Aufbau einer regionalen Integrationszone - dem MERCOSUR - beteiligt; sie soll als Trainingsfeld dienen, um das Oberziel - die Integration in die Weltwirtschaft - zu erreichen. Auch historisch begründete Rivalitäten, etwa mit Brasilien oder Chile, mußten über Bord geworfen werden, um das Wagnis einer neuen ‘inserción internacional’ eingehen zu können.

 

Wird der Aufschwung von Dauer sein? Die wirtschaftliche Dynamik Argentiniens ist zwar noch sehr jung, aber robust. Dem Land war seit Anfang der 90er Jahre keine Schönwetterlage beschieden: Es hat mit mehreren, nicht unerheblichen Schocks zu kämpfen gehabt. So kam es anläßlich der mexikanischen Zahlungsbilanzkrise vom Dezember 1994 im Jahr 1995 zu einem überraschenden Kapitalabfluß und - bedingt durch die monetäre Disziplin im Rahmen des im April 1991 eingeführten Währungsrats - zu ersten rezessiven Erscheinungen. Infolge der Asienkrise 1997/98 und der Schwäche Rußlands werden für 1998 weitere Wachstumseinbußen prognostiziert. Zwar hat Argentinien während der Krisen als Bestimmungsland für Portfolioinvestitionen vorübergehend an Attraktivität verloren. Doch haben Regierung und Zentralbank die Finanzmärkte davon überzeugen können, daß sie den festen Wechselkurs nicht so schnell aufgeben werden. Mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds ist es gelungen, wiederholte spekulative Attacken auf die heimische Währung abzuwehren. Wenngleich dadurch die Probleme des argentinischen Bankensystems offengelegt wurden, sind nennenswerte Abschläge vom langfristigen Wachstumstrend aus diesen Gründen unwahrscheinlich. Die Chancen Argentiniens dürften sich im Zuge der Asienkrise und der anhaltenden Wachstumsschwäche und politischen Instabilität Osteuropas in Zukunft eher weiter verbessern.

 

Chancengleichheit in der Bildung

 

Um Wirtschaftswachstum in nachhaltiges Wachstum zu verwandeln, sind günstige binnenwirtschaftliche Voraussetzungen unerläßlich, insbesondere hohe Investitionen in Sach- und Humankapital. Mit Hilfe von Sachkapital können die vorhandene Infrastruktur modernisiert und der Bestand an Maschinen und Anlagen an den heutigen Stand der Technik angepaßt werden. Auch dort, wo, wie in den bisher vernachlässigten Gebieten im Norden und Süden des Landes, die regionalen Disparitäten am schärfsten hervortreten, sollte eine moderne Infrastruktur entstehen. Da Sachkapitalinvestitionen gleichzeitig neue Technologien verkörpern, spielen sie eine zentrale Rolle bei der Übertragung von Wissen aus dem Ausland und der Diffusion des Wissens im Inland. Die lokale Absorption neuer Technologien setzt jedoch erhebliche Bildungsinvestitionen voraus. Beide Bereiche der Bildung, die allgemeine Schulbildung und die berufliche Ausbildung, müssen in Argentinien ausgebaut und qualitativ auf internationale Standards ausgerichtet werden. Das überkommene Mischsystem mit einem Nebeneinander von staatlichen und privaten Schulen des Primar- und Sekundarschulbereichs hat sich bewährt; es muß nunmehr an die Bevölkerungsentwicklung in den einzelnen Regionen des Landes angepaßt werden. Die Politik sollte Instrumente entwickeln, um den Zugang von Kindern einkommensschwacher Eltern zu den privaten Schulen, die Schulgeld verlangen, zu gewährleisten. Chancengleichheit in der allgemeinen Bildung könnte zum Beispiel mit Hilfe von Gutscheinen und/oder eines BAFöG-ähnlichen Systems hergestellt werden. Von großer Bedeutung ist der Aufbau der beruflichen Bildung, wobei das deutsche Modell der beruflichen Erstausbildung (Lehre) als Beispiel dienen könnte.

 

Eine volkswirtschaftlich sinnvolle Nutzung der Humanressourcen setzt nicht nur ausreichende Bildungsinvestitionen, sondern auch gut funktionierende Arbeitsmärkte voraus. Obwohl erste institutionelle Arbeitsmarktreformen, wie ein Sonderregime für kleine Unternehmen (PYMES), neue Regelungen bei Arbeitsunfällen und flexible Öffnungszeiten für den Einzelhandel, nicht übersehen werden können, stehen auf diesem Gebiet die entscheidenden Liberalisierungen noch aus. Das geltende Arbeitsrecht steht einer Flexibilisierung der Arbeitsplatzgestaltung innerhalb der Unternehmen, vor allem der Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen entgegen. Teilzeitarbeit ist in Argentinien teurer als in anderen Ländern, weil sich die Lohnzusatzkosten (Sozialversicherungsabgaben) für Teilzeitarbeitsplätze stets nach den Sätzen richten, die für Vollzeitarbeitsplätze gelten. Hier wäre eine Kürzung angezeigt. Weiterhin müssen sich Unternehmen bei betrieblich veranlaßten Kündigungen auf relativ hohe Abfindungszahlungen einlassen, eine Regelung, die die Wirkung eines übermäßigen Kündigungsschutzes hat:

 

Neueinstellungen unterbleiben. Tarifverträge werden in Argentinien von den Sozialpartnern zentral ausgehandelt, was dazu führt, daß die Höhe und Entwicklung der Nominallöhne weitgehend von der Auftragslage in den wenigen Großunternehmen des Landes abhängig sind; die Kostenstruktur des Mittelstandes bleibt unberücksichtigt. Zudem werden die in Argentinien zum Teil erheblichen regionalen Unterschiede in der Produktivität der Arbeit völlig vernachlässigt. Landesteile mit einer verhältnismäßig niedrigen Arbeitsproduktivität werden dabei bestraft: Ohne regionale Lohndifferenzierung gibt es für eine Ansiedlung von Unternehmen in den strukturschwachen Gebieten keinen Anreiz. Unternehmen lassen sich unter diesen Umständen bevorzugt in den urbanen Zentren (z.B. Buenos Aires, Santa Fé oder Córdoba) nieder. Immer mehr Menschen wandern in die Großstädte, wo sich die Arbeitslosigkeit - und damit auch die Armut - konzentriert. So gesehen ist es nicht überraschend, daß die Arbeitslosenquote im Mai 1997 auf gesamtwirtschaftlicher Ebene 16,1 Prozent betrug, während sie im Hauptstadtgebiet (Gran Buenos Aires) bei 17 Prozent und in den übrigen Landesteilen bei durchschnittlich 14,9 Prozent lag.

 

Die Globalisierung stellt hohe Anforderungen an die Arbeitsmarktpolitik Argentiniens. Das Land hat grundsätzlich die Wahl zwischen dem kontinentaleuropäischen Modell zentral ausgehandelter Flächentarifverträge (Deutschland, Frankreich) und dem amerikanischen Modell dezentral ausgehandelter Löhne auf der Ebene einzelner Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen, das auch in Großbritannien zunehmend Akzeptanz gefunden hat. Die Vorteile eines dezentralen Systems liegen auf der Hand: Es ermöglicht Lohnabschlüsse, die die Geschäftslage und -aussichten einzelner Unternehmen berücksichtigen und darüber hinaus eine Differenzierung der Löhne nach regionalen und qualifikatorischen Gesichtspunkten vorsehen. Bleibt es in Argentinien beim bisherigen System zentraler Lohnbestimmung, muß - ähnlich wie in Deutschland und Frankreich - mit einem Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit gerechnet werden. Weil es in Argentinien ein allenfalls rudimentäres soziales Netz gibt, schlägt sich das Modell zentraler Lohnbestimmung dort außerdem in einer expandierenden Schattenwirtschaft (economía no registrada) nieder, mit der Folge, daß die Staatseinnahmen sinken und das Haushaltsdefizit ansteigt. Argentinien sollte deshalb auf eine wachstumshemmende Arbeitsmarktpolitik mit landesweiten Flächentarifverträgen verzichten; die Arbeitsmärkte sollten so flexibel als möglich gestaltet werden. Liberale Arbeitsmärkte haben in Argentinien eine lange Tradition, die während der Zeit der Importsubstitution unterbrochen worden ist. So wird dem Vater der argentinischen Verfassung von 1853, Juan Bautista Alberdi, der Satz zugeschrieben: „Organizar el trabajo no es más que organizar la libertad“. Demnach hat eine vernünftige Arbeitsmarktpolitik den - höheren - Sinn, die Freiheit des Einzelnen zu erhalten. Folgte man dem Rat Alberdis, der jetzt aktueller denn je zu sein scheint, hätte Argentinien gute Voraussetzungen, um sich im internationalen Standortwettbewerb zu behaupten und das 21. Jahrhundert als einer der Pumas Lateinamerikas zu beginnen: Die Befindlichkeiten eines ‘Cambalache’ („La vida fue y será una porquería, yo lo sé, en el 510 y en el 2000 también“) sind endgültig vorüber!